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Literatur
Die neue Lust an Religion

In der Gegenwartsliteratur sind religiöse Motive zu finden, mal offen, mal versteckt. Das macht Belletristik für Theologen interessant. Aber wie können sie sich annähern, ohne sich zu nahe zu treten? Bei einer Poetik-Dozentur in Wien machen Theologen und Schriftsteller Schritte aufeinander zu. Was sie verbindet? Das Staunen, sagt einer der Dichter.

Von Henning Klingen | 10.05.2017
    Die deutsche Schrifstellerin Felicitas Hoppe, aufgenommen am Freitag (16.03.2012) auf der Leipziger Buchmesse.
    Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe - auch ihr Werk ist durchdrungen von religiösen Motiven (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    "In mir wohnt so etwas wie das naive Kind - und das ist die andere Seite meiner Wesenheit, wenn man so will - und die kommt hauptsächlich nachts zum Vorschein. Da lese ich nicht wie ein halber Gschaftelhuber und Philologe in der Bibel, sondern da denke ich an meine Sünden, was ich mir wieder für einen Murks geleistet habe über die letzten Tage hin."
    Dieses "naive Kind" ist die Schriftstellerin und Georg-Büchner-Preis-Trägerin Sibylle Lewitscharoff. Die 1954 in Stuttgart geborene Autorin ist Christin – evangelische Christin. Daraus macht sie keinen Hehl. Weder persönlich noch in ihrer Literatur.
    Sibylle Lewitscharoff: "Kindlich, infantil, naiv"
    "Und wie ein zaghaftes Kind versuche ich irgendwie eine hoffnungserfüllte Fürsprache von oben zu gewinnen. Und es gelingt meistens nicht, aber ich versuche es. Das ist kindlich, das ist infantil, das ist naiv."
    Ob in ihrem fulminanten Roman "Blumenberg" oder in ihrem aktuellen Buch "Das Pfingstwunder": Stets sind es phantastische Wendungen und Ausbrüche aus dem vermeintlich stahlharten Gehäuse der Wirklichkeit, die in ihren Büchern für Irritation und Faszination sorgen. Erzeugt wird diese Irritation nicht selten durch die Aufnahme dezidiert religiöser Motive, sagt Lewitscharoff.
    "Nicht umsonst liebe ich Autoren wie Blumenberg, der ja auch etwas davon wissen musste als Philosoph, der das Theologische nie ganz verleugnet hat; aber hauptsächlich liebe ich Schriftsteller wie Samuel Beckett und Franz Kafka.Das sind eigentlich meine Hausheiligen in der Literatur, weil sie sich stark auf biblische Texte bezogen. Kafka völlig anderes als Beckett, aber das Hintergrundleuchten bei beiden großen Literaten ist das Religiöse."
    Hintergrundleuchten
    Ein Hintergrundleuchten, das von vielen zeitgenössischen Autorinnen und Autoren nicht mehr erkannt wird. Weil ihnen das Wissen um die Bibel fehlt, oder die persönliche religiöse Sozialisierung – oder beides.
    Sibylle Lewitscharoff
    Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff (dpa / Uwe Zucchi)
    Ganz so, wie es Gottlieb Elsheimer ergeht – Protagonist in Lewitscharoffs Roman "Das Pfingstwunder". Ein Professor und Dante-Experte. Lewitscharoff führt ihn ein als einen durch und durch säkularen Zeitgenossen – ohne Sensorium für irgendein kafkaeskes religiöses Hintergrundleuchten:
    "Nein. In meinen Kindertagen ja, seither nein. Dieses Nein will betont sein, denn es bedeutet etwas, es bedeutet sogar viel. In meinen Kindertagen war ich fromm, faltete die Händchen beim Zubettgehen, wie meine Mutter es von mir wollte, und hängte die Kleider ordentlich über die Stuhllehne, weil Jesus nachts kam und schaute, ob alles in schöner Ordnung am rechten Platz lag. Dann, in der Pubertät, setzte der große Kritikschub ein, und mit der Frömmigkeit war’s mit einem Mal vorbei."

    Aus: "Das Pfingstwunder" von Sibylle Lewitscharoff
    Religiöser Super-Gau
    In ihrem Roman "Das Pfingstwunder" lässt Lewitscharoff ihren nicht mehr frommen Protagonisten Gottlieb Elsheimer den religiösen Super-Gau erleben: ein Wunder. Bei einem Dante-Kongress beobachtet ihr knochentrockener Gelehrter, wie die Vorträge der Referenten in einen geradezu orgiastischen Rausch übergehen. Die Fenster werden geöffnet, und die Teilnehmer entschweben in den Himmel.
    Gnade statt Sozial-Rhetorik
    Jan Heiner Tück, Professor für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, hat sich ausgiebig mit dem Werk Lewitscharoffs befasst. Er hat die Wiener Poetik-Dozentur "Religion und Literatur" ins Leben gerufen. Lewitscharoff war die Eröffnungsreferentin. Jan Heiner Tück:
    "Also Sibylle Lewitscharoff neigt natürlich recht deutlich dazu, der Theologie vorzuhalten, wo Defizite sind; also vor allem auch im Blick auf die öffentliche Präsenz der Kirchen klagt sie immer wieder ein, dass die großen Themen Sünde, Gnade doch viel stärker thematisiert werden sollten, statt in Sozialrhetorik auszuweichen. Und mit ihrem letzten Roman über Dante ist sie natürlich die großen eschatologischen Themen durchgegangen: Was heißt Hölle? Wie kann man diesen Topos unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts aufnehmen? Und sie hat ja am Ende das versucht, was vielleicht für einen Literaturschaffenden am schwersten ist, nämlich Himmel literarisch zu gestalten; also das Positive zum Ausdruck zu bringen. Und das gehört sicherlich zu den sprachmächtigsten Passagen in ihrem Werk: diese Abschlusspassage aus dem Roman 'Pfingstwunder'."
    "Es war ungeheuerlich. Einer nach dem anderen kletterten sie auf die Fensterbretter. Eleni hatte erst Angst, sie hielt ihre steife schwarze Tasche umklammert, ich dachte, die traut sich nie und nimmer, aber dann flog sie ganz frei, gar nicht mal schlecht. Byung-Chul Hee machte noch ein paar Atemübungen vorher, die Asiaten gehen ja alles mit entsprechender Vorbereitung an, aber dann flog er wie ’ne Eins, sehr elegant. Und Schestow erst! Für den war das alles ganz selbstverständlich. Stellte sich aufs Fensterbrett, deklamierte noch ein bisschen, dass es weithin schallte. Ich sehe noch, wie sich seine Brust hob und senkte, hob und senkte – und weg war er, als wär’s ein Kinderspiel, einfach so davonzufliegen. Wirsing tat sich zwar schwer damit, hochzukommen, aber Giuseppe half ihm, und dann, auch bei ihm – ab ging die Post! Natürlich können Menschen ohne technische Hilfsmittel nicht fliegen. Ein Grundsatz der Physik. Anziehungskraft der Erde. Körper fallen. Sie steigen nicht von allein. Von einem leichten Federchen mal abgesehen. Das dachte ich auch. Ich denke es sogar jetzt wieder. Aber ich schwöre bei allem, was mir teuer ist: sie sind geflogen! Stracks nach oben, immer stracks nach oben. Niemand ist runtergefallen. Keiner von den oft so selbstverliebten Professoren."

    Aus: "Das Pfingstwunder"
    Ein Sehnsuchts-Akt? Ein Griff nach dem göttlichen Saumzipfel? Nein. Lewitscharoff ist und bleibt Autorin ganz im Hier und Jetzt:
    "Mir wäre es nicht möglich, eine Literatur zu schreiben, die dem Gotteslob vollkommen anhängt; das geht nicht. Die Moderne hagelt mir da dazwischen, und davon kann ich auch gar nicht weg. Das heißt, ich muss es nicht komplett ironisieren, aber letztlich habe ich zu einer Figur gegriffen, die keine religiöse Substanz mehr besitzt. Das fand ich viel interessanter; ich selber glaube an solch ein Wunder nicht im Übrigen. Das ist mir nicht vergönnt, und ich will es auch nicht."
    "Weg von den schrecklichen Egoismen"
    Was jedoch will sie? Ist das Spiel mit religiösen Motiven am Ende bloße Provokation? Bloße Lust am Sprachspiel, am Ornamentalen? Nein. Es ist der Versuch, dem Leser eine dunkle Ahnung davon zu vermitteln, dass "Realität" ein sehr vages Konstrukt ist; dass alles auch ganz anders sein könnte. Und dass man Abstand gewinnt von einem überbordenden Egozentrismus.
    "Literaturprägende Kraft der Bibel"
    Reiz und Reichtum religiöser Motive spiegeln sich in der zeitgenössischen Literatur wider, sagt Jan-Heiner Tück. Zahlreiche Autoren eignen sich religiöse Stoffe an und verarbeiten sie literarisch – sei es aufgrund ihrer persönlichen Biografie, sei es aufgrund ihrer Faszination für religiöse Bilderwelten.
    Jan-Heiner Tück ist römisch-katholischer Theologe und Hochschullehrer. An der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien hat er eine neue „Poetikdozentur“ begründet.
    Jan-Heiner Tück ist römisch-katholischer Theologe und Hochschullehrer. An der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien hat er eine neue „Poetikdozentur“ begründet. (F. Schallhart)
    Tück: "In der Bibel werden natürlich die großen Fragen des Menschseins thematisiert: Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Was hat es mit dem dunklen Rätsel des Leidens auf sich? Und auch Schriftsteller wie Bert Brecht haben täglich die Bibel gelesen, um eine Sprachschulung zu durchlaufen anhand der Lutherübersetzung. Das hat einfach auch literaturprägende Kraft entwickelt."
    Felicitas Hoppe: Katholizismus als "Motivbatterie"
    Literaturprägend wirkt die Bibel auch bei Felicitas Hoppe. Die 1960 im niedersächsischen Hameln geborene Schriftstellerin – ebenfalls Büchner-Preis-Trägerin – wurde unter anderem mit Romanen wie "Pigafetta", "Johanna" und ihrem 2012 erschienen Werk "Hoppe" bekannt.
    Und sie scheut sich nicht, Biografie und Werk in ein direktes Verhältnis zueinander zu setzen. Katholische Sozialisation? Ja – und das ist auch gut so, sagt Hoppe selbstbewusst.
    "An diesen Prägungen kann man nicht vorbei: also aufgewachsen in der katholischen Diaspora Niedersachsens, was ich bis heute als Vorteil betrachte, weil das sozusagen keine katholisch überformatierte Gegend war. Da war Katholisch-Sein eher was Besonderes, eher die Ausnahme. Also man war vom Katholischen nicht erdrückt, sondern man war eigentlich eher geadelt dadurch. Aber fünf Kinder, ich das dritte, die Eltern praktizierende Katholiken, aus Schlesien geflohen, und das heißt natürlich, dass in der Praxis in Schrift und Wort und Bild die Bibel, der Gottesdienst, die Messe, die Lieder - das alles unglaublich präsent war. Und ich glaube, es kann gar nicht anders sein, als dass eine solche Fülle von Anregungen und Motiven im Guten wie auch im Dunkelgrundierten natürlich dann in ein Werk eingeht."
    Jan-Heiner Tück:
    "Also bei Felicitas Hoppe ist interessant, dass sie diese gebrochenen Suchbewegungen, die auch durch die 68er-Generation ventiliert worden sind, hinter sich lässt und eher versucht, positiv religiöse Spuren in ihren Werken auszulegen. Mir selbst schien es so, dass die Grundhaltung bei Hoppe einen religiösen Charakter hat."
    "Meine erste Beichte legte ich im Alter von fünf Jahren ab, kurz bevor ich zur ersten heiligen Kommunion ging. Damals erschien mir die Möglichkeit einer persönlichen Beichte geheimnis- und verheißungsvoll, der Beichtstuhl als ein Ort, an dem alles gesagt und nicht verraten werden durfte, das aufgespannte Ohr Gottes, dem ich straffrei alles anvertrauen durfte, was ich mir ausgedacht hatte. Ich sage ‚ausgedacht‘, weil, was ich dem unbekannten Ohr hinter dem Beichtgitter zu sagen hatte, tatsächlich nichts anderes als ‚ausgedacht‘ war, eine Mischung aus vagem Schuldbekenntnis und Erfindung, der ich als Kind nicht gewachsen war. In Wirklichkeit aber war ich ihr vermutlich nur als Kind gewachsen und später nie wieder, denn jenseits aller Zweifel an der Institution, jenseits des Zwanges und meiner Angst lehrte die erste Beichte mich allem voran die Schönheit der Diskretion und den Glauben an die unendlichen Möglichkeiten der Fiktion einerseits und die mögliche Absolution davon andererseits, von der ich schon damals ahnte, dass sie in der öffentlichen Welt niemals zu haben sein würde. Ob Gott gnädig ist, sei dahingestellt, dass aber die Welt keine Gnade kennt, ist hinlänglich bekannt. Niemals wieder hat man mich dermaßen beim Wort genommen wie in den Beichtstühlen meiner Kindheit, was vermutlich schlicht und einfach der Tatsache geschuldet war, dass der so gut wie unsichtbare Geistliche, der weder auf Befragung noch Tadel aus war, auf Grund seines Amtes jenseits jeder Idee eines Verwertungszusammenhanges keine andere (und keine geringere) Aufgabe hatte, als mir alle erfundenen und nicht erfundenen Sünden gleichermaßen zu vergeben und danach die Geschichte, die er vermutlich schon unzählige Male gehört hatte, sofort wieder zu vergessen."

    Aus: "Beichtkinder" von Felicitas Hoppe
    Dieses persönliche Zeugnis ihrer katholischen Prägung ist in Felicitas Hoppes Text "Beichtkinder" zu finden. Tatsächlich habe sie den Katholizismus nie als bedrohlich empfunden. Pubertäres Aufbegehren, ja, das gab es natürlich. Auch das Hadern mit Gott angesichts der Frage nach dem Leiden. Aber existenziell infrage gestellt habe dies alles ihren Glauben nicht, so Hoppe. Daher habe sie auch kein Problem damit, offen zu erklären, warum sie weiterhin Mitglied der Kirche ist – und wie seltsam ihr im Gegenteil der Gedanke vorkommt, aus der Kirche auszutreten:
    "Ich bin nicht jemand, der aus intellektuellen Gründen oder aus quasi gedanklichen Konstrukten heraus aus einer Institution austritt - das erscheint mir unorganisch. Ich bleibe in dieser Kirche drinnen; ich kann nur aus etwas austreten, von etwas zurückweichen aus einer richtigen Not."
    Sehnsucht nach existenziellem Erzählen
    Der Katholizismus – das ist für Hoppe heute vor allem eines: eine "Motivbatterie", aus der sie schöpfen kann, wann immer sie Erlebtes zu Papier bringen möchte. Ob bei einer Schiffsreise auf einem Containerschiff oder bei einer Fahrt quer durch die USA: stets drängen sich auch biblische Bilder und Geschichten in den Vordergrund. Nicht aus einer Kindheits-Nostalgie heraus, sondern als Ausdruck einer Sehnsucht nach existenziellem Erzählen:
    "Also erstmal, glaube ich, gibt es eine Art innere Motiv-Batterie, die wird in der Kindheit gefüllt und die wird dann im Verlauf mit weiterer Lektüre gefüllt und füllt sich hoffentlich dann immer mehr; und dann setzt man sich hin und schreibt - und dann plötzlich wird diese Batterie aktiviert: Man erzählt dann vielleicht etwas, was in der Jetztzeit spielt, wie eine Schiffsreise auf einem Containerschiff und Zack, hat man plötzlich die Arche Noah im Text. Das heißt, der alte Schatz dockt sozusagen an das an, was jetzt gegenwärtig zu erzählen ist."
    "Andock-Manöver"
    Doch geschieht dieses "Andock-Manöver" nicht nur im wortwörtlichen Zitat biblischer Geschichten. Nein, es geht der Schriftstellerin stets darum, sich dem Wesen, dem Kern des "Geschauten", wie sie sagt, anzunähern. Existenziell halt:
    "Wir neigen ja dazu zu glauben, Jesus hat dies und das getan, ein zweiter hat's gesehen und ein dritter hat's dann manipulativ so notiert, dass Jesus als Wundertäter da steht. Das heißt, wir hätten eine geschaute Wahrheit und eine erzählte Wahrheit. Das hat mit Fiktion nichts zu tun: Fiktion, etwas zu erfinden, bedeutet nicht, täuschen zu wollen; sondern etwas erfinden heißt, das Geschaute mit eigenen Mitteln auf neue Weise sichtbar zu machen. Das ist Literatur – und das tun die Evangelisten natürlich auch."
    Christian Lehnert: "Ich bin erst allmählich rein gewachsen."
    "Ich bin ja in der DDR groß geworden, völlig irreligiös eigentlich; ich hab in meiner Kindheit vielleicht zwei bis drei Mal zu Weihnachten eine Kirche betreten, aber das ging mich nichts weiter an."
    Völlig a-religiös ist Christian Lehnert heute nicht mehr. Im Gegenteil. Der 1969 in Dresden geborene Autor, bekannt vor allem als Lyriker, hat eine biografische Kehrtwende vollzogen. Anders als Lewitscharoff und Hoppe hat er das Religiöse nicht mit der Muttermilch aufgesogen, sondern es sich bewusst erarbeitet. Dass er in der sozialistischen, betont a-religiösen DDR aufgewachsen ist, förderte sein religiöses Erwachen:
    "Mit 13, 14, in der Zeit wo man intellektuell erwacht, habe ich viel angefangen zu gelesen und bin dann meine Gedankenwege jenseits von ideologischen Mustern entwickelt und gegangen. Und dabei war einfach die Kirche die wichtigste Öffentlichkeitsform, die nicht staatlich kontrolliert war. Es war ein Raum, wo man sprechen konnte, wo man Leute traf, die interessant waren, mit denen man diskutieren konnte - und so bin ich erst ganz allmählich rein gewachsen."
    Der Lyriker und Pfarrer Christian Lehnert.
    Der Lyriker und Pfarrer Christian Lehnert. (dpa / picture alliance / Lukas Schulze)
    Hineingewachsen ist Lehnert nicht nur in die evangelische Kirche – auch umgekehrt ist die Religion, ist die Gottesfrage in sein literarisches Werk hineingewachsen, sagt Jan-Heiner Tück, der Wiener Dogmatik-Professor und Experte für das Spannungsfeld von Religion und Literatur:
    "Also bei Christian Lehnert ist interessant die Suchbewegung auf den Gott zu, der sich entzieht. Die Lyrik Lehnerts hat eine Drift zur negativen Theologie, wobei er das noch einmal durchkreuzt und bricht dadurch, dadurch dass er fast dialektisch sagt: im Entzug Gottes zeigt sich seine verborgene Präsenz."
    "Du, wie Laub, das dunkler steht, wie Lorbeer,
    wie Stamm und Brand und Asche,
    wonach die Vögel haschen,
    wie langes Ruhen. Wer
    kann dich erinnern, wer vergessen?
    Du zu sagen, ist es nicht vermessen?
    Du, wie schwelendes Gesträuch am Weg
    Wie Staubwind, du, wie Schweigen,
    dem sich die schnellen Tage neigen,
    du erster, nie benannt, wie Laub ...
    Ich weiß nicht: Hab ich je an dich geglaubt?
    Es war vergebens, denn du pochst in mir,
    du schwelst und was ich auch verlier,
    du atmest, brennst an meinem Weg."

    Aus: "Windzüge" von Christian Lehnert
    Christian Lehnert:
    "Warum ich mich immer wieder der Verwandtschaft von Poesie und Religion annähere: Ich bin nun mal ein Dichter, und ich bin gleichzeitig religiös und merke, wie die beiden Dinge zusammenhängen. Und die Literatur in Mitteleuropa krankt halt an einer gewissen Aussage-Armut gelegentlich, an einer gewissen Stoff- und Erzähl-Armut, an einer gewissen Ausgelebtheit, Ausgeschriebenheit auch."
    Eine Armut, der der Dichter mit dem Schatz der Mystik und Religion entgegentritt.
    Die neue literarische Lust an Religion
    Sibylle Lewitscharoff, Felicitas Hoppe und Christian Lehnert sind Prototypen für die neue literarische Lust an Religion – eine Lust, gewiss, die sich mit religionskritischen Rückfragen nicht lange aufhält. Es geht schließlich nicht um Theologie, sondern um Literatur.
    Erklärtes Ziel der neuen literarischen Religionsliebhaber ist es, ein Sensorium für die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit zu wecken. Türöffner zu einer Welt, die sich nicht in Prozesslogik und Alltagswahnsinn erschöpft. Theologisch mag das eine arge Verkürzung sein, und in gewisser Weise "naiv", wie es Lewitscharoff sagt. Aber es hilft doch zugleich auch, Literatur und Religion gleichermaßen auf einen ersten, oft verschütteten Impuls zurückzuführen: das Staunen. Oder wie Christian Lehnert sagt: "Am Anfang der Mystik steht das Staunen. Und Poesie und auch Philosophie und auch die Theologie kommen eigentlich aus dem Staunen. Das ist der erste Impuls."