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Lübeck
Inklusion für Musiklehrer

Kinder mit und ohne Behinderung in heterogenen Gruppen zu unterrichten, stellt besondere Herausforderungen an Pädagogen. In Lübeck startet ein bundesweit einzigartiges Pilotprojekt, das den Gedanken der Inklusion in allen Bereichen der Musiklehrerausbildung fest verankern möchte.

Von Ulrike Henningsen | 16.04.2015
    Eine Geige, eine Flöte, eine Mundharmonika und ein Banjo liegen auf einem Notenblatt.
    Eine Geige, eine Flöte, eine Mundharmonika und ein Banjo liegen auf einem Notenblatt. (picture-alliance / dpa / Wolfgang Thieme)
    "Wir würden Sie jetzt gerne dazu einladen, sich selber ein bisschen hörgeschädigt zu machen."
    Mit Gehörschutzkappen aus dem Baumarkt in den Händen sitzen etwa 30 Studierende im Kammermusiksaal der Musikhochschule Lübeck.
    "Das heißt, was wir Ihnen jetzt auf die Ohren packen ist immer noch eine leichtgradige Hörschädigung. Mindestens ein Kind mit einer so leichten Hörschädigung sitzt bei ihnen in der Klasse."
    Und nimmt Musik dann etwas so wahr. 20 Minuten sollen die Workshop-Teilnehmer mit simulierter Hörschädigung dem Unterricht der Sonderschullehrerinnen Inga Beecken und Inga Schmidt folgen. Dann dürfen sie den Gehörschutz abnehmen.
    "Es war ganz schrecklich, man musste sich unheimlich konzentrieren, um was zu verstehen."
    Die Workshops führen in die verschiedenen Förderschwerpunkte ein, denn in den Klassen der angehenden Musiklehrer werden Kinder mit unterschiedlichen Einschränkungen sitzen.
    "Es war eine superwertvolle Erfahrung. Es war sehr wichtig selbst zu erfahren, wie es ist, deutlich weniger zu hören."
    Oder zu sehen. Nach der Mittagspause geht es um Sehbehinderungen. Der Dozent Oliver Hölzen hat Brillen mitgebracht, die eingeschränktes Sehen simulieren. Begleitend zu den praktischen Erfahrungen vermittelt Hölzen Grundlagen: Viel Licht kann für den einen Sehbehinderten unbedingt notwendig, für den anderen aber auch schmerzhaft blendend sein. Vergrößerte Kopien machen in manchen Fällen das Erkennen nicht leichter, sondern schwerer. Der Sonderschullehrer und Musiktherapeut hat selbst eine Sehbehinderung. Für die Studierenden ist manches neu.
    "Man hat ja auch so ein paar Klischees immer - wie müssen sich Blinde, wie müssen sich Hörgeschädigte fühlen. Wenn jetzt unser Dozent eben selber auch eine Sehbehinderung hat, dann erfährt man mal, wie er diese Klischees empfindet oder wie er damit umgeht, und dann bekommt man plötzlich eine ganz andere Sichtweise."
    Mit jeder Art von Behinderung sollen Lehrer zukünftig umgehen können. Und es wird erwartet, dass sie Kinder mit Einschränkungen gemeinsam mit anderen unterrichten, die nicht beeinträchtigt sind. Um alle mitzunehmen und gleichzeitig jedem Einzelnen gerecht werden zu können, brauchen Pädagogen neben Achtsamkeit auch musikpraktisches Know-how.
    Zum Beispiel beim Einrichten des Notenmaterials. Dr. Hans Bäßler Professor für Musikvermittlung erläutert das am Beispiel von Schülern, die nicht singen können.
    "Wenn Sie aber jetzt überlegen, wie kann ich die eigentlich mit einbeziehen, dann ist meine Fähigkeit im Arrangieren unmittelbar gefragt, nämlich zu sagen, diese Brummer sind eine Bereicherung für meine Musik, die ich in diesem Fall mache. Wenn ich die Brummer musikalisch einsetze, dann kriegen sie einen ganz eigenen und wichtigen Wert. Darauf beruht eigentlich die gesamte Inklusionsarbeit. Das, was das vermeintlich nicht hineinpassende ist, ist damit Teil eines ästhetischen Prozesses."
    "Musik kann mehr" heißt das Motto des Frühjahrscampus, weil die Verantwortlichen in Lübeck davon überzeugt sind, dass in diesem Fach tatsächlich mehr geht, als in anderen Bereichen. Gemeinsam etwas zum Klingen zu bringen, das steht im Vordergrund beim Musizieren. Da kann jeder Teil des Ganzen sein, vorausgesetzt man schafft dafür die richtigen Bedingungen. Auch das sollen Studierende hier lernen. Denn der viertägige Workshop ist nur eine der Maßnahmen, die die Verantwortlichen der Lübecker Hochschule durchführen. Der Gedanke der Inklusion soll so grundlegend im Studium verankert werden, dass er in allen Bereichen aufgegriffen wird. Die Studierenden begrüßen das:
    "Das ist ein Superstart hier, finde ich - also es bringt sehr sehr viel."
    "Es ist halt auch wichtig und notwendig, dass wir da jetzt so herangeführt werden."
    "Das ist auf jeden Fall hilfreich, weil es die Sensibilität dafür schärft, was sein kann."
    Auch Kristin Alheit, Ministerin für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung in Schleswig-Holstein ist von der Herangehensweise der Lübecker Verantwortlichen überzeugt.
    "Lübeck ist ganz besonders weit, was die Umsetzung von Inklusion in der Ausbildung angeht. Hier ist tatsächlich der Beginn gemacht worden von 'Wir denken Lehre anders'. Wir gucken, wie muss man auf die Gruppe als Lehrer gucken, um alle mitzunehmen, und das ist was ganz Großartiges und das ist was, was wir in allen Bereichen tun müssen, aber hier sind wir besonders weit, und deshalb ist es ein besonders schönes Modell."