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Ludwigshafen
Keine Postkartenschönheit

Sie ist die Geburtsstadt eines großen Philosophen, Sitz eines großen Chemiekonzerns - und die angeblich hässlichste Stadt Deutschlands. Aber mit all ihren Brüchen ist Ludwigshafen auch ein lohnendes Reiseziel, ein architektonisches Sammelsurium sowie eine Einwandererstadt.

Von Wolfgang Martin Hamdorf | 19.01.2020
Der Ludwigshafener Chemiekonzern BASF
Der Ludwigshafener Chemiekonzern BASF: Gegründet wurde er 1865 als "Badische Anilin und Sodafabrik" auf der pfälzischen Rheinseite - denn in Mannheim wollte man ihn nicht haben. (dpa / BASF SE / Hans-Juergen Doelger)
"Zehn Quadratkilometer Größe. Sieben bis acht Kilometer Länge, zwei bis drei Breite, je nachdem von wo man auch misst."
Kristin Leucker führt die Besucher durch das größte zusammenhängende Chemieareal der Welt: Gegründet wurde die BASF 1865 als "Badische Anilin und Sodafabrik" auf der pfälzischen Rheinseite - denn in Mannheim wollte man sie nicht haben.
Heute arbeiten in den 200 Produktionsanlagen 39.000 Mitarbeiter.
"Die Tour, die sie gefahren sind auch, hier vorne im Süden ein, bis zum Nordhafen durch und dann zurück, die bin ich mit einer Kollegin zu Fuß gelaufen. Sportschuhe an, wir sind keinmal stehen geblieben, es hat uns ungefähr vier Stunden gekostet."
Eine Industriestadt voll edler Düfte und schlechter Gerüche, Farbstoffen und Düngemittel, endlosen Rohren, Tankbehältern, Kesseln, Dampfschwaden und explosiver Substanzen. Ein menschengemachter Vulkan mit einem Hochsicherheitshafen und altehrwürdigen Backsteingebäuden aus der Gründerzeit, wie dem Wasserturm oder dem heutigen Besucherzentrum.
Leucker: "Zum Teil sogar denkmalgeschützt. Sechs Prozent waren nach dem Krieg noch genau so erhalten, tatsächlich unversehrt, der Rest war entweder teilzerstört oder ganz zerstört. Also auch da wird sehr viel Wert gelegt auf die älteren Gebäude. Die werden immer noch benutzt zum Beispiel als Bürogebäude."
Alte Substanz ist selten in Ludwigshafen. Denn auch der Rest der erst 1853 gegründeten Industriestadt wurde im Zweiten Weltkrieg zu 80 Prozent zerstört.
"Also die Stadt hat sich natürlich nach dem Krieg neu erfinden müssen, also da ist ganz viel Industrie angesiedelt worden. Damit muss sie immer noch als so junge Stadt ihr eigenes Profil finden", sagt der gebürtige Ludwigshafener Michael Cordier. Er hat als Marketingchef der Stadt immer mit einem schwierigen Image zu kämpfen gehabt:
"Vor kurzem sind wir mal gewählt worden zur hässlichsten Stadt Deutschlands und das hat uns eher eigentlich geholfen, weil viele der Menschen jetzt gesagt haben: ‚Moment amol‘, wie der Pfälzer so sagt."
Bloch sah in der Stadt etwas Neues, frei vom Ballast der Tradition
An der Straßenbahnhaltestelle am Berliner Platz spielt ein alter Mann das Lied von der Nordseeküste und vom norddeutschen Strand. Schön ist es hier wirklich nicht, aber der Charme der Stadt liegt in ihren Widersprüchen: Hochhäuser, die im gleißenden Sonnenlicht an den vergangenen Glanz lateinamerikanischer Metropolen erinnern, Baulücken und steile Betonbrücken, Zubringer für die Hochstraßen, so charakteristisch für die autogerechte Nachkriegsstadt.
Heute sind sie einsturzgefährdet, an manchen sind behelfsmäßige Auffangplanen angebracht, damit keine Betonbrocken auf die tieferliegende Fahrbahn fallen. Schon der Philosoph Ernst Bloch bezeichnete seine Heimatstadt 1928, in seinem Aufsatz LUDWIGSHAFEN – MANNHEIM, als "hässliche Stadt", wenn auch, im Vergleich zur bürgerlichen Residenzstadt Mannheim auf der anderen Rheinseite, als "ehrlicher", als "Fabrikschmutz, den man gezwungen hatte Stadt zu werden".
Ernst Bloch: "Orte wie Ludwigshafen sind die ersten Seestädte auf dem Land, fluktuierend, aufgelockert, am Meer einer unstatischen Zukunft. Das behagliche pfälzische Weinland, eine halbe Stunde von hier, Hof und Nationaltheater, die nahen Dome von Worms und Speyer rücken vorerst fern.
Dabei sah er Ludwigshafen auch als etwas besonders Neues, frei vom Ballast der Tradition.
Ernst Bloch: "...wo keine schönen Häuser weit weg, erst recht keine früheren Stadtkulturen das Jetzt überschwindeln. Die badische Anilin- und Sodafabrik, der Kern von I.G.- Farben (hierher verlegt, damit Rauch und Proletariat nicht nach Mannheim bliesen), wurde das buchstäbliche Wahrzeichen der Stadt."
Der deutsche Philosoph und Schriftsteller Ernst Bloch (undatiert).
Der deutsche Philosoph und Schriftsteller Ernst Bloch (undatiert) (dpa / picture alliance)
Das Ernst Bloch Zentrum ist in der alten Walzmühle untergebracht, in der Villa des Fabrikbesitzers. Hier kann man in der ständigen Ausstellung das Arbeitszimmer des Philosophen von oben durch eine begehbare Glasplatte betrachten: Sessel, Bücherregal, auf dem Schreibtisch Pfeife und Brille.
Der Philosoph Klaus Kufeld war 1997 der Gründungsdirektor des Zentrums: "Ja, Ludwigshafen ist und war eine Stadt der Widersprüche. Der schöne Blochsche Spruch: Aquarium links des Rheins und Futurum rechts des Rheins zeigt ja diese schöne Dialektik an und ich denke auch diese Widersprüche, auf der einen Seite Wohlstand durch eine riesige Firma BASF und auf der anderen Seite eine sehr junge Stadt, die nur durch Industrie und Arbeiterschaft groß geworden ist."
Aber Ludwigshafen hat sich über Jahre hinweg vom Image der reinen Industrie- und Chemiestadt emanzipiert: Neben den etablierten kulturellen Säulen wie dem Wilhelm-Hack-Museum und dem Theater im Pfalzbau mit den Festspielen Ludwigshafen gibt es den großen Kultursommer, das Straßentheaterfest und zahllose weitere Kulturinitiativen.
Klaus Kufeld: "Und darauf sind die Ludwigshafener stolz. Ich hätte jetzt vor 20 Jahren ja noch gesagt: Ludwigshafen hat kein Bürgertum. Heute hat es ein sehr aufgeklärtes Bürgertum und es gibt viele Menschen, auch Fabrikanten, aus allen Schichten der Gesellschaft eigentlich, die tatsächlich das Neue machen und aus Altem Neues machen, wie Bloch gesagt hätte."
"Ein gewisses ‚Laissez faire‘-Gefühl"
In den letzten Jahren hat sich Ludwigshafen immer stärker dem Flussufer zugewandt. Am alten Hafenkanal sind modern-mediterran anmutende Wohnhäuser entstanden.
Der Leiter des Festivals des deutschen Films, Michael Kötz, hat seine drei großen Kinozelte vor 15 Jahren ganz bewusst an den Strand unter die großen Schwarzplatanen der Parkinsel gestellt. Damit begleitet er auch einen generellen Strukturwandel der Stadtentwicklung:
"Die neue Prachtmeile ist jetzt nicht in der Stadt, sondern die ist am Ufer. Und das hat sehr viel zu tun mit einer neuen Sicht auf Stadt und Lebensqualität, die so genannte Work-Life-Balance, das heißt die Menschen wollen nicht einfach nur arbeiten und dann schlafen gehen, sondern sie wollen auch leben. Die Innenstadt ist noch aus einer Zeit des reinen Funktionalismus und dann noch heillos überbaut mit Zubringerstraßen, die kann man eigentlich nur abreißen."
Musiker spielen und Feuerspucker stoßen ein Meter lange Flammen hervor. Ein Straßenfest für die Eröffnung einer arabischen Bäckerei. Die Bismarckstraße, einstmals prosperierende Fußgängerzone der Wirtschaftswunderzeit, ist heute eine Meile für Ein-Euro-Läden und Billig-Handy-Verkauf, aber auch für kleinere Geschäfte aus allen Kontinenten.
Die Immigration hat die Stadt Ludwigshafen seit ihrer Gründung geprägt, sagt Immacolata Amadeo. Als Dreijährige ist sie mit ihren Eltern, italienischen Gastarbeitern, nach Ludwigshafen gekommen und hier aufgewachsen, seit einem Jahr ist sie wieder zurück und leitet seit einem Jahr das hiesige Ernst-Bloch-Zentrum.
Immacolata Amadeo: "Inzwischen sind es glaube ich bis zu hundert Nationen in Ludwigshafen. Also die Vielfalt der Herkünfte und auch der Sprachen, die diese Menschen mitbringen." Das habe auch ein ganz besonderes Lebensgefühl geprägt. Die größte Attraktion der Stadt sind die offenen und herzlichen Einwohner:
"Die auch Fremden ohne Vorbehalte gegenübertreten, neugierig sind, auch sehr hilfsbereit sind. Ein gewisses ‚Laissez faire‘-Gefühl vermitteln und auch das Leben genießen können, also viele positive Eigenschaften würde ich sagen."