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Lothar Lienicke / Franz Bludau : Todesautomatik. Die Staatssicherheit und der Tod des Michael Gartenschläger an der Grenzsäule 231

Anlässlich des 40. Jahrestages des Mauerbaus bietet die 'Politische Literatur' einen wenn auch naturgemäß unvollständigen Überblick über Literatur zu diesem Thema. In diese Umschau haben wir diesmal bewusst auch Bücher aufgenommen, die schon etwas länger am Markt sind - denn zahlreiche wichtige und lesenswerte Publikationen erschienen bereits 1999 zum 10. Jahrestag des Mauerfalls.

Karl Wilhelm Fricke | 13.08.2001
    Dass auch heute noch neue Erkenntnisse zur Geschichte der Mauer und die ihrer Opfer möglich sind, belegt schon das erste Buch, das wir Ihnen heute vorstellen möchten. Es beschäftigt sich mit einem der spektakulärsten Todesfälle an der innerdeutschen Grenze, dessen Hintergründe lange ungeklärt waren. Und obwohl der besagte Vorfall schon ein Vierteljahrhundert zurückliegt, ist er doch ein Exempel dafür, wie sehr das Trauma "Mauer" und besonders die Täter/Opfer-Problematik noch in unsere Gegenwart hineinreicht.

    Michael Gartenschläger - ein deutsches Schicksal: Das mag pathetisch anmuten, aber im Leben und Sterben dieses Mannes, der nur 32 Jahre alt geworden ist, spiegelt sich Zeitgeschichte so kontrastreich wie selten wider. Jugendlicher Protest gegen die DDR-Zwangsmaßnahmen vom 13. August 1961, lebenslänglich Zuchthaus für den Siebzehnjährigen, Freikauf nach zehn Jahren DDR-Haft, Einsatz als Fluchthelfer, Demontage und Zerstörung von Schussautomaten SM 70 am DDR-Grenzzaun, Tod an der innerdeutschen Grenze - welch ein Schicksal!

    In den Abendstunden des 30. April '76 hat der in Hamburg wohnhaft gewesene Michael Gartenschläger in Begleitung der Herren Lienicke und Uebe die Grenze zur DDR bei Bröthen, Kreis Herzogtum Lauenburg, aufgesucht, um an den Grenzbefestigungen der DDR ein Selbstschussgerät SM 70 zur Detonation zu bringen. Sie wissen, dass es Herrn Gartenschläger bereits am 30.3. gelungen war, ein solches Gerät zu demontieren. Die Presse hat darüber ausführlich berichtet.

    Karl Herold, Parlamentarischer Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium, in einer Fragestunde des Deutschen Bundestages fünf Tage nach den tödlichen Schüssen auf Michael Gartenschläger:

    Nach Angaben seiner beiden Begleiter robbte er zum Grenzzaun, der sich in etwa 40 m Tiefe hinter der Grenze befindet. Als Gartenschläger etwa 15 m vom Metallgitterzaun entfernt war - also schon auf dem Gebiet der DDR -, eröffneten Grenzsoldaten der DDR, die sich nach bisherigen Feststellungen diesseits des Metallgitterzauns zwischen Grenze und Zaun befanden und vermutlich Herrn Gartenschläger erwartet hatten, auf ihn das Feuer aus Maschinenwaffen. Herr Gartenschläger brach zusammen und ist nach einer ADN-Meldung inzwischen verstorben.

    Herolds Schilderung entsprach dem damaligen Erkenntnisstand. Heute ist durch Stasi-Akten belegt, was seinerzeit nur Vermutung war: Ein Einsatzkommando der Staatssicherheit, informiert durch einen Inoffiziellen Mitarbeiter aus Gartenschlägers Umfeld, hatte ihm und seinen Freunden befehlsgemäß aufgelauert. Ein todbringender Hinterhalt. Geschildert und dokumentiert wird das dramatische Geschehen in dem hier vorzustellenden Buch "Todesautomatik" von Franz Bludau und Lothar Lienicke. Letztgenannter, ein Freund Gartenschlägers, hat selber an der tollkühnen Aktion mitgewirkt. Ein Beteiligter als Ko-Autor also. Ohne Frage taten er und Bludau gut daran, die Geschichte des Michael Gartenschläger in detaillierter Ausführlichkeit nachzuzeichnen und gezielt zum 40. Jahrestag des 13. August 1961 vorzulegen - im Selbstverlag. Kein Verleger wollte ihr Buch auf den Markt bringen. Die Memoiren ehemaliger Stasi-Generäle lassen sich besser vermarkten als die Erinnerung an ihre Opfer.

    Michael Gartenschläger wurde 1944 in Strausberg bei Berlin geboren. Hier erlebte er als Autoschlosserlehrling die Sperrmaßnahmen vom 13. August - deprimiert und empört zugleich. Er und vier Freunde - sie hatten sich als Rock'n'Roll-Fans und Ted-Herold-Schwärmer zur Clique zusammengefunden - beschlossen spontan, dagegen anzugehen. Sie malten in Strausberg Parolen an Mauern und Wände, "SED - nee", "Heute rot - morgen tot", "Macht das Tor auf", sie schmiedeten dilettantische, nie ausgeführte Pläne zur Mischung von Sprengstoff, sie ließen eine Scheune in Flammen aufgehen. Ein fatales Fanal. Binnen weniger Tage waren sie festgenommen. Die Staatssicherheit, die sie in Untersuchungshaft nahm, brandmarkte sie als "konterrevolutionäre Bande".

    Schon am 13. September 1961 hatten die fünf sich vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Frankfurt/Oder zu verantworten. Die Hauptverhandlung wurde als Schauprozess im Kulturhaus der Nationalen Volksarmee in Strausberg inszeniert. Die SED wollte ein abschreckendes Exempel statuiert wissen. Auszug aus der Anklageschrift:

    Während die Mehrheit der jungen Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik getreu den Geboten der sozialistischen Moral in den Reihen der Nationalen Volksarmee und der übrigen Sicherheitsorgane mit der Waffe in der Hand den Aufbau des Sozialismus verteidigt, waren die Beschuldigten bereit, mittels konterrevolutionärer Maßnahmen die Geschäfte des Klassenfeindes zu betreiben. Sie haben sich als Feinde der Arbeiterklasse, als Feinde von Partei und Regierung entlarvt; sie sind auf dem Dunghaufen der Geschichte gelandet und haben sich wegen eines Staatsverbrechens zu verantworten.

    Nach zwei Verhandlungstagen fällte das Gericht sein Urteil: Lebenslänglich Zuchthaus für die Hauptangeklagten Michael Gartenschläger und Gerd Resag, beide 17-jährig, im übrigen Strafen zwischen sechs und 15 Jahren. Für fünf junge Menschen folgten gnadenlose Zuchthausjahre in Torgau und Brandenburg-Görden. Als Letzte kehrten Gartenschläger und Resag in die Freiheit zurück, am 5. Juli 1971, nach zehn Jahren, dank Freikauf durch die Bundesregierung.

    Während sich Resag einem Studium widmete, entschied sich Gartenschläger, erbittert und voller Ressentiments, von Hamburg aus, seinem neuen Wohnsitz, erneut gegen das Regime der SED aktiv tätig zu werden - zunächst als Fluchthelfer. Gemeinsam mit Gleichgesinnten verhalf er unter Nutzung des Transits im Berlin-Verkehr und über Drittländer 31 Menschen zum Verlassen der DDR. Fluchthilfe als Widerstand. Bludau und Lienicke schildern dies alles ausführlich, eingebettet in zeitgeschichtliche Zusammenhänge, so dass, wer das Buch liest, ein lebendiges Bild des damaligen DDR-Grenzregimes gewinnt. Mit geradezu zwingender Folgerichtigkeit hatte Gartenschläger schließlich die Idee, einen jener Schussautomaten zu beschaffen, die seit 1970 an den Streckmetallgitterzäunen entlang der innerdeutschen Grenze montiert waren. Das gelang ein erstes und ein zweites Mal. Gemeinsam mit Lothar Lienicke und Wolf-Dieter Uebe riskierte er in der Nacht zum 1. Mai 1976 die Entschärfung eines weiteren Gerätes. Dabei fand er den Tod. Ein Stasi-Spitzel in Hamburg hatte den Coup verraten.

    Seine nicht unumstrittene Aktion und sein tragischer Tod erregten bundesweit Aufsehen. Die Bonner Regierung rügte die Reaktion der DDR als "völlig unangemessen und unmenschlich", bescheinigte Gartenschläger aber auch "ein unverantwortliches Risiko". In der eingangs erwähnten Fragestunde im Bundestag richtete der Abgeordnete Walter Becher (CSU) daher folgende Frage an Staatssekretär Herold:

    Herr Staatssekretär, könnte sich die Bundesregierung nicht dazu entschließen zuzugeben, das Risiko, das Herr Gartenschläger und ähnliche, die die Existenz der Mordwaffen gegenüber der Öffentlichkeit aufdecken wollen, zwar ein Risiko, aber keineswegs unverantwortlich, sondern im Dienste der Freiheit und des Hinweises auf die Not in Deutschland sogar in höherem Sinne äußerst verantwortlich ist und dass wir uns davor verneigen und das nicht noch kritisieren sollten?

    Erst 1984 schaffte die DDR die Selbstschussgeräte ab - ein humanitäres Zugeständnis, erkauft durch einen Milliardenkredit. Die Geschichte des Michael Gartenschläger wäre damit eigentlich zu Ende - eigentlich. Sie hat gerichtliche Nachspiele, die bis in die Gegenwart reichen. Als seine Schwester eine strafrechtliche Rehabilitierung erwirken wollte, erzielte sie nur einen Teilerfolg. Zwar erklärte das zuständige Rehabilitierungsgericht das seinerzeitige Urteil des Bezirksgerichts Frankfurt/Oder als rechtswidrig, aber aufgehoben wurde es nur, soweit Gartenschläger zu mehr als drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Die fragwürdige Begründung:

    Die Verurteilung wegen Diversion und staatsgefährdender Gewaltakte ist einer Rehabilitation nicht zugänglich. Brandstiftung und Herstellung von Sprengstoffen überschreiten das Maß dessen, was angesichts der Gesamtlage an 'Widerstand' vernünftigerweise geleistet werden durfte.

    Nachzutragen bleibt weiter, dass drei der Todesschützen im Fall Gartenschläger durch Urteil des Landgerichts Schwerin freigesprochen wurden. Auch dies wird akkurat dokumentiert. Entstanden ist ein Buch, das betroffen macht. Der Sachverhalt, gut recherchiert, wird eindringlich geschildert. Die wiedergegebenen Materialien, Gerichtsurteile, Stasi-Befehle und Operativ-Pläne, sind authentisch. In der Form wählten die beiden Autoren eine Mischung aus Report, Dokumentation und Rechtfertigungsschrift. Leider haben sie eine Reihe von Namen verfremdet, ohne dies zu kennzeichnen. Allzu häufig auch liest sich ihre Darstellung wie ein Groschenheft-Krimi, sprachlich salopp bis kitschig trivial. Trotzdem: ein glaubwürdiges, ein notwendiges Buch. Es erinnert an die Schrecknisse des Kalten Krieges im geteilten Deutschland und bewahrt das Andenken an einen Mann, der sein leidenschaftlichen Aufbegehren gegen die Diktatur der SED mit dem Leben bezahlt hat.

    Karl Wilhelm Fricke über Lothar Lienicke / Franz Bludau: Todesautomatik. Die Staatssicherheit und der Tod des Michael Gartenschläger an der Grenzsäule 231. Erschienen im Selbstverlag Lothar Lienicke , Hamburg, 456 Seiten, DM 49,50. Das Buch besitzt eine ISBN-Nummer und ist somit über den Buchhandel zu beziehen. In diesem Zusammenhang ein Hinweis auf ein Taschenbuch aus dem Berliner Aufbau-Verlag, das sich gleichermaßen kompakt wie kompetent mit der Geschichte der innerdeutschen Grenze von 1945 - 1990 beschäftigt. Sein Autor, Dietmar Schultke, leistete seinen Grundwehrdienst selbst in den DDR-Grenztruppen ab - und insofern gilt den Verhältnissen innerhalb der Grenzkommandos auch sein besonderes Augenmerk: der gegenseitigen Bespitzelung, den zahlreichen Selbstmordfällen unter jungen DDR-Grenzern, der ständig perfektionierten und technisierten Menschenverachtung. Zudem ist das 208 Seiten starke Buch ein faktenreiches aber dennoch gut lesbares Nachschlagewerk, wenn es um Daten und Statistiken zur deutsch-deutschen Grenze geht. Dietmar Schultke: Keiner kommt durch. Die Geschichte der innerdeutschen Grenze 1945 - 1990 - erschienen im Aufbau-Verlag Berlin zum Preis von 19,90 DM.