Mittwoch, 24. April 2024

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Loveparade-Prozess
"Unser Strafrecht ist kein Genugtuungsstrafrecht"

Die Einstellung des Verfahrens gegen sieben Angeklagte müsse für die Opfer unbefriedigend sein, sagte der Jurist Thomas Fischer im Dlf. Man müsse bei der Bewertung jedoch zwischen allgemeiner Verantwortung und strafrechtlicher Schuld unterscheiden - und die sei bei den Angeklagten zu gering gewesen.

Thomas Fischer im Gespräch mit Dirk Müller | 06.02.2019
    Holzkreuze mit Namen der Opfer stehen auf einer Treppe auf dem Gelände der Loveparade-Gedenkstätte in Duisburg
    Das Verfahren gegen sieben Angeklagte im Loveparade-Prozess ist eingestellt (dpa/ Monika Skolimowska)
    Dirk Müller Gegen sieben Angeklagte wird der Prozess eingestellt, gegen drei läuft er weiter, und das auf eigenen Wunsch. Wir reden über die Loveparade, eine menschliche Katastrophe, bislang ohne Urteil neun Jahre nach den Ereignissen. Am Telefon ist nun Professor Doktor Thomas Fischer, viele Jahre Vorsitzender am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, der sich immer sehr kritisch und sehr meinungsfreudig mit dem deutschen Rechtssystem auseinandersetzt.
    Thomas Fischer: Hallo Herr Müller, guten Tag!
    Müller: Herr Fischer, die Entscheidung in Düsseldorf – ist Aufregung Bürgerpflicht?
    Fischer: Nein. Kleine Korrektur: Entscheidung in Duisburg meinen Sie sicher. Nein, Aufregung ist natürlich nicht Bürgerpflicht, obwohl sie gerade in diesem Fall verständlich ist, also die Öffentlichkeit, also die Bürger, die Sie ansprechen, nehmen natürlich spontan meistens Stellung für die Opfer von solchen Katastrophen und von Straftaten. Das ist auch in diesem Fall so und die Opfer können einem ja nun wahrlich leidtun und die Hinterbliebenen auch. Für die ist ein solches Ergebnis fast zwangsläufig unbefriedigend, weil selbst, wenn man sagt, es geht mir nicht um Rache, sondern nur um Feststellung, ist ja doch das Bedürfnis in der Regel sehr groß, zumindest zu sagen, jemand muss doch verantwortlich sein. Es kann doch nicht sein, dass für einen solchen desaströsen Ablauf und für dieses Ergebnis von 21 getöteten jungen Menschen niemand letzten Endes sich verantworten muss. Das ist natürlich naheliegend, ein naheliegender Gedanke.
    "Die Summe aller Fehler hat zur Katastrophe geführt"
    Müller: Ist das überzeugend, wenn das Gericht argumentiert, bislang jedenfalls ist niemand verantwortlich oder nicht verantwortlich genug, um ihn letztendlich zu verurteilen?
    Fischer: Man muss natürlich zwischen einer allgemeinen Verantwortung und einer strafrechtlichen Schuld schon unterscheiden. Wir haben es ja hier mit Fahrlässigkeitstaten zu tun, also mit Taten, die nicht vorsätzlich, nicht absichtlich, nicht mit Bedacht zusammen begangen wurden, sondern jeder einzelne dieser zehn Angeklagten – ich kenne die Fälle jetzt im Einzelnen nicht und was den einzelnen Leuten vorgeworfen wird – hat irgendeine mehr oder minder große Kleinigkeit oder ganz kleine Kleinigkeit falsch gemacht. Und im Zusammenwirken all dieser Fehler, die da begangen worden sind, und zwar jeweils wahrscheinlich fahrlässig, also unter Nichtbeachtung der letzten Endes erforderlichen Sorgfalt, die Summe all dieser Fehler hat dazu geführt, dass diese Katastrophe sich eingestellt hat.
    Das ist natürlich gerade bei Fahrlässigkeitstaten immer ein großes Problem und ein sich - da widersprechen sich die Wertungen natürlich, weil diesem katastrophalen Ergebnis mit schrecklichen Folgen auf der einen Seite nicht selten ein Handlungsunrecht, also ein Maß von Handlungsschuld, entgegensteht, was sehr gering ist. Also es könnte sein – wahrscheinlich ist es auch in diesem Fall so –, dass einzelne Menschen, die zwar kausal mitgewirkt haben an diesem fehlerhaften Planungsablauf und so weiter, und der Veranstaltung selbst, dass einzelne dieser Menschen nur ganz kleine Fehler begangen haben, die für sich vielleicht gar nicht ursächlich gewesen wären, aber weil andere zufällig auch Fehler begangen haben, hat sich das so zusammengeballt. Das kann dazu führen, dass einzelne Menschen zwar kausal, also ursächlich geworden sind für den Fehler, aber dass man nicht sagen kann, das sind Schwerverbrecher, die jetzt dafür langjährig beispielsweise Freiheitsstrafen verbüßen müssen.
    Die Richter müssen das Maß der Schuld feststellen
    Müller: Schwerverbrecher, ich glaube, das ist auch bei den Angehörigen und den Opfern, den verletzten Opfern in der Form auch nicht gefallen, zumindest nicht offiziell und was wir gehört haben. Aber ich muss Sie noch einmal fragen: Also wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Fischer, kann es eben sein, dass hunderte Rädchen hintereinander und untereinander nicht funktionieren, und weil es hunderte von Rädchen sind, die zu einer Katastrophe führen, gibt es im Grunde niemanden, der die Schuld trägt.
    Fischer: Ja, das kann im Einzelfall - nein, es gibt nicht jemanden, der keine Schuld trägt. Es geht ja auch in diesen zehn Fällen und bei der Einstellung nicht darum, dass die Angeklagten freigesprochen sind.
    Müller: Aber es ist nicht gravierend genug die Schuld.
    Fischer: Die Vorschriften, die da angewendet werden, setzen voraus bei den sieben Einstellungen, ohne Geldbußenzahlung, setzen voraus, dass die Schuld sehr gering ist, und die nichteingestellten setzen voraus, dass die Schuld nicht so schwer ist, dass sie durch eine Geldbußenzahlung – ich glaube, 10.000 Euro war da vorgeschlagen an eine gemeinnützige Organisation – nicht beseitigt werden könnte.
    Müller: Und das kann man definitiv feststellen? Der Richter kann feststellen, die Richterin, je nachdem, wer beteiligt ist, ob die Schuld so geringfügig ist, dass noch nicht einmal eine Geldstrafe notwendig ist?
    Fischer: Das kann er nicht nur, das können die Richter nicht nur feststellen, sondern –
    Müller: Sie müssen es.
    Fischer: – das ist die Aufgabe der Richter, Schuld festzustellen. Wenn sie nicht Verfahren einstellen würden und die Angeklagten verurteilen wegen fahrlässiger Tötung, dann müssen sie auch das Maß der Schuld feststellen und sagen, ob die dafür jetzt eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe mit oder ohne Bewährung kriegen. Das ist ja derselbe Wertungsvorgang. Ich will nur noch eine kurze Bemerkung machen.
    "Großer Zufallsfaktor bei Fahrlässigkeitshandlungen"
    Müller: Bitte.
    Fischer: Das Problem, was sich dabei immer zeigt, das ist ja der große, wie soll ich sagen, Zufallsfaktor bei Fahrlässigkeitshandlungen. Ganz häufig entstehen ja ganz schlimme Folgen durch fahrlässiges Handeln, was sich eigentlich kaum unterscheidet von dem Handeln, was alle anderen auch machen. Also 10.000 Autofahrer fahren durch eine Straße ein bisschen zu schnell, und ein einziger fährt auch zu schnell und bei dem springt ein Kind auf die Straße, und das Kind wird getötet. Das ist natürlich furchtbar schlimm für die Eltern des Kindes, trotzdem wird dieser einzelne Autofahrer sagen, ich habe doch jetzt kein schweres Verbrechen begangen, ich habe doch im Grunde genommen nur genauso fahrlässig gehandelt wie alle anderen.
    Müller: Aber warum ist die Gravität der Folgen, also die Schwere der Folge, kein Argument für ein Urteil?
    Fischer: Das ist schon ein Argument, das eine Rolle spielt, aber wir haben ja letzten Endes kein reines Erfolgsstrafrecht. Dann könnten wir ja auf Fahrlässigkeit oder Vorsatz, also auf eine persönliche Verbindung des jeweiligen Verursachers mit dem Ergebnis ganz verzichten. Dann könnten wir sagen, es kommt nur drauf an, einer hat was gemacht, irgendeine Folge ist da, also wird er schwer bestraft. Davon sind wir ja seit vielen hundert Jahren weggekommen. Für uns kommt es ja gerade auf das Maß der persönlichen Schuld an.
    Müller: Aber dann muss es immer unbefriedigend für die Opfer sein?
    Fischer: Das ist fast zwangsläufig häufig unbefriedigend. Nicht immer, aber es ist häufig unbefriedigend. Freilich ein Ratschlag: Jeder einzelne, der darüber nachdenkt – und es ist ja ein schwieriges Problem, das ist ja auch - nicht in diesem Verfahren tritt das erstmals auf, sondern in sehr vielen Verfahren, es ist nur hier mal wieder besonders augenfällig und deutlich –, jeder sollte sich einfach mal überlegen, einerseits was würde ich denken, wenn mein Kind das Opfer wäre, und zweitens was würde ich denken, wenn mein Kind einer der Angeklagten wäre und wäre bei der Stadt Duisburg beschäftigt oder bei dieser Veranstaltung und hätte einen kleinen Planungsfehler begangen. Würde ich da jetzt auch sagen, das ist unerträglich, dass das Verfahren eingestellt wird.
    "Fahrlässigkeitstaten sind für die Opfer schwer zu ertragen"
    Müller: Aber warum haben so viele Menschen – die sich ja, glaube ich, diese Frage auch schon stellen, gerade wenn Sie das Beispiel nennen, also sich vorzustellen, das eigene Kind ist betroffen, verletzt oder sogar zu Tode gekommen –, warum haben so viele Menschen, wie auch immer qualifiziert und nicht qualifiziert, spielt ja gar keine Rolle – ganz häufig genau den Eindruck, dass hier in diesem Falle 21 Tote keinerlei Verantwortung übernommen wird, also keine strafrechtliche Verantwortung, die irgendwie messbar ist, die spürbar ist, dass das nicht sein kann in einem Rechtsstaat, der sich jahrelang damit auseinandersetzt?
    Fischer: Auf die Länge der Auseinandersetzung kommt es ja natürlich nicht an.
    Müller: Was ja noch unbefriedigender ist, wenn das so lange dauert.
    Fischer: Natürlich, Sie sprechen immer wieder völlig zu Recht dasselbe Problem an, nämlich die Größe, den Umfang, das Schockierende des Ergebnisses und auf der anderen Seite die möglicherweise, ich kenne diese 100 Tage Verfahren ja nicht und die Beweisaufnahme, aber das Gericht hat es ja so gewertet, die kleine Handlungs-, deshalb heißt es ja Handlungs- und nicht Erfolgsschuld, der Erfolg ist riesengroß, die Handlungsschuld ist vielleicht sehr klein, das ist für Opfer von Strafverfahren und gerade auch von Fahrlässigkeitstaten häufig schwer zu ertragen und schwer zu tragen, sagen wir mal so. Aber das alleine ist natürlich kein Argument gegen den Rechtsstaat oder gegen das Strafrechtssystem insgesamt, denn ein Gericht ist ja nicht dazu da, stellvertretend für die Opfer jetzt die Rache auszuüben oder gar stellvertretend für die öffentliche Meinung sozusagen symbolisch an irgendwelchen Tätern jetzt Rache auszuüben, damit sich die Rechtsgemeinschaft mal wieder beruhigt.
    "Unser Strafrecht ist kein Genugtuungsstrafrecht"
    Müller: Sie sagen, Herr Fischer, Rache. Wenn wir das gar nicht benutzen, den Ausdruck, aber es geht doch ein bisschen um Genugtuung, ein bisschen darum, das Gefühl zu haben, dass wenn so etwas passiert, dass jemand dann auch zur Verantwortung gezogen wird und das so, dass es klar erkennbar ist für alle Beteiligten und für diejenigen, die sich dafür interessieren.
    Fischer: Ja, man kann den Argumenten immer wieder neue Namen geben, aber es kommt immer wieder auf dasselbe hinaus, ob Sie Genugtuung sagen oder Rache. Es ist ja nicht böse gemeint. Ich will nur sagen, ein Gericht hat ja nicht die Aufgabe, einseitig zugunsten einer – in Anführungszeichen – Partei, einer Seite in einem solchen Verfahren zu entscheiden. Das ist ja gerade die Aufgabe des Gerichts, sich neutral zurückzuziehen. Unser Strafrecht ist ja kein Genugtuungsstrafrecht, was nun der Öffentlichkeit oder den Geschädigten Genugtuung verschaffen soll, sondern das Ziel ist …
    Müller: Also es gibt keinen gesunden Menschenverstand. Gibt es keinen gesunden Menschenverstand in juristischen Prozessen?
    Fischer: Das ist eine fernliegende Schlussfolgerung.
    Müller: Das ist eine Frage.
    Fischer: Ja, und ich sage, die Antwort ist, dass diese Schlussfolgerung fernliegend ist. Natürlich ist die Zumessung von Schuld nach dem persönlichen Verhältnis, nach dem, was der einzelne Angeklagte, der Beschuldigte getan, gelassen, nicht getan, nicht gelassen, hätte tun sollen und so weiter, das ist das Maß, nach dem wir Strafrecht in unserem Rechtsstaat Deutschland seit mindestens 70 Jahren jetzt vollziehen.
    "Es geht nicht darum, dass die Opfer erniedrigt werden"
    Müller: Muss das richtig sein?
    Fischer: Bitte?
    Müller: Muss das in jeder Form richtig sein oder kann man darüber nachdenken zu sagen, na ja, vielleicht fehlt ein bisschen die Opferperspektive?
    Fischer: Darüber kann man nachdenken. Man denkt darüber allerdings schon ungefähr 150 Jahre lang nach und ist dazu gekommen, das in unserer Verfassung so zu regeln, wie es jetzt geregelt ist. Ich glaube, das ist auch richtig so. Die Aufgabe, auch von Medien, ist ja natürlich, auch Verständnis dafür herzustellen. Es geht ja nicht darum, dass durch eine geringe Bestrafung oder durch eine Einstellung wegen geringer Schuld nun die Opfer sozusagen erniedrigt werden oder dass gar gesagt wird, das war alles in Ordnung so. Strafrecht ist ja nicht in erster Linie dazu da, Geschehnisse der historischen Wirklichkeit aufzuarbeiten oder politische Verantwortung zuzuweisen oder dem –
    Müller: Aber zu bestrafen.
    Fischer: – Oberbürgermeister zu sagen, er soll zurücktreten, oder den Veranstaltern zu sagen, was sie hätten anders machen, was sie beim nächsten Mal anders machen sollen. Strafrecht ist dazu da, dass der Staat darüber entscheidet, ob ein einzelner Mensch – in diesem Fall zehn einzelne Menschen – so viel Schuld auf sich geladen hat, dass er bestraft werden muss. Und wenn sich das nicht feststellen lässt, dann ist er freizusprechen, wenn er überhaupt keine Schuld hat, und wenn die Schuld gering ist, dann sieht unser Strafprozessrecht seit 45 Jahren ungefähr vor, dass man ein Verfahren einstellen kann wegen geringer oder jedenfalls nicht großer Schuld.
    "Ob ein Verfahren eingestellt wird, hat mit der Beweislage nichts zu tun"
    Müller: Also ist das auch ein bisschen aus Mangel an Beweisen.
    Fischer: Nein, das hat damit zunächst mal fast gar nichts zu tun. Sagen wir mal, die drei Beschuldigten oder Angeklagten, die jetzt nicht zugestimmt haben, haben natürlich bei der Fortsetzung des Verfahrens, vermutlich sagen wir mal, den Fortgang des Verfahrens, die noch anstehenden, jedenfalls benannten 500 Zeugen und die drohende absolute Verjährung im Juni 2020 vor Augen.
    Müller: Im Sommer kommenden Jahres.
    Fischer: Insoweit könnte man sagen, wenn bis dahin der Beweis nicht erbracht ist, dann wäre das Verfahren endgültig einzustellen oder sie freizusprechen. Das mag für die Überlegung eine Rolle gespielt haben. Aber ob ein Verfahren eingestellt wird, hat mit der Beweislage im Grundsatz nichts zu tun.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Professor Doktor Thomas Fischer, viele Jahre lang Vorsitzender am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Danke, dass Sie sich so ausführlich Zeit genommen haben für uns! Ihnen noch einen schönen Tag!
    Fischer: Ihnen auch, tschüss, Herr Müller!
    Müller: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.