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Literaturkritikerin Sigrid Löffler
Der westliche Kanon löst sich auf

Ein Kanon der Literatur sei keine Liste der Lieblingsbücher, sagte die Literaturkritikerin Sigrid Löffler im Dlf. Er entstehe über lange Zeiträume und setze sich aus Texten zusammen, die im Gedächtnis der Menschen lebendig blieben. Heute sei der sogenannte westliche Kanon aber in Auflösung begriffen.

Sigrid Löffler im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 28.08.2018
    Die österreichische Publizistin, Kulturkorrespondentin und Literaturkritikerin Sigrid Löffler.
    Laut Literaturkritikerin Sigrid Löffler müsse man Kernklassiker wie die Ilias, die Odyssee, die griechischen Dramen, Don Quijote, Hamlet oder Faust nicht alle gelesen haben (dpa / picture alliance / Manfred Krause)
    Maja Ellmenreich: Zu einer großen Mitmachaktion hat die Wochenzeitung "Die Zeit" vor kurzem eingeladen: Jeder, der Lust und Laune hat und sich dazu berufen fühlt, soll mitschreiben an einem Allgemeinbildungskanon. Was muss ein junger Mensch an der Schwelle zum Erwachsenendasein wissen? Die "Zeit"-Macher wollen ihre Leserinnen und Leser darüber abstimmen lassen und haben schon mal einen ersten Aufschlag gemacht: Literarisch etwa empfehlen sie Hemingways "Der alte Mann und das Meer", Kästners "Emil und die Detektive" und Camus "Die Pest" – neben einer Reihe anderer Bücher. Tja, was sollte man kennen, muss man gelesen haben, darf man nicht dem Vergessen anheimfallen lassen? In unserer Sommerreihe über das "Erinnern und Vergessen" wollen auch wir uns dem Phänomen des Literaturkanons widmen; ich habe mit der Literaturkritikerin Sigrid Löffler darüber gesprochen. Bleiben wir mal noch einen Moment bei der Aktion der "Zeit", Frau Löffler, kann durch eine demokratische Abstimmung überhaupt ein klassischer Kanon entstehen?
    "Der Einzelne hat weder Macht noch Autorität, einen Kanon aufzustellen"
    Sigrid Löffler: Ich fürchte, diese Aktion beruht auf einem Grund-Missverständnis über das Wesen eines literarischen Kanons. Ein Kanon ist ja nur dann ein Kanon, wenn er von der Gesellschaft als verbindlich anerkannt wird. Ein Kanon mendelt sich über lange Zeiträume, manchmal über Jahrhunderte heraus. Er besteht aus Texten, die von der Gesellschaft als so bedeutend anerkannt werden, dass sie im Gedächtnis der Menschheit lebendig bleiben und über die Zeiten hinweg nicht vergessen werden.
    Der Einzelne hat weder die Macht noch die Autorität, einen Kanon aufzustellen, und wenn Privatleute wie in diesem Fall in den Medien Listen ihrer Lieblingsbücher veröffentlichen und ihre persönlichen Favorits als klassischen Kanon für alle dekretieren wollen, dann ist das nichts als wichtigtuerischer Medienrummel. Das kann man gar nicht ernst nehmen. Solche privaten Hitlisten sind eben gerade kein Kanon, denn es fehlt ihnen die Legitimation, die gesellschaftliche Verbindlichkeit.
    "400 Jahre lang hat die Katholische Kirche Bücher verboten"
    Ellmenreich: Dann tauchen wir mal ein in die Geschichte des Kanonisierens. Jetzt waren wir gerade in der Gegenwart und Sie haben eine ganz klare Absage dieser Art der Kanon-Schaffung erteilt. Wenn wir in die Geschichte eintauchen, dann führt uns das unweigerlich zur Katholischen Kirche und ihrem Index verbotener Bücher. Das war eine Art Negativkanon. Da ging es aber gar nicht so sehr darum, dass die Gemeinschaft einen "Commonsense" herstellte, sondern da ging es ganz klar darum, was verboten und was goutiert wird von der Katholischen Kirche.
    Löffler: Ja! Ein Kanon teilt ja immer die Literatur ein in das, was etwas taugt, und das, was nicht in den Kanon gehört und daher angeblich nichts taugt. Wir können von einem Kanon weltlicher Klassiker eigentlich erst ab dem 18. Jahrhundert reden, also seit der Aufklärung, und dieser weltliche Kanon ist in der Tat eine Reaktion auf diese Leseverbote der Katholischen Kirche. 400 Jahre lang hat ja die Katholische Kirche Bücher verboten. Sie versuchte, sie zu unterdrücken, eben mit Hilfe dieses Index der verbotenen Bücher. Das waren Bücher, die die Kirche für ketzerisch gehalten hat, für unmoralisch oder für anstößig, also alle Bücher, die von der orthodoxen Glaubenslehre abgewichen sind. Dazu gehörten natürlich fast alle Werke der Aufklärer, von Kant über Voltaire und Diderot, später dann natürlich auch Charles Darwin.
    Aber es hat sich herausgestellt, dass nicht einmal die Macht der Kirche ausgereicht hat, um verbindlich festzulegen, was gelesen werden darf und was nicht, denn jeder Versuch, eine verbindliche Liste von gültigen Kunstwerken aufzustellen, ist ja ein dialektischer Vorgang. Jeder Kanon ruft ganz unweigerlich einen Gegenkanon hervor. Und durch das Verbot werden die Werke ja überhaupt erst interessant gemacht. Die werden dann zu Stars eines Gegenkanons. Und durch das Verbot wurden die Werke der Aufklärer erst recht berühmt. Historisch, kann man ja sagen, haben diese Werke das Rennen gemacht und der Index der verbotenen Bücher wurde 1966 von der Kirche abgeschafft, weil er das Gegenteil bewirkt hat von dem, was eigentlich beabsichtigt war.
    "Einen anderen Kanon in der indischen, japanischen, chinesischen Literatur, persischen Literatur"
    Ellmenreich: Das heißt auf der einen Seite, jeder Kanon hat immer einen Gegenkanon, es gibt immer ein Positiv und ein Negativ. Auf der anderen Seite aber höre ich dann auch aus Ihren Worten heraus, dass es immer wieder Weiterentwicklung gibt, dass man von dem einen Kanon der Weltliteratur zum Beispiel gar nicht sprechen kann, sondern man muss eigentlich von verschiedenen Kanones sprechen, weil sie sich immer wieder wandeln?

    Löffler: Ja! Erstens einmal: Es gibt oder gab den sogenannten westlichen Kanon. Aber es gibt natürlich einen ganz anderen Kanon in der indischen, in der japanischen, in der chinesischen Literatur, in der persischen Literatur. Da stehen ganz andere Titel drauf. Und der weltliche Kanon ist dadurch gekennzeichnet, dass er sich ständig wandelt. Er fluktuiert, er ist offen, er ist durchlässig, und bedeutende Texte sind eben nicht für alle Zeiten gleich bedeutend. Es gibt ja einige wenige Kernklassiker, das ist die ewig gültige Bücherliste, aber es gibt keinen unveränderlichen Maßstab für literarische Qualität. Die Maßstäbe ändern sich mit der Zeit und deshalb ist der weltliche Literaturkanon auch immer in Bewegung, hat aber natürlich auch eine schwächere Verbindlichkeit als etwa der geistliche, der sakrale Kanon.
    Ellmenreich: Weil wir den einen Tonangeber brauchen. Bei der Katholischen Kirche gibt es den womöglich, oder ansonsten sind es die Leser, durch deren Hände Bücher gehen im Laufe der Zeit.
    Löffler: Ja, ja. Der kirchliche Bereich ist ja ganz klar. Kanonisch und sakrosankt sind die Texte der Bibel, die heiligen Schriften der Weltreligion. Die sind das Textkorpus, das über die Jahrtausende hinweg gültig bleibt. Aber das gilt eben nicht für den weltlichen Kanon. Da gibt es einfach einen Rhythmus von Vergessen und Erinnern und Neuentdecken. Neue Namen werden integriert, andere Namen haben ein Verfallsdatum, verlieren an Relevanz, fallen dem Vergessen anheim. Diese Bestände werden unentwegt umgeschichtet und der Konsens über die gültigen Werke wechselt mit jeder Generation, und das ist es eben, was manche Leute nicht akzeptieren wollen. Sie sehnen sich nach Gewissheit, nach festen Traditionen, nach einem unveränderlichen Kanon, an den sie sich klammern könnten. Aber genau diese Unveränderlichkeit gibt es eben nicht, mit Ausnahme vielleicht von ein paar wenigen Kernklassikern, die sich tatsächlich über alle Zeiten hinweg behaupten können.
    "Es gibt diese Kernklassiker"
    Ellmenreich: Ja, klar! Der Wunsch nach Orientierung ist groß. Das sehen wir nicht nur in der Literaturszene mit ihrer Masse an Neuerscheinungen zu jeder neuen Buchmesse. Verstehe ich Sie dann richtig, dass das, was in einem Kanon steht, nicht gleichzusetzen ist mit einer Leseempfehlung?
    Löffler: Nein, natürlich überhaupt nicht. Zum Beispiel in den Schulen wird natürlich nach Leselisten unterrichtet. In den Universitäten gibt es natürlich auch Leselisten. Das ist der Syllabus, der muss einfach abgearbeitet werden, aber das hat mit einem Kanon eigentlich gar nichts zu tun.
    Ellmenreich: Können Sie den Wunsch des allgemeinen Lesers durchaus verstehen nach so einer Richtschnur, weil Sie vorhin ein bisschen die Listen ein wenig abgeurteilt haben?
    Löffler: Ich verstehe das Bedürfnis, das die Leute haben. Man möchte sich doch gerne gebildet fühlen. Aber ich habe den Verdacht, die Leute würden gerne wissen, was sie alles weglassen dürfen und sich trotzdem noch gebildet fühlen dürfen. Aber wie gesagt, es gibt einen kleinen Bestandteil von Texten, die sich einfach über die Jahrhunderte, teils sogar über die Jahrtausende gehalten haben. Das sind immer die lebendigen Texte, die werden durch die Jahrhunderte weitergereicht, immer wieder neu anverwandelt, werden nicht durch spätere Autoren ersetzt – denken Sie an Werke wie die Ilias, die Odyssee, die griechischen Dramen. Es gibt diese Kernklassiker. Don Quijote gehört dazu, Hamlet, Faust, König Ödipus, die Antigone. Die Frage ist, muss man diese Werke auch alle gelesen haben. Ich glaube nicht; sie sind einfach bekannt. Sie werden stillschweigend als bekannt vorausgesetzt und sie sind der Fundus, auf dem zumindest der abendländische Kanon ruht.
    "Der westliche Kanon ist in Auflösung begriffen"
    Ellmenreich: Das sind ja auch alles Topoi, die immer wieder auftauchen, die Sie gerade aufgezählt haben, die auch von Schriftstellern immer wieder aufgegriffen werden. Ist das eine Eigenschaft, die ein Kanon-Mitglied, nenne ich jetzt mal so eine Schrift, erkennen lässt?
    Löffler: Ja! Ich denke überhaupt, wenn man heute Kanon noch definieren will – und das kann man eigentlich schon kaum mehr, weil ja durch die Globalisierung auch ganz andere Kanones jetzt inzwischen im Schwange sind. Was heute gilt, ist eine nichtwestliche postkoloniale migrantische Literatur. Da stehen ganz andere Titel drauf als in dem sogenannten westlichen Kanon, der ja einfach in Auflösung begriffen ist. Wir sind ja im postkanonischen Zeitalter. Aber das, was man heute eigentlich noch als kanonisch festhalten kann, das sind die Texte, die die Schriftsteller selber am Leben erhalten, das was die Schriftsteller, wie John Milton sagt, nicht willentlich sterben lassen. Das sind jene Werke, mit denen sich die Schriftsteller selber auseinandersetzen, die sie aufgreifen, die sie anverwandeln, die ihre Vorbilder sind, mit denen sie sich auseinandersetzen. Das sind eigentlich die kanonischen Werke. Sie müssen lebendig bleiben, sie müssen im Gedächtnis bleiben; sonst sind sie nicht kanonisch.
    Westlicher Kanon männlich dominiert und eurozentrisch geprägt
    Ellmenreich: Wir befinden uns im postkanonischen Zeitalter, haben Sie gerade gesagt, und ich möchte hinzufügen, wir befinden uns ja auch im postkolonialen Zeitalter. Da wird das Konzept Kanon ja immer wieder stark in Frage gestellt. Sie haben gerade die Weltliteratur auch schon angesprochen. Die alten weißen Männer verlieren auch natürlich in dieser Kanon-Debatte an ihrer allwissenden Autorität.
    Löffler: Ja, ja. Man kann schon sehen, dass seit dem 20. Jahrhundert der sogenannte westliche Kanon im Sinne von Harold Bloom eigentlich immer anachronistischer wird und auch an Bedeutung verliert, und er ist ja auch in der Tat angreifbar, wie Sie sagen. Er war männlich dominiert, er war eurozentrisch geprägt und er hat bürgerliche Wertvorstellungen zementiert, und daher kam natürlich die Kritik von den unterschiedlichsten Seiten – natürlich von den Feministinnen, aber auch von postkolonialer Seite, aber auch von der marxistischen Linken. Die wollten alle diesen westlichen Kanon einfach nicht mehr gelten lassen, und in der Tat ist er inzwischen entlegitimiert.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.