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LogOut - Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben und andere High-Tech-Ketzereien

Die Vorstellung ist faszinierend: statt stumpfsinnig Vokabeln zu büffeln, spielt man Computerspiele, hat viel Spaß dabei und kann anschließend lässig in Fremdsprachen parlieren. Lustige Computerprogramme nehmen dem Lernen alle Mühsal. Statt des begrenzten Wissens eines einzelnen Lehrers steht den Kindern die unendliche Informationsmenge zehntausender Webseiten mit Bildern, Graphiken, Animationen zur Verfügung. Der Unterricht wird endlich von aller Langeweile befreit. Wissen spielend leicht erworben werden. Vor dieser neuen schönen Lernwelt warnt Clifford Stoll, als einer der Väter des Internet beileibe kein Maschinenstürmer, eindringlich in seinem jüngsten Buch LogOut, denn:

Johannes Kaiser | 03.10.2001
    Die Art von Bildung, die wir vom Computer bekommen können, ist oberflächlich, konzentriert sich auf Information statt auf Verstehen. Die Art von Lernen, die ein Computer fördert, ist, die richtige Antwort zu geben. Man braucht sie nicht zu verstehen, kein Gefühl für Kreativität und Wissen zu entwickeln. Die Liebesaffäre mit dem Computer lässt Schüler denken, dass ein gut anzuschauender Bericht mit professionellen Graphiken wichtiger ist als ein gut recherchierter. Wir sind vom Erscheinungsbild beeindruckt, nicht vom Inhalt. Es ist, als ob Hollywoods Standards des Gutaussehens und der Schönheit auf intellektueller Ebene Einzug gehalten haben.

    Es ist eine Illusion, so Clifford Stoll, zu glauben, man könne mit dem Abschießen von Untertassen das kleine Ein mal Eins lernen. Wer es wirklich beherrschen will, wird um das Auswendiglernen nicht herumkommen. Dasselbe gilt auch für Fremdsprachen. Vokabel- und Grammatikpauken mag stumpfsinnig sein, ist aber unvermeidbar, um eine Fremdsprache beherrschen zu lernen. Lernen ist einfach kein Kinderspiel, sondern harte Arbeit und die Belohnung gibt es oftmals erst sehr viel später.

    Zudem kennt der Computer die Schüler nur sterilen Welten. Nichts wird mehr erfahren, berührt, ausprobiert, erkundet. Statt Schmetterlinge auf der Wiese zu beobachten, holt man sich per Lernsoftware phantastische Nahaufnahmen in Zeitlupe. Die Wirklichkeit wirkt dann fade und langweilig. Physik- oder Chemieunterricht finden nur noch virtuell statt. Virtuelle Bunsenbrenner erhitzen virtuelle Flüssigkeiten. Die Schüler nehmen nichts mehr in die Hand. Dafür schafft die Schule dann ihr Labor ab. Graphikprogramme ersetzen Buntstift und Papier. Musiksoftware statt Flötenunterricht - aus den Kindern werden zwar brillante Bildschirmbastler, aber Tastsinnkrüppel, die weder zeichnen noch musizieren können. Zudem verlernen die Schüler das Lesen, denn die meisten Internet-Seiten bieten Bilder und Graphiken an, um attraktiver zu erscheinen. Die aber lenken vom Text ab. Der Lemeffekt wird durch visuelle Spielereien untergraben. Und weil sich früh übt, was ein Computersüchtiger werden will, werden in den USA bereits Kleinkinder vor den Bildschirm gesetzt:

    Ich finde es beängstigend, dass es Computerprogramme für Kinder unter 5 Jahren gibt. Eines zum Beispiel hatte ein kleines Kaninchen, das wie ein richtiges Kaninchen aussah und es redete mit den Kindern und die antworteten ihm. Statt seine Phantasie anzustrengen und sich eine Persönlichkeit für ein Spielzeug, eine Puppe auszudenken, entwickelt das Kind die falsche Vorstellung, daß ein Kaninchen reden und denken kann. Was für eine schreckliche Sache: das phantasievolle Spiel mit einer Puppe durch einen Roboter, ein sprechendes Tier zu ersetzen. Eine wunderbare Art, die Phantasie zu zerstören." Erz.: Kinder, die vor dem Bildschirm aufwachsen, verlieren zudem ihre soziale Fähigkeit, mit anderen Kindern umzugehen. Daß die Fähigkeit zu zwischenmenschlichen Kontakten mit wachsendem Internetkonsum verkümmert, zeigen mehrere amerikanische Studien, die Clifford Stoll in seinem Buch zitiert:

    Wir mögen keine Kommunikation mehr von Angesicht zu Angesicht. Statt zusammenzuarbeiten, sind wir wirklich gut darin geworden, uns zu isolieren. Man findet Arbeitsplätze, an denen sich die Leute E-Mails schicken, obwohl sie nur zehn Meter voreinander entfernt sitzen. Das Internet fördert Schüchternheit. Einige Psychologen haben eine sehr gründliche Studie über die psychologischen Aspekte der Intememutzung durchgeführt. Dabei stellte sich heraus, daß wir, je mehr Zeit wir vor einem Computer verbringen, desto deprimierter werden. Jede Stunde, die diese Leute online verbrachten, stieg die Depressionsrate um 1%. Bei jemandem, der 10- 20 Stunden in der Woche online verbrachte, war die Wahrscheinlichkeit, das er depressiv wurde, 10-20mal größer. Ein verrücktes Ergebnis. Da gibt es ein Medium, das uns eher anspornt allein und deprimiert zu sein als glücklich und aktiv.

    Wen diese inhaltlichen Gründe nicht überzeugen, für den hat Clifford Stoll aber auch einige wirtschaftliche Argumente dafür parat, warum Computer in Klassenzimmern nichts zu suchen haben. Im Unterschied zu Büchern veralten Computer rasend schnell. Ihre Speicher, ihre Chips, ihre gesamte Hardware ist bereits nach fünf Jahren überholt. Neue Software läuft auf alten Modellen nicht mehr. Techniker müssen sich zudem ständig um Reparatur, Wartung, Netzwerke kümmern. Computer und vor allem Laptops sind empfindlich. Sie vertragen keine Cola im Gehäuse oder Kopfnüsse, dürfen nicht runterfallen, stürzen leicht ab. Sie nehmen viel Platz in Anspruch, brauchen Extrazimmer, sind vergleichsweise teuer. Wer Computer anschafft, muß Lehrer entlassen. Und da schließt sich der Kreis. Zu kreativem Denken kann die Schülern nur ein Lehrer erziehen. Als Informationsbeschaffungsmaschine mag der Computer perfekt und unschlagbar sein. Als Lemwerkzeug, als Denkersatz taugt er nichts. Doch auch die besten Argumente werden den Siegeszug des Computers im Bildungswesen nicht mehr stoppen. Dafür dürfte es bereits zu spät sein.