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Lola Randl: "Der große Garten"
Bienen, Blumen, heimliche Liebhaber

Kaum fiktional kaschiert erzählt Lola Randl von ihrem Leben in der berühmten Utopisten-Siedlung Gerswalde, nur eine Autostunde von Berlin-Mitte entfernt. Mit freundlicher Verwunderung beobachtet sie die Neurosen ihrer Mitmenschen in der Natur und klingt dabei wie Thomas Bernhard, nur fröhlicher.

Von Katrin Schumacher | 11.06.2019
Zu sehen ist die Autorin Lola Randl und das Cover ihres Romans "Der große Garten".
Einerseits bei der Mutter in einer Landkommune, andererseits beim Vater in verschiedenen Städten ist sie aufgewachsen: die Filmemacherin und Autorin Lola Randl (Autorenfoto: Privat/ Cover: Mattes & Seitz)
Der Sturm heißt Xavier, kommt aus dem Norden und trifft Gerswalde, diesen komischen kleinen Kosmos in der Uckermark. In dem die Drehbuchautorin und Regisseurin Lola Randl mit ihrem Mann lebt, mit ihren beiden Kindern, ihrer Mutter und ihrem Liebhaber, mit den alteingesessenen Bewohnern wie etwa Irmi und Hermann und dem Dorfchronisten und mit vielen neuen Menschen aus der Stadt, die hierhin gekommen sind, um für kurz oder lang vom Dorfleben zu kosten. Gerswalde ist berühmt. Ein Monte Verità der urbanmüden und sinnsuchenden Kreativstädter, berühmt spätestens seit im vergangenen Jahr Lola Randls Film "Von Bienen und Blumen" Premiere hatte – ein Porträt des Lebens in Gerswalde, im Fokus sie selbst und ihre verwickelten Beziehungen. Dorf und Deutungen. Als Film ein spöttischer Spaß, als Roman noch besser: "Der große Garten" nimmt sich der Utopistensiedlung literarisch noch einmal an.
"Meine Mutter schüttelt den Kopf über mein Vorhaben, ein Gartenbuch zu schreiben. Besser als jeder andere weiß sie, dass ich viel zu wenig Geduld für den Garten habe. Ich habe ihr gesagt, mein Analytiker hätte gesagt, dass ich das tun soll, aber ich bin unsicher, ob sie es glaubt."
Rhabarbermarmelade vom heimlichen Liebhaber
Natürlich hat der Analytiker der Ich-Erzählerin nicht zu einem Buch geraten, überhaupt ist er eine windige Gestalt, schickt ab und an Handyfotos seines Gemächts und ist eine der libidinösen Beziehungen der Ich-Erzählerin. Die ist in eine Künstlerin verliebt, hat nicht nur einen Mann, neben dem sie nachts einschläft, sondern auch jenen Liebhaber, den sie im Haus an der Kurve besucht, wenn sie die Kinder wegorganisiert bekommt.
"Der Liebhaber hat mir Rhabarbermarmelade gekocht. (...) Eigentlich macht die Irmi die beste Rhabarbermarmelade im Dorf, wobei ich glaube, dass eigentlich der Hermann die Marmelade macht und Irmi nur die Aufkleber draufklebt. Ein Glas von der Rhabarbermarmelade des Liebhabers habe ich mit nach Hause genommen. Der Mann findet die Rhabarbermarmelade mal wieder sehr lecker. Er macht sich sein Brot, getoastet mit Butter, Frischkäse und Rhabarbermarmelade und merkt gar nicht, dass gar kein Aufkleber auf dem Glas ist."
Das Dorf weiß alles
Auch wenn die Zeiten auf Libertinage stehen, die Kommune und das postkapitalistische Bewußtsein eine gewisse sexuelle Freiheit mit sich bringen: So ganz traut sich die Erzählerin nicht, ihre Verhältnisse offen zu leben. Es will doch der Schein gewahrt werden im Dorf, das immer wach und wachsam ist.
"Das Dorf weiß alles, ihm entgeht nichts, nichts ist gering genug, um nicht beachtet zu werden. (...) Das kollektive Unterbewusstsein in einem Dorf ist groß und da passt viel hinein."
Und so wird die Hintertür benutzt, um zum Liebhaber im Haus an der Kurve zu kommen, da hat selbst jeder, der es sieht, die Möglichkeit, es zu übersehen. Nur manchmal wird es Einzelnen zu bunt, etwa der Nachbarin, wenn sie wieder auf die Kinder aufpassen soll, und nicht mal eine Schachtel "Merci" dafür bekommt.
Trend zur literarischen Landlust
Das Dorf und seine Dynamiken, Verheißungen und Limitierungen. Literarische Näherungen des Berliner Umlands sind im Trend. Mit unterschiedlichen Mitteln: menschenfreundlich und fröhlich wie in Sasa Stanisics fantastischem Buch "Vor dem Fest" von 2014, ikonisch gradezu Juli Zehs Windparkroman "Unterleuten", und eben erst ist in dieser Saison erschienen ist Sarah Khans Erlebnisbericht "Wochenendhaus". Mit ganz unterschiedlichem Sympathiegrad sind die Protagonisten ausgerüstet – was Lola Randls Buch so besonders macht, ist die stete Verquickung von Naturbeobachtung, Eigenbeobachtung und der Blick aufs große Ganze.
"Meine Mutter hat sofort gesehen, dass der Liebhaber den Hühnern Legekorn gegeben hat, und erzählt es allen beim Abendessen. Ich versuche zu erklären, dass die Hennen aus dem Geflügellaster das selbst so wollen, weil sie an das Legekorn gewöhnt sind. (...) Später im Bett habe ich doch ein schlechtes Gewissen wegen dem Legekorn. Wegen meiner Ungeduld wird der Urwald abgeholzt und Soja angepflanzt und in Legekorn verwandelt, nur damit ich schneller ein größeres Ei bekomme. Dabei benutzen doch alle im Dorf Legekorn."
Thomas Bernhard in fröhlich
Ein Jahr wird beschrieben im Roman, beginnend beim Pastinakenfeld im Winterfrostboden, endend bei zwanzig weißen Kranichen vor Winterlandschaft. Dazwischen schießt der Frühlings-Schnittlauch, blüht der Pfirsich, werden die Schafe geschoren und das Rosinenbrot gebacken, der Sturm überstanden und der Agapanthus umgetopft. Doch das Gartenjahr ist nicht das einzige Ordnungsprinzip des Romans. Er ist in viele kleine Abschnitte mit kurzen Überschriften eingeteilt, zu finden von A bis Z im Glossar, von "Apfeltag", "Maulwurf I bis IV", "Wiese", "Wolle" bis "Zucker". Die literarische Kamera ist jeweils auf einen Ausschnitt gerichtet, und nicht nur dieses Gestaltungsprinzip scheint Lola Randl von ihrer Filmarbeit übernommen: die Regisseurin des Romans weiß genau, wie sie ihre Beobachtungen einleuchtet. Und den Fokus auf das Skurrile im Alltag richtet. Sie nutzt kurze Sätze für lang nachhallende Gedanken. Nutzt Wortwiederholungen, die an Thomas Bernhard erinnern, in fröhlich wohlgemerkt. Dieser Roman lässt immer wieder laut lachen, vor allem, wenn Menschen beobachtet werden. "Projektmenschen" etwa, wie die zwei Japanerinnen, die ein Spezialitätencafé im Haus der Erzählerin betreiben, dort Matcha-Cake und eingelegte Pilze an die vielen Tagestouristen bringen. Oder der Kommunikationsdesigner, der wegen der Japanerinnen ins Dorf gekommen ist und nun dort ein bisschen eine Risografie-Druckerei betreibt, am liebsten aber mit Ultraleichtem Gepäck wandert und das auf Youtube dokumentiert. Das wiederum zieht eine Spaziergangswissenschaftlerin an.
"Die Frau, die im Internet vom Design-Thinking des Kommunikationsdesigners auf den Dorf gehört hatte, hielt zwei Judasohren in der Hand, ein besonderer etwas glipschiger Pilz, den sie am Holunderbaum gefunden hatte und seitdem stolz mit sich herumtrug. Dem Kommunikationsdesigner konnte sie damit durchaus imponieren, denn als Japan-Fan kannte er diesen Pilz sehr gut, der wegen seiner dem Quallensalat nicht unähnlichen Gnurpscheligkeit vor allem im asiatischen Raum beliebt ist. Die beiden blieben stehen und machten jeweils ein Foto von den Judasohren, das sie vielleicht später posten würden, wobei sie durchaus kritisch gegenüber Facebook waren. Eigentlich hatten sie sich vorgenommen, die Sachen lieber nur noch wirklich zu erleben und nicht zu posten, aber die Judasohren waren einfach zu gut."
Zuckrig-philosophische Konsumkritik
Wie ein Pilz wächst auch das Dorf, gedüngt vom Hörensagen und von Internetposts, Ausgerüstet allerdings auch mit Geschichte, denn die Zeiten sind mit Gewalt über den uckermärkischen Flecken gekommen. Lola Randl lässt die Historie auftreten in kurzen Kapiteln etwa über das anthroposophische Kinderheim, das zum Jugendwerkhof wird oder die Tauschwirtschaft in der DDR.
Oft ist es einfach ein Schlussgedanke, der eine vermeintliche Kinderbucherklärung noch mal mitnimmt ins Konsumkritische, ins Philosophische oder allzu Menschliche.
"Wenn in der Natur einer will, dass ein anderer etwas für ihn tut, dann lässt sich der andere meistens mit Zucker bezahlen. Das ist so, weil Zucker nahrhaft ist und auch noch sehr gut schmeckt. Zucker ist voller Energie, und die kann man dann verwenden, wie man will. Man kann sich fortbewegen, Nachkommen herstellen oder auch einfach nur weiterwachsen. Obstbäume stellen als Gegenzug für die Befruchtung Nektar bereit und Kirschen werden süß, damit Vögel sich für sie interessieren und die Kerne kilometerweit mitnehmen. Zucker ist das Geld in der Natur. Die Menschen wollen jetzt allerdings lieber auf Zucker verzichten."
Freundliche Verwunderung
Kein Spott ist das, sondern freundliche Verwunderung über die Mechanismen und Neurosen der Menschen in der Natur. Beides setzt Lola Randl verblüffend in Beziehung. Nicht nur, wenn sie mit Ironie natürliche Prozesse und das Menschlich-Soziale aufeinanderlegt. Sondern auch dann, wenn sie der Natur liebevoll einen Plan unterstellt.
"Das Rauschen, wenn der Wind durch die Blätter und Gräser weht, ist ein anderes geworden. Die Säfte haben sich zurückgezogen oder sind verdunstet und die getrockneten Halme der Gräser mit den vollen Ähren schlagen aneinander. Wahrscheinlich ist genau das ihr Plan, denn dabei fallen die Samen ab und auf den Boden, wo sie nächstes Jahr als neue Pflanzen ihr Glück versuchen wollen. Das Rauschen wird als Ton wahrgenommen, ist aber in Wirklichkeit ein Gemisch aus unzähligen einzelnen Tönen, die dann zusammen das Rauschen ergeben. Dabei steht es jedem Blatt und jedem Halm frei, welche Art von Ton es oder er beitragen will zur großen Symphonie."
So schön hat vielleicht noch nie jemand die Weiden im Wind stehen lassen.
Lola Randl: "Der große Garten"
Matthes & Seitz, Berlin. 320 Seiten, 22 Euro