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Liviu Rebreanu: "Der Wald der Gehenkten"
Liebe und Krieg im rumänischen Hinterland

Auf die eigenen Leute schießen? Mit der Tochter des Totengräbers durchbrennen? Oder einfach auf Gott vertrauen und die Nasenlöcher des Generals kontemplieren? Der Roman des rumänischen Schriftstellers Liviu Rebreanu ist ein Meisterwerk über den Krieg und die Verheerungen, die er im Menschen anrichtet.

Von Tobias Lehmkuhl | 19.03.2019
Zwei Soldaten im Schützengraben
Zwei Soldaten im Schützengraben: 100 Meter hinter der Frontlinie in Rumänien (imago / imagebroker)
Es ist Krieg, aber der Gegner ist nicht zu sehen. Keinen einzigen Feind erblicken wir in Liviu Rebreanus Roman "Der Wald der Gehenkten". Allein dadurch macht der Gegner auf sich aufmerksam, dass er des Nachts einen Scheinwerfer auf die gegnerische Linie richtet, auf die an der russischen Front eingegrabenen Soldaten der k.u.k-Armee. Für die Österreicher, Ungarn, Kroaten, und wer noch alles für das Vielvölkerreich kämpft, wird dieser Scheinwerfer zu einer Obsession. Stunden wartet man darauf, dass er - immer an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit - aufleuchtet. Wie eine Verhöhnung erscheint dieser Scheinwerfer den Soldaten, und so bekämpfen sie ihn voller Inbrunst, vielleicht auch, weil sich nur so die Spannung entladen kann, die sich durch die tage- und wochenlange Untätigkeit in den Schützengräben aufbaut. Einem, der ganz andere Ziele verfolgt, gelingt schließlich die Zerstörung. Er heißt Apostol Bologa und wird kurz darauf von General Karg empfangen, dem allmächtigen Herrn über diesen Frontabschnitt.
Die Nasenlöcher des Generals
"Beim Handschlag des Generals verneigte sich Apostol leicht, dann berichtete er mit kurzen militärisch abgehackten Sätzen in allen Einzelheiten, wie er den Scheinwerfer zerstört hatte. Aber während er redete, stellte er fest, dass die Nasenlöcher des Generals von Haarbüscheln verstopft waren, und dachte sich, dass er nachts furchtbar schnarchen musste und dass er ihn seit der Hinrichtung des Tschechen nicht mehr gesehen hatte. General Karg hörte ihm bedächtig nickend zu und musterte ihn hin und wieder mit gönnerhaftem Blick vom Scheitel bis zu Sohle; schließlich klopfte er ihm freundschaftlich auf die Schulter und sagte: Ich habe Sie für den Goldenen Orden vorgeschlagen."
Dieser Orden allerdings interessiert Apostol Bologa nicht. Er hat einen ganz anderen, dringenden Wunsch, von dem er hofft, dass der General ihn erfüllen möge. Dieser Wunsch ist der besonderen Situation geschuldet, in der sich viele Soldaten, die während des Ersten Weltkrieg auf Seiten Österreich-Ungarns kämpften, wiederfanden: Das Doppelkönigtum umfasste zwar viele Nationalitäten, aber es umfasste eben nicht alle Bürger einer Nation. Und so konnte es passieren, dass sich mit einem Mal Brüder gegenüberstanden: Tschechen, Italiener oder Kroaten fanden sich ob in Galizien, in Tirol oder in Böhmen auf beiden Seiten der Front. Das gilt nun auch für Apostol Bologa, der an die rumänische Front versetzt werden soll, wo er Männern gegenüberstehen würde, die - anders als zum Beispiel General Karg - seine Sprache sprechen.
Die Liebe zu Gott
Schon diese Konstellation macht Rebreanus "Der Wald der Gehenkten" zum einem Sonderfall innerhalb der Weltkriegsliteratur. Neben den militärischen Konflikt tritt sogleich ein Identitäts- und Loyalitätskonflikt. Die große, zeitlose Qualität des Romans liegt freilich in der Art und Weise, wie Rebreanu diesen Konflikt umsetzt, wie er schnörkellos und fast kammerspielartig von diesem Apostol Bologa erzählt, der zu Anfang daran beteiligt ist, einen vermeintlichen tschechischen Deserteur zu verurteilen und an den Galgen zu bringen, um am Ende selbst unter einem solchen zu stehen. Bis dahin aber hat er alle inneren Höllen durchquert, die ein Mensch durchqueren kann. Wie Rebreanu diese Identitäts- und Loyalitätskonflikte entfaltet, ja wie er ihnen noch einen Widerstreit zwischen weltlicher Liebe und der Liebe zu Gott beistellt, ohne seinen vergleichsweise schmalen Roman damit zu überfrachten, ist schlicht erstaunlich. Ihren Anteil an der Wirkung von "Der Wald der Gehenkten" hat auch die Übersetzung durch Georg Aescht. Sie bildet die Sprachwirklichkeit des frühen 20. Jahrhunderts ab, ohne historisierend zu wirken und an Unmittelbarkeit zu verlieren:
"Für einen Augenblick erstarrte der Pfarrer, den Löffel auf den Boden der Tasse gestützt. Dann antwortete er bestimmt, ja feierlich: "Ja … sehr, wie Gott den Herrn! Die Liebe ist eins und unteilbar, ebenso wie der Glaube! Mein Herz umfasst mit derselben Liebe Gott den Herrn und meine Lebensgefährtin und Mutter meiner Kinder! Durch die wahre Liebe gelangen die vereinten Seelen näher an den Thron des Allmächtigen…" Da trat ein so gewaltiges Leuchten in Apostols Augen, dass der Pfarrer Constantin seines Staunens kaum Herr zu werden vermochte."
In den Krieg geraten ist Apostol Bologa, weil er sah, mit welchen Blicken seine Verlobte die an die Front ziehenden Soldaten bedachte. Ein Jahr nach Kriegsbeginn erscheint ihm die Verlobte nicht nur seltsam fern, er hat sich zudem - bezeichnenderweise - in die Tochter eines Totengräbers verliebt. Ganz unstandesgemäß. Zudem ist diese Ilona Ungarin, aber dass sie kein Rumänisch spricht, stört Bologa nicht. Wohingegen die rumänische Verlobte daheim ungarisch spricht, aber gerade durch den Gebrauch dieser Sprache Apostols Zuneigung verliert.
Das Unglück der Zivilisation
Gerade weil das Feld der Identitäten und Loyalitäten so kompliziert ist, sucht Apostol Schutz und Rettung, in dem was einfach erscheint und vermeintlich außerhalb der Reichweite der großen Politik steht, in der Liebe zu Gott und der Liebe zu einem einfachen Mädchen.
"Ich glaube, die Zivilisation hat den Menschen verfälscht und verdorben; der primitive Mensch ist gut und gerecht und gottesfürchtig, deshalb ist er viel glücklicher als der zivilisierte Mensch! Der riesigen Mehrheit der Menschen hat die Zivilisation bisher nichts geschenkt außer dem Krieg, der sie zu Millionen aufeinander gehetzt und Abertausende von Seelen in einer Sekunde umbringt. Die Wohltaten der Zivilisation kommen nur einigen Privilegierten zugute, die an Langeweile und Spleen leiden (…) Mich ekelt die Zivilisation, Hauptmann! Zehntausend Jahre Zivilisation vermögen einen einzigen Augenblick wahren Seelenfriedens nicht aufzuwiegen!"
Gewidmet hat Liviu Rebreanu den Roman seinem Bruder Emil, der, wie es auf dem Vorsatzblatt heißt, "an der rumänischen Front von den Österreichisch-Ungarischen hingerichtet wurde". Angesichts dessen würde man Bitterkeit erwarten; Rebreanu aber macht aus dem Schicksal seines Bruders eine ganz und gar exemplarische Geschichte. Sie zeigt in größter psychologischer Anschaulichkeit, wie die Kämpfe und Verheerungen der äußeren Welt auch die inneren Strukturen zerstören - so der Mensch, wie jener Apostol Bologa empfänglich ist, empfindsam, und bis zu einem gewissen Grad immun gegen die Tendenz zur totalen Verrohung.
Liviu Rebreanu: "Der Wald der Gehenkten"
Aus dem Rumänischen von Georg Aescht
Zsolnay Verlag, Wien.
352 Seiten, 26 Euro.