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Löffler: Grass ist Wortkünstler, Bildkünstler und politisch ambitionierter Intellektueller

Kritikerin Sigrid Löffler hat den Schriftsteller Günter Grass zu seinem 80. Geburtstag gewürdigt. "Günter Grass ist seit einem halben Jahrhundert von Bedeutung für die politische und moralische Selbstverständigung des Landes." Löffler räumte ein, die politischen Interventionen des Autors seien allerdings nicht mehr so wirksam wie früher. Dies erscheine paradox, da seine Präsenz in der Öffentlichkeit ständig zunehme.

Moderation: Christiane Kaess | 16.10.2007
    Kaess: Seit Wochen ist er Thema in Radioprogrammen, Zeitungen und Fernsehsendungen. Aber der Geburtstag ist heute. Günther Grass wird 80 Jahre alt. Dass er fast immer umstritten war, literarisch so wie politisch, das verblasst ein bisschen an diesem Tag der Ehrungen und wie sollte es auch anders sein bei den zahlreichen Werken und Auszeichnungen, allen voran der Literaturnobelpreis im Jahre 1999. Die erste Reaktion des Schriftstellers war damals diese:

    O-Ton Grass: Ja ich habe das noch alles gar nicht, was so gesagt worden ist, gehört. Mich hat heute Vormittag, kurz bevor ich zum Zahnarzt fuhr - da war ich jetzt inzwischen -, vom Sekretär der schwedischen Akademie die Nachricht erreicht und seitdem lebe ich damit. Ich freue mich, freue mich für mich, freue mich für die deutsche Literatur, die nach Heinrich Böll nun mit mir auch mitgeehrt wird, und ich freue mich auch für die Stadt. Die Stadt geht mit mir sehr freundlich um, die Bürger hier, und dann bekommen sie etwas von dem Glanz des Nobelpreises ab.

    Kaess: Günther Grass im Jahr 1999 in Lübeck, nachdem er erfuhr, Dass er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird. - Am Telefon ist jetzt die Literaturkritikerin Sigrid Löffler. Guten Morgen!

    Löffler: Guten Morgen.

    Kaess: Frau Löffler, an den Literaturnobelpreis denkt man natürlich sofort im Zusammenhang mit Günther Grass. Als moralisches Gewissen der Deutschen ist er oft bezeichnet worden und in jüngster Zeit auch bezweifelt worden. Womit verbinden Sie denn Günther Grass?

    Löffler: Er ist eine Doppelbegabung. Er ist einerseits ein Wortkünstler, andererseits ein Bildkünstler und er ist obendrein ein politisch ambitionierter Intellektueller. Für die Intellektuelle, für die politische und die politisch-moralische Selbstverständigung der Bundesrepublik ist er eigentlich seit mehr als einem halben Jahrhundert von Bedeutung. Er hat eigentlich immer auch Anstoß erregt. Er hat sehr viel auch politische Erregungsenergie aufgebracht für sein permanentes Engagement. Grass und die Öffentlichkeit, das ist ja ein Thema seit mehr als 50 Jahren und daneben hat er auch noch dieses ungeheuere Oeuvre geschaffen, ein riesiges Oeuvre, das aber immer auch entlang geschrieben worden ist an der deutschen Zeitgeschichte. Seine Themen reflektieren ja die deutsche Zeitgeschichte und die jeweils politisch aktuellen Debatten. Das gibt ihnen ihre Zeitgebundenheit, prägt ihnen manchmal natürlich auch das Verfallsdatum auf, aber - -

    Kaess: Da sind wir schon, wenn ich mal kurz unterbrechen darf, bei seinem literarischen Werk. Seine frühen Werke haben ja viel Aufsehen erregt, die "Blechtrommel" oder "Katz und Maus" und "Die Hundejahre". Bei den späteren Werken hat die Aufmerksamkeit dann etwas nachgelassen. Was ist denn das Besondere an seinen Veröffentlichungen?

    Löffler: Ich sagte ja eben, Dass er die Zeitgeschichte reflektiert und an der deutschen Zeitgeschichte entlang schreibt, immer die politisch aktuellen Debatten mit einarbeitet in seine Romane. Ich finde nicht, dass die Danziger Trilogie sein größtes Werk ist. Er hat immer wieder mal große Werke geschrieben, die möglicherweise auch bleiben werden, obwohl man das als Zeitgenosse schwer sagen kann. "Das Treffen in Telgte" ist glaube ich ein ganz unvergleichliches Werk. Das ist eine Art Umschrift der Gruppe 47 in die Barockzeit und unter die Barockdichter. Man weiß ja, die Sprachwelt von Günther Grass ist formal jedenfalls das Barock. Seine Sprachwelt ist barock, holzschnitthaft, burlesk. Symboltiere begleiten sein ganzes Werk. Wir kennen den Märchenbutt, die Ratten, die Kröten, die Unken. Alles das hat eine starke Sinnlichkeit. Er kommt von Grimmelshausen her. Also die ganze deutsche Tradition ist da mit drin. Aber die Themen sind immer ganz aktuell: also die Frauenbewegung im "Butt", die Umweltzerstörung in der "Rättin", das Elend in der Dritten Welt in "Zunge zeigen", das deutsch-polnische Verhältnis in den "Unkenrufen", die Wende von 89 in seinem Roman "Ein weites Feld".

    Kaess: Frau Löffler, Sie haben die Rolle der Sprache schon angesprochen. Welche Rolle spielt denn, dass sie vor allem damals als provokativ empfunden wurde? War er da auch Wegbereiter für andere?

    Löffler: Provokativ war nicht so sehr seine Sprache. Seine Sprache hat ihm glaube ich seine große und begeisterte Lesergemeinde eingetragen, weil nämlich Günther Grass sehr leicht lesbar ist. Aber die Provokation lag eigentlich immer darin, dass er politisch Einspruch erhoben hat, dass er versucht hat, den politischen Diskurs mitzubestimmen, dass er sich als Nonkonformist, als Ideologiekritiker, als Sozialkritiker stilisiert hat. Diese Protest- und Einspruchsinszenierungen, die waren es, die die deutsche Öffentlichkeit einerseits immer erregt haben, aufgeregt haben, aber auch zum Widerspruch aufgeregt haben.

    Kaess: Dazu passt ein Zitat von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1959. Da hat er über Grass gesagt, "Grass ist ein Störenfried, ein Hai im Sardinentümpel und ein wilder Einzelgänger in unserer domestizierten Literatur". Das war jetzt die Nachkriegszeit. Hat denn Grass danach an Schärfe verloren, oder ist das einfach einer veränderten Zeit geschuldet?

    Löffler: Ich denke das Verhältnis zwischen Grass und der Öffentlichkeit hat sich doch im Laufe der Jahre entscheidend gewandelt. Es gibt eine Struktur- und Stimmungsverschiebung. Die Streitkoordinaten haben sich auch geändert. Die Fronten sind ja heute nicht mehr so klar und ich denke, dass man mit den Öffentlichkeitsmitteln von Grass, also mit Appellen, Solidaritätsadressen und Unterschriftslisten heute nicht mehr so der Wirklichkeit beikommt. Die Wirksamkeit seiner politischen Interventionen hat - das muss man schon sagen - nachgelassen. Aber trotzdem muss man sagen, dass seine Präsenz immer mehr zunimmt. Das Paradoxon liegt ja darin, dass er bei zunehmender Präsenz eine abnehmende Wirksamkeit hat.

    Kaess: Ist er denn literarisch gesehen so etwas wie eine literarische Instanz auch für junge Autoren heute?

    Löffler: Ich denke er ist da auch ein Einzelgänger geblieben. Ich kenne kaum jemanden, der wirklich sozusagen im Grass-Ton heute noch schreiben würde. Aber das macht ja auch seine Größe und seine Einzigartigkeit aus.

    Kaess: Sie haben das politische Engagement schon angesprochen. Was wäre er denn ohne dieses politische Engagement geblieben, ein einfacher Literat?

    Löffler: Nein. Das kann man doch bei einem Menschen vom Temperament des Günther Grass überhaupt nicht trennen. Seine Leidenschaftlichkeit kommt aus der Politik und sie äußert sich literarisch. Das kann man sicher überhaupt nicht anzweifeln. Es gehört beides bei ihm zusammen, dieses permanente Engagement, diese Lust am Eingreifen und am Mitreden und am Gegenreden. Gleichzeitig macht er das in seinen öffentlichen Statements, aber eben auch in seiner Literatur.

    Kaess: Frau Löffler, es ist nur ein Jahr her: Der Ärger darum, dass Grass zugegeben hat, bei der Waffen-SS gewesen zu sein. Hat man ihm sein spätes Bekenntnis verziehen?

    Löffler: Ich denke das war eine künstlich inszenierte Aufregung. Sie dürfen ja nicht vergessen, dass Grass nie verschwiegen hat, dass er ein fanatischer Flaghelfer gewesen ist. Er hat uns nur verschwiegen, dass er auch bei der Waffen-SS gewesen ist. Aber seine Mitteilungen über seine Vergangenheit waren immer konsistent. Tendenziell hat er uns immer das richtige gesagt. Er hat uns nie in die Irre geführt. Und die Leute - da möchte ich Klaus Steck zitieren -, "wer jetzt sagt, dass Günther Grass als moralische Instanz erledigt sei, für den war er im Zweifel sowieso nie eine".

    Kaess: Günther Grass hat sehr empfindlich auf die Kritik an ihm reagiert. Er hat von einem Niedermachen und einem Ausmaß an Niedertracht gesprochen, wie er es bis dahin noch nicht erlebt habe. Hätte er souveräner damit umgehen sollen?

    Löffler: Man kann ihm vorwerfen, dass er das nicht früher gesagt hat. Das ist aber seine Sache. Er hat es nie wirklich verschwiegen. Er hat uns nie belogen über seine Vergangenheit. Er hat es spät gesagt, aber immerhin er hat es gesagt. Ich denke, dass die jüngeren Leute, die Nachgeborenen, da etwas großzügiger sein sollten. Jedenfalls haben sie kein moralisches Recht, ihn so zu verurteilen, wie es manchenorts geschehen ist.

    Kaess: Ist er überhaupt ein empfindlicher Mensch? Es hat ja zum Beispiel heftige Debatten und Kritik über seinen 1995 erschienenen Roman ein weites Feld gegeben und dann kam es zu dem Skandal, als der "Spiegel" auf seinem Titelbild eine Fotomontage mit dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki zeigte, der das Buch zerriss. Grass hat daraufhin dann dem "Spiegel" wiederum den Abdruck eines von ihm bereits redigierten Gespräches verboten. Ist er ein empfindlicher Mensch?

    Löffler: Ja, natürlich ist er empfindlich. Er hat ein Werk. Er hat eine Leidenschaft. Er tritt an die Öffentlichkeit. Er macht sich verwundbar durch seine Statements. Natürlich ist er empfindlich und ich finde das ist ihm auch in vielen Fällen, wo er zu Unrecht angegriffen wurde, sehr nachzusehen. Es ist verständlich.

    Kaess: Die schwedische Akademie hat 1999 ihre Entscheidung für den Nobelpreis mit den Worten begründet, Grass habe "in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet". Trifft es das?

    Löffler: Ja! Seine Themen waren ja immer die Gegenthemen. Er hat über das geschrieben, was in der Öffentlichkeit oft verschwiegen wurde. Er hat sich sehr ausgesetzt. Er war gegen den Antikommunismus. Er war gegen die Atomrüstung. Er war für Willy Brandts Entspannungspolitik. Er war gegen den Bau der Berliner Mauer. Und - damit hat er sich natürlich auch wieder in die Nesseln gesetzt - er war nach 89 gegen die rasche Vereinigung. Er hat die Vereinigung kritisiert in "Ein weites Land". Er hat auch immer wieder gemeint, dass das ein Ausverkauf der DDR gewesen ist, ein materieller und moralischer Ausverkauf. Er war damit wieder in der Minderheit und aus dieser Minderheit hat er eigentlich durch seine Instanzhaftigkeit und durch seine auch moralische Instanz, die er ja geworden ist, auch eine Mehrheitsmeinung machen können, obwohl er immer als einzelner gesprochen hat und immer ein Nonkonformist gewesen ist.

    Kaess: Aber Sie sind der Meinung er hat etwas bewegt?

    Löffler: Absolut! Andererseits muss man natürlich mit Adorno sagen, "Wie der Intellektuelle es macht, er macht es immer falsch".

    Kaess: Zum 80. Geburtstag von Günther Grass war das die Literaturkritikerin Sigrid Löffler. Vielen Dank!