Dienstag, 23. April 2024

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''Literatur und Luftkrieg''

Scheck: W. G. Sebald, Ende des Jahres haben Sie Poethikvorlesungen in Zürich gehalten, Poethikvorlesungen, die einen Obertitel hatten, nämlich "Literatur und Luftkrieg”. In diesen Vorlesungen sind Sie der Frage nachgegangen, warum die Bombenangriffe auf deutsche Städte während des Zweiten Weltkriegs so gut wie keinen Widerhall, so gut wie keinen Niederschlag in der deutschen Nachkriegsliteratur gefunden haben. Das steht nun aber eigentümlich im Gegensatz zu der Bezeichnung für diese Periode der Nachkriegsliteratur, an die man sich gewöhnt hat: Trümmerliteratur. Gab es die denn also gar nicht?

Denis Scheck | 26.01.1998
    Sebald: Es gab sie schon, eben dem Namen nach, und es gab auch in dieser Literatur immer wieder Ansätze und Bemühungen, mit den Realitäten der Nachkriegswelt in Deutschland zurechtzukommen, etwas darüber zu schreiben. Man bekommt aber erst jetzt aus der Distanz heraus das richtige Maß für das Defizit, das trotz dieser Bemühungen angelaufen ist. Wenn wir uns heute vorstellen, daß wir über unsere unmittelbare Vergangenheit, also die notorische Vergangenheit von ’33 bis ’45, nur das wüßten, was in der deutschen Nachkriegsliteratur steht, dann hätten wir so gut wie überhaupt kein Bild von den realen Verhältnissen dieser Zeit. Für diese Sachlage ist diese Luftkriegsgeschichte, die eine Absenz darstellt in der deutschen Nachkriegsliteratur, eine Art von Paradigma oder Beispiel.

    Scheck: Führen Sie das doch einmal aus. Wenn die Bombennächte, die die meisten von uns, auch Angehörige jüngerer Generationen, aus lebhaften Schilderungen innerhalb ihrer jeweiligen Familie meistens gut kennen, ein blinder Fleck in der Literatur sind, was wären denn etwa weitere blinde Flecke?

    Sebald: Es ist natürlich die moralische oder ethische Frage, wo die Trennungslinie verläuft zwischen passivem und aktivem Widerstand. Der große Mythos der deutschen Nachkriegsliteratur ist der Mythos des passiven Widerstandes. Als einer ehrenwerten, sinnvollen und der Zeit angemessenen Haltung, wie es sich mit diesem passiven Widerstand im Einzelfall verhielt und man muß in dieser Sache immer den Einzelfall natürlich zurate ziehen , läßt sich dies nur mit Schwierigkeiten eruieren, aber es ist zweifellos ein zentrales Moment.

    Scheck: Nun gab es ja fast eine stillschweigende Vereinbarung, eine Verabredung, dieses Thema nicht zu beschreiben, das Thema der Deutschen als Opfer der alliierten Bombenangriffe. Ohne, daß das genau formuliert wurde, ging die Rechnung ungefähr so: Der Schrecken von Auschwitz läßt jeden Schrecken, den die deutsche Bevölkerung als Opfer erlitten hat, verblassen. Es gehört sich nicht für einen Deutschen, darüber zu schreiben, weil es immer eine Relativierung des Holocaust darstellen würde. Was haben Sie dem heute, 50 Jahre danach, entgegenzusetzen?

    Sebald: Ich glaube, daß dieser Mechanismus sicher im Gange war, daß man also aus einer gewissen Scham heraus es nicht wagte, auf das eigene erlittene Leid hinzuweisen. Trotzdem glaube ich, daß es aus der Entfernung heraus nötig wäre, zumindest jetzt in archäologischer Form diese Dinge zu untersuchen, die zu den Grundlagen, zur Urgeschichte sozusagen des inzwischen seit beinahe 50 Jahren existierenden Staates gehören.

    Scheck: Aber das würde ja für jüngere deutsche Autoren heute bedeuten, sich in die Archive zu versenken, Urkunden zu wälzen. Aus eigenem Erleben ist das ja nicht mehr möglich, denn die damaligen Beteiligten, wenn sie damals klar denken konnten, sind inzwischen ja Ende 60.

    Sebald: Aus eigenem Erleben war das wahrscheinlich auch gar nicht zu beschreiben, weil diese Erfahrungen ja per definitionem durch den seelischen Apparat, der solche Dinge normalerweise rezipiert, durchschlagen mußten. Es waren ja Schockerlebnisse, die dann in narrativer Form auch im Familienzusammenhang gar nicht bewältigt werden konnten. Das ist psychologisch durchaus verständlich. Deshalb sind ja auch die Geschichten, die in den Familien erzählt werden, in aller Regel äußerst stereotyp. Man hört immer wieder dieselben Geschichten. Das heißt, wir mußten immer die Kinder zusammenpacken, aufwecken, die Koffer unter den Arm, die Decken, in den Keller hinunterrennen, und dann saßen wir da, dann kamen wir wieder hinauf und dann mußten wir schon wieder hinunterrennen. So laufen diese Geschichten im allgemeinen ab. Was aber tatsächlich an Grauenhaftem geschah, wie diese Städte in Flammen aufgingen, wie lange dieses Schrottzeug, diese Schuttberge, auf denen irgendwelche Lattenkreuze standen, in der Nachkriegszeit noch herumlagen, das ist einfach noch nicht beschrieben und kann, glaube ich, auch nur aus dem Archiv heraus gemacht werden. Es wäre eben sehr, sehr wichtig, daß die schreibende Generation jetzt sich dieser Archive auch annimmt, nachsieht, was darin ist. Es ist ja eine eklatante Tatsache, daß dort nicht nur man kann gar nicht von Versagen sprechen das ist ja auch nicht der Punkt, um den es hier geht , daß die Literatur in irgendeiner Form versagt hätte. Darum geht es nicht. Aber die Historiographie hat sich dieses Themas interessanterweise ja auch nicht angenommen. Es gibt kein deutsches historisches Standardwerk zu diesem Thema, weder ein sozialhistorisches noch ein militärhistorisches. Das erscheint mir ein fast noch zwingenderes Indiz als das Loch in der Literatur, daß diese Sache noch nicht in einer angemessenen Form untersucht worden ist.

    Scheck: Lassen Sie uns einmal bei der Literatur bleiben. Wie sähe denn das aus? Das wären ja dann historische Romane über den Zweiten Weltkrieg, geschrieben von Angehörigen einer Generation weit nach dem Zweiten Weltkrieg. Nun haben historische Romane in Deutschland zumindest lange den Makel des Eskapismus getragen. Es sei eher eine Flucht aus der Geschichte als eine Flucht in die Geschichte.

    Sebald: Ich sehe den historischen Roman nicht unbedingt als das zwingende Muster. Ich glaube nicht, daß man über dieses Thema einen historischen Roman schreiben kann. Ich glaube aber, daß eine Erzählfigur oder ein Erzähler beschreiben kann, wie er diese Dinge als lesender Mensch erfährt, wie er sie im Archiv sozusagen aufdeckt, was in seinem inneren und äußeren Leben geschieht durch solche Leseerfahrungen und -offenbarungen, die einem bei solcher Lektüre zuteil werden könnten. Das, glaube ich, läßt sich auf eine relativ komplizierte Weise durchaus machen.

    Scheck: Das klingt nun sehr nach der Art von Dokumentarliteratur, wie W. G. Sebald sie selber schreibt, etwa in Büchern wie "Die Ausgewanderten". Beschreiben sie doch einmal die ästhetischen Mittel, die dafür vonnöten wären - das kann sich ja nicht erschöpfen im Abbilden von Dokumenten.

    Sebald: Nein, das nicht, aber es gibt in der späteren deutschen Nachkriegsliteratur im weitesten Sinn natürlich schon Ansätze dazu. Bei Hubert Fichte zum Beispiel in dem Grünspan-Buch begibt sich der Erzähler in eine Hamburger Bibliothek und findet dort ein Dokument, aus dem dann zitiert wird. Und zwar ist das der Bericht eines deutschen Mediziners, der die Schrumpfleichen, die nach den Feuerstürmen auf den Straßen gefunden wurden, seziert. Aus dieser professionell-medizinisch-zynischen Beschreibung der verbrannten Körper und der Schwierigkeiten, die bei ihrer Autopsie auftreten, beginnt man nach und nach zu begreifen, um was für grauenhafte Dinge es sich dabei handelte.

    Scheck: Nun war aber doch, glaube ich, ein Grund, weshalb diese Aufarbeitung in fiktionalisierter Form, dokumentarliterarischer Form bisher nicht stattgefunden hat, auch ein Erschrecken ob dieser berühmten Ästhetisierung der Schrecknisse, wie sie im Holocaust im Zweiten Weltkrieg vorkamen. Wie ich muß noch einmal insistieren sähe denn eine Literatur aus, die sich dieses Schreckens bewußt ist, gleichwohl aber darauf verzichtet, nun aus Mangel an eigenem Erleben, aus Mangel an eigenem Aufregenden im persönlichen Leben sich dieser Geschichten nur bedient?

    Sebald: Daß man sich mit der Ästhetisierung natürlich im Falle einer Beschreibung solcher Dinge möglichst zurückhält, wie das ja durchaus im Sinne war mit der dokumentarischen Literatur. Es ist ja auch kein Zufall, daß gerade in Deutschland die dokumentarische Literatur zu einer so wichtigen Schreibdimension in den 60er Jahren geworden ist. Sie hat sich allerdings im großen und ganzen hauptsächlich auf das Holocaust-Phänomen konzentriert, und dieses andere ist nie in ihren Gesichtskreis getreten, mit der einen Ausnahme: Alexander Kluge, bei dem es auch sehr, sehr überzeugende Ansätze zu einer möglichen Archäologie der Vorgeschichte der Bundesrepublik gibt.

    Scheck: Inwiefern sind diese theoretischen Überlegungen des Literaturwissenschaftlers W. G. Sebald nun vielleicht schon eine Anleitung fürs eigene Schreiben des Schriftstellers W. G. Sebald?

    Sebald: Ich denke nicht, daß ich mich - jedenfalls nicht in absehbarer Zukunft - schreibend mit diesem Thema befassen werde. Ich habe einen weit in der Ferne herumschlingernden Plan, mich irgendwann einmal mit meiner eigenen Kindheits-, Jugend- und Familiengeschichte zu befassen, wo der Schwerpunkt sicher die 50er Jahre wäre. In diesem Zusammenhang ist es dann möglich, daß das eine oder andere davon zur Sprache gebracht werden könnte.

    Scheck: Man muß dazu wissen, daß in Ihrem allerersten Buch "Nach der Natur", einem Elementargedicht, einem lyrischen Werk, das sich der Prosa doch stark annähert, eine Szene beschrieben ist, in der der Autor W. G. Sebald - ich glaube: autobiographisch - beschreibt, wie seine Mutter einen Bombenangriff in Süddeutschland aus der Ferne sieht. War das ein zentrales Erlebnis für Sie als Autor? War das Anlaß für Ihre Beschäftigung mit diesem Thema?

    Sebald: Das war einer der Anlässe. Der andere Anlaß war der, daß ich im Seminar mit meinen englischen Studenten bei der Lektüre der deutschen Nachkriegsliteratur natürlich auf dieses Thema schon vor vielen Jahren gestoßen bin, daß es mich schon in den 70er Jahren gewundert hat, weshalb man aus dieser Literatur so wenig erfährt. Ich habe dann zu Beginn der 80er Jahre lange Gespräche geführt mit einem bei uns noch lebenden Professor namens Soli Zuckerman, der in der Kriegszeit wissenschaftlicher Berater der englischen Regierung in diesen Bombenfragen gewesen ist und der Meinungen und Ansichten vertrat, die ganz denen entgegenliefen, die vom englischen High Command damals vertreten wurden. Aus dieser Zeit heraus stammt eigentlich mein Interesse an diesem Thema, mit dem ich mich sukzessive immer wieder mal beschäftigt habe und mit dem ich auch schon mit vielen Leuten gesprochen habe, auch zu Studenten gesagt habe, das wäre ein Promotionsthema, könntet ihr euch mal damit befassen. Es hat aber niemand das Thema aufgenommen. Nun habe ich es endlich einmal selber angerührt.

    Scheck: Abschließende Frage: Nun wird an die jüngeren deutschsprachigen Autoren, insbesondere die ostdeutschen Autoren, immer wieder die Forderung nach dem großen Roman über den Fall der Mauer 1989 herangetragen. Das Beispiel, über das wir uns unterhalten, Literatur und Luftkrieg, Zweiter Weltkrieg, belegt aber nun eher, daß es eines Abstands bedarf. Wie groß muß denn Ihrer Meinung nach der Abstand zwischen Erlebtem und Literarisierung sein?

    Sebald: Ich glaube, der Abstand muß beträchtlich sein. Ich habe selbst vor nicht allzu langer Zeit mit einem Projekt die Erfahrung gemacht, daß ich versucht hatte, etwas relativ kürzlich Erlebtes, was nicht länger als eineinhalb, zwei Jahre zurücklag, in eine literarische Form zu bringen, was mir schändlich mißlang, so daß ich es in eine Schuhschachtel packen und wegrücken mußte. Ich glaube schon, daß es eines gewissen Detachements bedarf, um an diese Dinge herangehen zu können.