Donnerstag, 28. März 2024

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Lorenz Jäger: "Beschädigte Schönheit"
Über den ästhetischen Blick auf Handicaps

Empowerment - wörtlich übersetzt Ermächtigung - soll eine argumentative oder praktische Hilfe sein, eine Motivation, um die eigene Position zu stärken, zu verändern oder sogar umzukehren. Der "FAZ"-Redakteur Lorenz Jäger will die weit gefasste Gruppe der Behinderten ermächtigen. Sein Essay über die Ästhetik des Handicaps trägt den Titel "Beschädigte Schönheit". Jäger beginnt mit Vulkan, dem hinkenden griechischen Gott, der die schönste aller Göttinnen, Venus, zur Frau hatte. Und endet mit der selbstbewussten Inszenierung von Handicaps bei den Paralympics 2012.

Von Norbert Seitz | 20.04.2015
    "Schielend war er, und lahm am anderen Fuß; und die Schultern / Höckerig, gegen die Brust ihm geengt; und oben erhob sich / Spitz sein Haupt, auf der Scheitel mit dünnlicher Wolle besäet."
    In der Antike bei Homer kommen körperliche Behinderungen nicht gut weg, wie diese lyrische Rede über Tersites in der "Ilias" beweist. Der Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Lorenz Jäger, stellt in seiner "kleinen Geschichte" zunächst dar, wie das klassische ästhetische Ideal körperliche Abweichungen ablehnt:
    "Der Mythos gibt zumindest mal an, wo der Ausgangspunkt ist, wo es herkommt und da ist eben Tersites ein ganz übler Bursche, der eben aus einem Innen und einem Außen besteht. Also einer, der hinkt, einen Buckel hat und schielt, der muss folglich konsequenterweise ein Feigling sein, einer, der die Helden beschimpft. So ungefähr ist der Stand vor dreitausend Jahren beim Trojanischen Krieg."
    In der frühen Neuzeit allerdings ändert sich der ästhetische Blick auf körperliche Handicaps. Dichter und Philosophen entdecken das schöne Hinken, das zu pikanten Projektionen einlädt.
    "Ein Mann liest bei Brantome von den erotischen Qualitäten der Hinkenden und beschließt daraufhin, seiner Geliebten das Bein zu brechen. Er will unbedingt mit seiner Marion die Erfahrung dieser Geschöpfe machen."
    Jäger: "Die frühe Neuzeit interessiert sich jetzt vor allem fürs Paradoxe. Und so haben wir ab 1600 eine Welle von Gedichten, Sonetten, die Schönheitsfehler verherrlichen. Das fängt an beim Hinken, das geht weit über das Schielen, die Einäugigkeit, die Windpockennarben, die Blinde, die Bettlerin, die Bucklige, die Zwergin."
    Im 18. Jahrhundert wird das Paradox verstetigt und damit um seine intellektuelle Schärfe gebracht. Wie Lorenz Jäger formuliert:
    "Das spielt sich ein, das wird selbstverständlich. Die Pointe lautet dann meistens: Deine Mutter war Venus, man sieht`s ja, du bist wunderschön; und dein Vater war Vulkan, man sieht`s auch an deinem Gang. Das ist verfügbar geworden."
    Nicht nur das Hinken, auch das Schielen erfährt allmählich eine literarische Verklärung. Der antike Mythos wird verabschiedet, stattdessen bemüht man sich um eine neue erotische Sensibilität. So auch Baudelaire:
    "Ihr Auge schielt, doch wunderbar ist ihres Blickes
    Berührung, der in Wimpernpracht das Herz entflamm."
    Jäger: "Der französische Ausdruck dafür lautet ja 'Koketterie des Auges': Offensichtlich kann man dahinter einen Liebesblick sehen; beim Höhepunkt verlieren ja auch die Augen ihre Achse. Also die Blicke sind ja wie Flammen."
    Schließlich entdeckt der Autor bei Victor Hugo ein neues Moment: die Toleranz einer christlichen Ästhetik. In Hugos Manifest "Préface de Cromwell" von 1827 heißt es:
    "Wie das Christentum wird nun die Muse der Modernen die Dinge mit einem höher und weiter reichenden Blick erfassen. Sie spürt, dass in der Schöpfung nicht alles im menschlichen Sinne schön ist, dass es Hässliches gibt neben dem Schönen, Missgestaltetes dicht beim Anmutigen, Groteskes hinter dem Erhabenen, Schlechtes zugleich mit dem Guten, Schatten mit dem Licht."
    Jäger: "Also die christliche Ästhetik hat eine größere Toleranz gegenüber dem Grotesken, als es die klassische Ästhetik hatte. Und unter grotesk verstand er alle Formen und Normenabweichungen. Man weiß ja Quasimodo, der bucklige Glöckner von Notre-Dame! Und er versucht, es auf den Begriff zu bringen, er spricht von der beschädigten Schönheit selbst, das hält er für ein ganz großes Sujet der Moderne."
    Lorenz Jäger geht es in seinem gut und vergnüglich geschriebenen Essay nicht um das Egalitätsprinzip oder das Recht auf Inklusion, sondern um eine ästhetische Faszination am Handicap.
    "Ich versuche sozusagen, entweder unterhalb der Messlatte der Inklusion zu bleiben oder sie soweit zu überspringen, dass sie es nicht mal merken, also mich mit Ausweichen damit auseinanderzusetzen, durch andere Ansätze, durch eine andere Methode, durch eine andere Frage."
    Der Autor wirkt angetan davon, dass heutzutage Modeschöpfer auch beinamputierte Models mit Glitzerprothesen über den Laufsteg schicken:
    "Das hat sich nun wirklich revolutionär gedreht, in dem Sinne, dass wir seit etwa fünfzehn Jahren eine Welle haben von Ästhetisierung der Behinderung, sei es, dass das soziale Netzwerke sind, die das machen, seien es die Paralympics, die letzten in London, die da deutlich einen ästhetischen Akzent gesetzt haben gegen den moralisierenden inklusionistischen Ansatz oder sei es die Modeindustrie, die Videoindustrie."
    Jäger nennt etwa die Schlusszeremonie der Paralympischen Spiele von 2012, als das beinamputierte lettische Model Viktoria Modesta mit einer kaum mehr kosmetisch kaschierten Prothese tanzte.
    "Das ist eine Entwicklung, wo ich die Umkehrung sehe, ein Empowerment der Behinderten. Das ist eine völlige Veränderung des Blicks und insofern habe ich dann diesen Schlusssatz geschrieben: 'Eine Revolution braucht manchmal dreitausend Jahre, wenn man sie von Tersites her denkt.'"
    Strenge Kritiker dürften diesem gnadenlosen Ästhetizismus vermutlich eine konservative bis reaktionäre Sichtweise attestieren. Doch Lorenz Jäger hält die Selbstästhetisierung von Behinderten ihrerseits für einen Befreiungsakt, da das angeschaute Objekt von der Antike bis zur Neuzeit kein "eigenes Mitspracherecht" besessen habe.
    "Die Lage der Gegenwart kann man in eine knappe Formel fassen: Was nun dominiert, ist ein grundsätzlicher Blickwechsel, der sich mit der Geste des 'Ich bin es selbst' beschreiben ließe."
    Lorenz Jäger: "Beschädigte Schönheit. Eine Ästhetik des Handicaps"
    Verlag Dietrich zu Klampen, 128 Seiten, 16 Euro. ISBN: 978-3-866-74232-1