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Literaturwissenschaft
Lesen im Zeitalter Trumps

Literatur findet nicht im luftleeren Raum statt. Das betrifft auch die Literaturwissenschaft, die sich mit historischen Zusammenhängen von Texten beschäftigt. Welche Relevanz hat die Disziplin in einer Zeit, in der politische Gewissheiten verloren gehen? Ein Kongress der Uni Mainz sucht Antworten.

Von Miriam Zeh | 23.05.2019
Mehrere Bücherstapel auf einem Tisch, davor ein aufgeschlagenes Buch, auf dem eine Brille liegt
Muss sich wissenschaftliche Beschäftigung mit Texten mehr an der gesellschaftlichen Realität ausrichten? (imago/Westend61)
Ein Literaturwissenschaftler gräbt sich tief hinein in Romane oder Gedichte. Spezialisiert auf einen bestimmten Sprachraum klärt er den historischen Zusammenhang eines Textes auf und je nachdem, welche Methode der Literaturwissenschaftler favorisiert, analysiert und interpretiert er den vorliegenden Text mit hermeneutischen, dekonstruktivistischen, intertextuellen oder diskursanalytischen Werkzeugen. Seit der Jahrtausendwende jedoch stehen diese literaturwissenschaftlichen Methoden, ja sogar die gesamten kritischen Lesepraktiken am Pranger. Was die Disziplin brauche – proklamieren die Verfechter der sogenannten Post-Kritik – seien nicht noch mehr Theorie, nicht noch mehr Ideologie und Distanz. Die Literaturwissenschaft müsse vielmehr wieder zu einer leidenschaftlichen Begeisterung für den einzelnen Text finden. Solche Rufe nach mehr Gefühl und weniger Kritik kommen keineswegs von jenen, die die Universität ohnehin für ein elitäres und überflüssiges Projekt halten. Der Druck kommt aus den eigenen Reihen.
"Ich weiß nicht, ob da einzelne Personen sind, die Druck ausüben oder ob die Disziplin selbst den Druck auf sich ausübt. Der ursprüngliche Ausgang dieser Diskussion ist tatsächlich von einzelnen Personen. Rita Felski mit Sicherheit ganz besonders weit vorne, aber für uns sind vor allem originär Sharon Marcus und Stephen Best. Die haben den ersten Impetus geliefert mit der Idee des ‚surface reading‘ (dt. Oberflächenlesen), also nicht mehr in die Tiefe des Textes zu lesen, sondern einfach nur mal beschreibend über den Text hinübergehen. Was der Grund für die Disziplin als solche ist, sich auf Grundlage einer solchen Intervention überhaupt so grundlegend zu hinterfragen, ist das, was wir gerade versuchen herauszufinden. Was ist das historisierende Element dahinter?"
Dr. Tim Lanzendörfer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am amerikanistischen Institut der Gutenberg-Universität Mainz, war Mitveranstalter der internationalen Konferenz "Lesen im Zeitalter Trumps".
Kritisches Denken in der Verantwortung
Ausgehend vom innerdisziplinären Streit zwischen kritischen und post-kritischen Literaturwissenschaftlern fragten die beiden Organisatoren Tim Lanzendörfer und Mathias Nilges nach der heutigen Relevanz von Literaturwissenschaft. In den Diskussionen wurde schnell klar, dass keiner der Vortragenden die kritische Literaturwissenschaft ganz abschaffen wollte. Nachdem das kritische Bewusstsein einiger Weniger die Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung jedoch nicht davon abgehalten konnte, auf den Populismus eines Donald Trump hereinzufallen, müsse jedoch nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Literaturwissenschaft und Kritik gefragt werden.
So resümiert Dr. Mathias Nilges, Assistenzprofessor für Anglistik an der kanadischen Saint Francis Xavier University in Nova Scotia, die Mainzer Debatten: "Die Frage ist, ob Kritik sich nicht immer selbst reflektiert. Das ist eine Adornitische Position, an der viele festhalten. Kritik muss sich immer mit ihren eigenen Möglichkeiten und Grenzen auseinandersetzen. Die post-kritische Herausforderung wäre dann, zu fragen, wo wir gerade stehen als Disziplin und was die Möglichkeiten und Grenzen von Kritik sind, nicht im Allgemeinen, nicht als statische, transhistorische Methode, sondern als etwas Relevantes für unsere heutige Zeit. Wie sieht Kritik im Zeitalter Trumps aus?"
Populismus – nicht nur in den USA
Das "Zeitalter Trumps" wollen die Veranstalter dabei keinesfalls nur auf die Vereinigten Staaten beschränkt wissen. Mathias Nilges sieht den Begriff eher als Platzhalter für populistische Politik, die weltweit auf dem Vormarsch ist:

"Wenn wir das ‚Zeitalter Trump‘ im Plural verstehen, meint es nicht nur jenen historischen Moment, der von einer einzelnen Person markiert wird. Der Begriff umfasst eine Reihe von Befürchtungen – eine davon der Populismus – aus denen die Frage hervorgeht: Wie unterrichten wir? Wie setzten wir uns mit Kultur auseinander, wenn wir sehen, wie ein neuer Populismus erstarkt, der vor allem durch bestimmte kulturelle Konstellationen ermöglicht wird?
Silent-reading-party im Kieler Café Godot: Junge Menschen sitzen im Dämmerlicht und lesen.
Das Stille Lesen ist der Stargast: Silent-reading-party im Kieler Café Godot. (Deutschlandradio / Eberhard Schade)
Doch was können Literaturwissenschaftler denn ausrichten gegen den erstarkenden Populismus? Dem deutschen wie US-amerikanischen Buchmarkt schwinden schließlich von Jahr zu Jahr mehr Leser. Tim Lanzendörfer sieht seine Disziplin deshalb auch in der Verantwortung dafür, neue Lesergruppen anzusprechen.
"Eine Möglichkeit, die Post-Kritik zu verstehen ist: sich selbst als Disziplin attraktiver zu machen für verschiedene Leser, Leser, die man abholen kann mit der Ansage: Lies dies für deine Emotionen, lies das, weil es schön ist und weil ich genau dasselbe tue. Wir stecken da alle gemeinsam drin. Unsere Arbeit dient nicht nur uns selbst. Sie muss aus der Universität hinausgehen, muss sagen: Dieser Text ist gut für Dich, aber er benötigt eine bestimmte Lesepraxis. Wir können Dir helfen, das Potenzial aufzuschließen, die dieser Text bereithält."
Neue Lesergruppen ansprechen
Mit öffentlichen Abendveranstaltung in Wiesbaden und Frankfurt unternahmen Tim Lanzendörfer und Mathias Nilges einen ersten Versuch, die literaturwissenschaftlichen Diskussionen aus der Universität hinauszutragen. Auch konnte jeder Interessierte die Konferenz zum "Lesen im Zeitalter Trumps" live im Internet streamen. Besonders erfolgreich war diese Liveübertragung allerdings nicht. Zwischen zwei und zwölf Personen schalteten im Durchschnitt ein. Überraschend ist das keineswegs. Eine literaturwissenschaftliche Fachsprache ist zwar unerlässlich für die Anhänger der Disziplin. Ein größeres Publikum lässt sich mit diesem spezialisierten Vokabular aber nicht erreichen.
Nichtdestotrotz dachte die Mainzer Konferenz vielfach produktiv über die gesellschaftliche Relevanz der Literaturwissenschaft nach, jenseits der Fronten von Kritik und Post-Kritik. Texte umgeben uns schließlich in unserem Alltag, im Internet, wir lesen heutzutage mehr als jemals zuvor. Eine Literaturwissenschaft also, die auch einen Fokus auf die Vermittlung von Lesepraktiken, auf die Vermittlung von kritischen Haltungen und von Lesebegeisterung legen will, klingt da erst einmal vielversprechend – auch wenn die Disziplin gerade noch ausprobiert, wie das im konkreten Fall aussehen könnte.