Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Literaturgeschichte der Wende
Fremdheit zwischen Ost und West

In der Literatur des ersten Wendejahrzehnts standen Klischees, Missverständnisse und Anklagen im Vordergrund. Der Literaturwissenschaftler Arne Born fragt, ob die Schriftsteller rund um die Deutsche Einheit die besseren Zeit-Diagnostiker sind.

Von Cornelius Wüllenkemper | 28.10.2019
Rund eine Million Menschen feierten in der Nacht zum 3.10.1990 in Berlin - wie hier vor dem Reichstagsgebäude - die wiedergewonnene deutsche Einheit
Rund eine Million Menschen feiern in der Nacht zum 3.10.1990 die Wiedervereinigung. (pa/dpa/Kumm)
Nach der Einigungseuphorie kam die Enttäuschung. Die Skepsis gegenüber der deutschen Wiedervereinigung unter westlichen Vorzeichen und das Fremdheitsgefühl zwischen Ost und West prägten einen Großteil der damaligen Literatur, so Arne Born in seiner "Literaturgeschichte der deutschen Einheit."
"Nach kurzer Zeit merkt man, man ist sich politisch fremd, man ist sich auch kulturell fremd. Die Ostdeutschen sagen, in der DDR gab es einen laxeren Umgang mit Geld, Geld spielte keine große Rolle. Und plötzlich merkt man, im Westen ist Geld elementar, zentral. Und das erscheint als abstoßend, als kalt, herzlos. Der Westen wird wahrgenommen als unsolidarisch, als glatt und glitzernd, als besserwisserisch. Und das führt dann zu gegenseitigen Aversionen, die sich dann eben auch sehr deutlich in der Literatur dieser Zeit zeigen."
Ein kollektiver Freiheitsentzug
Während Heiner Müller, Christa Wolf und Volker Braun in ihren politischen Stellungnahmen für einen reformierten Sozialismus und gegen eine kapitalistische Übernahme plädierten, fand auch die Abrechnung mit der DDR-Vergangenheit ihren Platz in der Literatur. Monika Maron und Wolf Biermann etwa prangerten in Essays und persönlichen Rückblicken den kollektiven Freiheitsentzug und die Illusion des Antifaschismus an. Westdeutsche Autoren wie Peter Schneider, Martin Walser und Günter Grass wiederum untersuchten kritisch die Perspektiven der nationalen Wiedervereinigung zu einem "neuen Großdeutschland."
Als einer von wenigen Literaten brachte der in Sachsen geborene Bernd Wagner, der 1985 nach Westberlin übergesiedelt war, die höchst unübersichtliche gesellschaftliche Gemengelage auf den Punkt. Im Prosaband "Wut im Koffer" warnte Wagner seine ostdeutschen Mitbürger vor der Allmacht des Geldes im Westen. Zugleich formulierte er seine Angst vor dem Einfall des "Volks der Revolutionäre", die er zuvor als "Duckmäuser und Opportunisten" erlebt hatte.
Angst vor dem Einfall des "Volks der Revolutionäre"
"Ich gehörte noch nicht richtig zum Westen, ich gehörte aber auch nicht mehr zum Osten. Ich habe das aber auch als eine privilegierte Situation empfunden, weil ich eine Distanz hatte, aber auch eine Nähe zu den Leuten und den Verhältnissen in der DDR, und natürlich auch wusste, was auf sie zukommen wird. Das war für mich eine gute Position, um darüber zu schreiben, auch um meine eigenen Befürchtungen, Hoffnungen, Ängste, Freuden loszuwerden."
Nach der literarischen Politisierung unmittelbar nach dem Mauerfall erschienen Mitte der Neunzigerjahre vermehrt Texte der persönlichen Reflexion. In Tagebüchern und fiktionalisierten Biographien untersuchten Autorinnen und Autoren die Lebenswelten des Einzelnen. Die vorbehaltlose Euphorie über "das vereinte, das nun endlich vereinte, [...] zu sich selbst gekommene Land", wie es der Kölner Hanns-Josef Ortheil in seinem Journal "Blauer Weg" formulierte, war eine seltene Ausnahme.
Die zwiespältige Freiheit des Westens
Die in Chemnitz geborene Kerstin Hensel etwa beschrieb 1994 in ihrer Erzählung "Tanz am Kanal" die Lebens- und Leidensgeschichte einer Autorin namens Gabriela von Haßlau. Als Aristokratin wird Hensels Protagonistin in der DDR marginalisiert. In der Bundesrepublik fristet sie ihr Dasein dann obdachlos am Ufer eines Kanals. Kerstin Hensel gibt dem Motiv der Fremdheit mit ihrer Figur eine hybride Bedeutung:
"Sie ist überall fremd. Sie war ja vorher auch fremd. Sie war fremd ihrer Familie, ihrer Arbeit, ihres Daseins gegenüber. Und nach der Wende ist die Fremdheit nicht anders geworden, sie hat nur andere Zeichen bekommen. [Es ist] also eine Geschichte der permanenten Fremdheit oder der permanenten Suche nach Obdach, Obdach einer Liebe, einer Erfülltheit, eines Geborgenseins."
In "Tanz am Kanal" zeichnet Hensel die zwiespältige Freiheit des Westens mit grobem Strich. Zwei ebenso ignorante wie großspurige Journalistinnen präsentieren Gabriela von Haßlau in der Titelstory eines Hamburger Magazins als obdachlose, gekränkte und gescheiterte Ost-Schriftstellerin. Kerstin Hensel betont, dass die Geschichte von Gabriela von Haßlau zwar keineswegs autobiographisch, aber gleichwohl als "erfahrene Erfindung" zu lesen sei.
Buchcover: Arne Born: „Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989-2000. Fremdheit zwischen Ost und West“
Buchcover: Arne Born: „Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989-2000. Fremdheit zwischen Ost und West“ (Wehrhahn Verlag)
Geldversessener Westen, rückständiger Osten
"Nach neunundachtzig sind wir Schriftsteller – also viele – natürlich gereist, sehr weit gereist, wie vorher nie, und wurden wirklich wie Papageien betrachtet und auch behandelt. Und das Vorurteil gegenüber einem vielfältig gelebten Leben, dass man aus einer reinen Knechtschaft kam, das war wirklich da gewesen. Natürlich nicht nur, aber schon..."
Die Klischees vom seelenlosen, geldversessenen Westen auf der einen und vom rückständigen, lethargischen Osten auf der anderen Seite sind Leitmotive der Wendeliteratur. In "Ein weites Feld" erzählte Günter Grass von Westdeutschen als gnadenlose "Plattmacher" im Osten und von Einigungsbefürwortern als bierselig grölende Nationalisten. Thomas Hettches Roman "Nox" dagegen allegorisierte 1996 die Angst vor dem Einfall der östlichen Unzivilisiertheit plakativ als sadomasochistische Kopulationsreigen.
Hettches westdeutscher Erzähler wird noch am Tage des Mauerfalls ermordet – ein Fanal der Gefahr aus dem Osten. Es ist eine der großen Stärken von Arne Borns Literaturgeschichte der deutschen Einheit, dass sie den komplexen gesellschaftlichen Prozess der deutschen Wiedervereinigung an literarischen Positionen exemplarisch vorführt. Hat die Literatur versagt in ihrer Funktion als Brückenbauerin und Vermittlerin fremder Lebenswelten?
"Was das Zeitdiagnostische angeht, war ich schon ein bisschen enttäuscht, so dass ich zu der Einsicht gekommen bin, Schriftsteller sind auch nur Menschen. Christa Wolf, Heiner Müller, Volker Braun, Stefan Heym wissen auf eine Art und Weise auch nicht mehr als ich als Zeitungsleser und halbwegs gebildeter Mensch. Aber dann fragt man sich: Müssen Schriftsteller die gesellschaftlich schlaueren Menschen sein? Oder ist es eher ihre Aufgabe, ihre Erfahrung in eine künstlerische Form zu bringen?"
Der große Wenderoman ist eine Trilogie
Wie es dennoch gelingen kann, Fremdheitserfahrungen aufzuschreiben, ohne zu polarisieren, sondern vielmehr die kleinen Geschichten der Menschen in der großen Geschichte zu erzählen, zeigt Arne Born am Ende seiner umfänglichen Studie. Im Schlusskapitel über den "modernen Realismus" untersucht Born die oft erhobene Forderung nach dem einen, repräsentativen Wenderoman.
"Ich glaube, in meinem Buch zeigen zu können, dass er in gewisser Weise geschrieben wurde, es aber niemand gemerkt hat. Wenn wir nämlich diese drei Romane, Ingo Schulze "Simple Storys", Jan Groh "Colón" und Bernd Wagner "Paradies" zusammennehmen als eine Art ungewollte Trilogie, dann haben wir hier den großen Wenderoman. Wir haben die drei Fremdheitserfahrungen in geradezu repräsentativer Form. Bei Ingo Schulze sehen wir exemplarisch den Einbruch des unbekannten, fremden Westlichen nach Ostdeutschland, bei Groh das Fremde als "unbekanntes Draußen", ein Westbürger reist in die DDR. Und bei Bernd Wagner wiederum, eine DDR-Bürgerin reist in den Westen. Diese drei Romane, diese Trilogie, das ist der Wenderoman."
Neben dem Publikumserfolg von Ingo Schulzes "Simple Storys", die zumindest subkutan die Vorstellung eines kapitalistischen Überfalls auf den Osten bedienen, sind die Romane von Jan Groh und Bernd Wagner nur wenig beachtet worden. Womöglich eben, weil sie die Klischees der politisch-kulturellen Fremdheit zwischen Ost und West ignorierte und vielmehr von zwischenmenschlicher Annäherung erzählen.
Am Rande der Gesellschaft die ganz persönliche Einheit finden
In seinem 1996 erschienenen Roman "Paradies" berichtete Bernd Wagner weitgehend dokumentarisch von einer gesundheitlich labilen Ostdeutschen, die an der Seite eines arbeitslosen Westlers durch das wiedervereinte Land reist - zwei gebeutelte Figuren, die am Rande der Gesellschaft zu ihrer ganz persönlichen Einheit finden.
"Es war die Absicht, Menschen in einer politisch hochbrisanten Situation zu zeigen, wo sie aber nicht politisch reagieren, sondern ganz menschlich, kreatürlich. [...] Und das ist etwas, das sich durch die Zeiten durchzieht, dass Menschen über politische Festlegungen oder gesellschaftliche Festlegungen, in denen sie durch Zufall großgeworden sind, hinausgehen und sich selber als auf gleiche Art Leidende oder sich Freuende an der Welt sich kennenlernen und verbünden."
Mit der "Literaturgeschichte der deutschen Einheit" liefert Arne Born eine unbedingt lesenswerte Mentalitätsgeschichte des Einigungsprozesses. Auf höchst spannenden Wegen zwischen gesellschaftlich-politischer Realität und deren literarischer Spiegelung zeigt er, wie Literatur Wirklichkeit nicht nur erzählt, sondern sie auch formt.
Arne Born: "Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989 - 2000. Fremdheit zwischen Ost und West"
Wehrhahn Verlag, Hannover. 652 Seiten. 39,80 Euro