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Literatur der Nachbarn

Eine Geschichte der polnischen Literatur im 20. Jahrhundert schreibt die Literaturwissenschaftlerin Marta Kijowska in ihrem Buch "Polen, das heißt nirgendwo". Sie stellt über 40 polnische Schriftsteller vor und folgt dabei einerseits der Chronologie historischer und literarischer Ereignisse. Zum anderen fächert die Autorin ihre Literaturlandschaft regional auf.

Von Martin Sander | 25.10.2007
    Wohl keine andere europäische Literatur des 20. Jahrhunderts kreist so eng um die Probleme der eigenen Nation wie die polnische. Man nehme etwa den 13. Dezember 1981. An diesem Tag verhängte General Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht und verbannte die Solidarnosc-Opposition in den Untergrund. Polens Schriftsteller, in ihrer überwältigenden Mehrheit Gegner des kommunistischen Regimes, das sie als die Verkörperung sowjetischer Fremdherrschaft ansahen, fühlten sich durch Jaruzelski in ihren Hoffnungen getrogen. Sie reagierten teils zornig, teils deprimiert.

    Wiktor Woroszylski, in den fünfziger Jahren ein gläubiger Stalinist, später reuevoller Dissident und Galionsfigur der intellektuellen Opposition zu Solidarnosc-Zeiten, dichtete aus Anlass des Kriegsrechts:

    Ich reg mich nicht auf
    Ich nehm das
    gelassen ja heiter hin
    Nur mein Schlaf
    würgt mich an der Gurgel im Zorn
    presst an das Brett der Nacht
    Nur der keuchende
    Blutdruck
    wälzt seinen Felsen zum Gipfel


    Neben Woroszylski sind es noch über 40 polnische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, welche die Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Marta Kijowska in ihrem neuesten Buch vorstellt. "Polen, das heißt nirgendwo", lautet der Titel des im C. H. Beck Verlag erschienenen Bandes. Die Autorin spielt mit diesem Titel auf die häufige Fremdherrschaft über ein Land an, das mehrfach gänzlich von der Landkarte verschwand. Die Reihe ihrer Protagonisten reicht von Stanislaw Wyspianski, dem Maler, Dichter und Wegbereiter der literarischen Moderne in Krakau, über Bruno Schulz, den polnisch-jüdischen Avantgardisten der Zwischenkriegszeit aus dem ostgalizischen Drohobytsch, bis zu Czeslaw Milosz, der auch in dieser Literaturgeschichte alles dominiert. Milosz, Nobelpreisträger von 1980, war es schließlich, der seit den dreißiger Jahren jeder Epoche der polnischen Literatur seinen Stempel aufdrückte. 1911 im litauischen Grenzland geboren, debütierte er als gesellschaftskritischer Lyriker in Studentenkreisen der Universität Wilna. Während der deutschen Okkupation wirkte er als Autor im Warschauer Untergrund. 1945 ließ er sich von den Kommunisten für den diplomatischen Dienst gewinnen, kehrte der polnischen Volksrepublik aber bereits Anfang der fünfziger Jahre den Rücken. Nach vier Jahrzehnten des Exils kam Milosz ins freie Polen zurück und starb vor wenigen Jahren in Krakau. In dem Gedicht "Waschtag" zieht er Bilanz:

    Es gab wohl keine Obsession und
    Keine törichte Idee meiner Zeit,
    in die ich mich nicht
    halsüberkopf gestürzt hätte.
    Man sollte mich in die Wanne setzen
    Und mich so lange bürsten
    Bis der ganze Schmutz
    von mir abgewaschen ist.
    Und doch, gerade durch diesen Schmutz,
    konnte ich ein Dichter des 20. Jahrhunderts sein.


    Vorgestellt werden in "Polen, das heißt nirgendwo" nicht nur die überragenden Gestalten des Jahrhunderts. Platz finden bei Marta Kijowska auch die jüngeren und die ganz jungen Stars des Nachwendeliteraturbetriebs, deren Werk sich von den Themen Nation und Geschichte mehr und mehr entfernt und stattdessen den zeitgenössischen Alltag einfängt - zum Beispiel der in Deutschland bereits überaus bekannte Erzähler Andrzej Stasiuk oder die erst 1983 geborene und durch ihren Romanbestseller "Schneeweiß und Russenrot" bereits international bekannte Dorota Maslowska.

    Marta Kijowska folgt in ihrer Literaturgeschichte einem zweifachen Gestaltungsprinzip. Zum einen geht es um die große Chronologie der historischen und literarischen Ereignisse von der Aufbruchstimmung im späten 19. Jahrhundert bis zur Krise und Neuordnung des Literaturbetriebs nach 1989. Zum anderen fächert die Autorin ihre Literaturlandschaft regional auf: Krakau, Wilna, Warschau und das für Polen als Exil so bedeutende Paris, all diese Orte bekommen ihre Kontur als Mittelpunkte von Künstlergruppen. Dabei ist sich Marta Kijowska der besonderen Schwierigkeit bewusst, beim deutschen Publikum Interesse für die polnische Literatur und ihre besonderen, oft genug politischen Verstrickungen zu wecken.

    " Auch wenn die neuere polnische Literatur zugänglicher erscheint, weil ihre heutigen Stars sich öfter allgemein aktuellen Themen zuwenden, hat ihr alter Ruf nicht über Nacht an Gültigkeit verloren. Teilweise stimmt es immer noch, dass ihr Themenkreis und Symbolgehalt, ihre Vorliebe für verschlüsselte Wortspiele und enigmatische Anspielungen sie eher zu einem elitären Vergnügen machen. "

    Marta Kijowska, 1955 in Krakau geboren und seit 1979 vorwiegend in München lebend , versteht es, ihr tiefgründiges Wissen im lockeren Plauderton darzubieten. So ist dieses Buch auch als Einführung in die komplexen Zusammenhänge von literarischem Leben und Politik in unserem Nachbarland für den interessierten Leser bestens geeignet.


    Marta Kijowska: Polen, das heißt nirgendwo. Ein Streifzug durch Polens literarische Landschaft, C.H. Beck Verlag