Donnerstag, 28. März 2024

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Lüge, Klatsch und Hetze in der digitalen Welt
Die Bibel als Bremse

Lüge und Diffamierung sind weltweit pandemisch geworden. Zwar wurde auch schon in biblischen Zeiten gelästert - was Gott gar nicht gefiel. Was aber sagt die Bibel heute dazu? Denn damals gab es keine digitale Massen-Kommunikation. Ein Rabbiner empfiehlt: Einfach mal den Mund halten.

Von Tobias Kühn | 16.02.2021
Symbolbild: Ein Mann flüstert einem anderen vertrauliche Informationen zu.
Menschen tratschen - und das schon seit biblischen Zeiten (imago/Ikon Images)
"Mirjam aber redete mit Aaron über Mose wegen der äthiopischen Frau, die er genommen hatte; denn er hatte eine Äthiopierin zur Frau genommen." Hinter Moses Rücken echauffiert sich Mirjam, dass Mose eine dunkelhäutige Frau geheiratet hat. Gott hört es und bestraft Mirjam: "Und der Zorn des Herrn ergrimmte über sie, und er wandte sich ab. Und siehe, da war Mirjam aussätzig wie Schnee."

'Lepra' für Lästermäuler

Es liest sich wie Ironie, dass rassistisches Lästern ausgerechnet mit einem weißen Hautausschlag bestraft wird. Doch auch anderes schlechtes Reden über Dritte wurde in biblischen Zeiten mit Aussatz (hebräisch: Zara’at) bestraft – einem Hautausschlag, der früher oft mit "Lepra" übersetzt wurde, einer bakteriellen Infektionserkrankung. Doch schlimmer als der Aussatz selbst waren die Folgen der Krankheit für den Betroffenen.
Der Frankfurter Rabbiner Julian-Chaim Soussan erklärt, was in biblischen Zeiten mit einem Aussätzigen geschah: "Wenn jemand das hat, dann wird er mindestens sieben Tage aus dem Lager, aus dem Machane, ausgeschlossen, muss dort warten, bis dann der Priester kommt. Auch ein Hinweis, dass es keine normale Krankheit ist: Es ist der Priester, nicht der Arzt, der die Untersuchung macht. Und der schaut, ob dieser Ausschlag wieder zurückgegangen ist. Und wenn das der Fall ist, dann kann man nach einer Weile wieder zurückkommen in das Lager."
Der Rabbiner Julian-Chaim Soussan steht an einer Wand gelehnt in der Mainzer Synagoge im November 2012. 
Der orthodoxe Rabbiner Julian-Chaim Soussan aus Frankfurt am Main. (imago images / epd)
Die Tora schreibt genau vor, was der Priester tun soll mit einem, der schlecht über andere geredet hat: "Das ist das Gesetz über den Aussätzigen, wenn er gereinigt werden soll. Er soll zum Priester kommen. Der soll besehen, wie der Aussatz geheilt ist und soll gebieten, dass er zwei lebendige Vögel nehme, die da rein sind. Den einen Vogel soll der Priester schlachten und den, der vom Aussatz zu reinigen ist, siebenmal besprengen. Den anderen Vogel lasse der Priester ins freie Feld fliegen."

Internet-Gezwitscher

Die jüdischen Gelehrten der Antike und des Mittelalters haben viel darüber gerätselt, was es mit den beiden Vögeln auf sich hat. Raschi, der bekannteste jüdische Bibelkommentator des Mittelalters – ein Rabbiner, der im 11. Jahrhundert in Frankreich und in Deutschland lebte – fand eine naheliegende Erklärung: "Er hat geschwätzt – darum braucht man zu seiner Reinigung Vögel, die immerzu zwitschern."
Auch heute wird viel gezwitschert und getratscht. Das Internet macht es möglich, Informationen, aber auch Geschwätz, in Windeseile in alle Welt zu verbreiten. Wir leben in einer Zeit, in der Menschen einander so viel über andere mitteilen wie nie zuvor, gerade auch halböffentlich in Chats und Foren. Durch Social Media sind alle Schleusen geöffnet, Menschen zu beleidigen und zu verleumden – häufig auch anonym.
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland - "Eine einseitige Liebeserklärung"
Aus dem Jahr 321 stammt der erste Beleg für eine jüdische Gemeinde im heutigen Deutschland. Für Julian-Chaim Soussan ist das Jubiläum kein Grund zum Jubeln.
Soussan: "Ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der es besonders wichtig ist, auf Sprache zu achten: Was darf gesagt, gesprochen, geschrieben werden? Diese traurigerweise durch die scheinbare Anonymität, die Mauern die fallen, die Grenzen, die fallen, auch dessen, was man sagen kann und sagen darf. Das ist gefährlich, das ist Gift. Nicht nur für den Einzelnen, sondern es kann Gift auch für die ganze Gesellschaft sein. Und da sollen wir genau hinschauen, und da sollten wir auch von den großen Medienplattformen einfordern, dass sie da mehr darauf achten, dass bestimmte Posts schnell gelöscht werden oder am besten gar nicht erst auf diese Plattform kommen dürfen."

Wer lästert, wird ausgeschlossen

Anders als heute grenzte die antike biblische Gesellschaft einen Menschen aus, wenn er schlecht über andere geredet hatte. Sie schickte ihn sieben Tage in Quarantäne. Alle sollten sehen: Wer andere ausschließt, indem er schlecht über sie redet, wird selbst ausgeschlossen. Rabbiner Julian-Chaim Soussan: "Ein Grundprinzip, das wir in der Tora immer wieder erleben: Gott bestraft den Menschen – oder belohnt den Menschen – immer entsprechend seiner Tat. Was ist hier passiert? Was ist das Prinzip von übler Nachrede? Mindestens zwei Personen stehen zusammen und reden über einen Dritten. Damit schließen sie ihn aus dieser Gemeinschaft aus. Wir sind nicht so wie der, denn der hat das und das gemacht – oh, oh, oh! Und dann ist die Strafe, dass die Person, die das tut, einen Ausschlag bekommt und ausgeschlossen wird aus dem Lager, also nicht mehr Teil dieser Gesellschaft sein darf – zumindest zeitweise –, und vielleicht darüber nachdenkt, was da falsch gelaufen ist."
Aber was ist falsch gelaufen? Rabbiner Soussan deutet die biblischen Texte so: Den Menschen bleibe genug Zeit, ihr Verhalten zu ändern. Denn sie würden mehrfach gewarnt, bevor sie schließlich der Aussatz befällt:
"Der Mensch tut etwas Schlechtes, zum Beispiel eben üble Nachrede - und dann schickt Gott eine Warnung. Das Haus wird mit Lepra befallen. Das kann man reparieren, es ist ein finanzieller Schaden, aber es ist nicht so schlimm. Und wenn er sich bessert, dann war‘s das. Wenn er sich nicht bessert, dann wird die Kleidung befallen, das ist schon näher an mir dran, das ist schon an der Haut, am Körper. Und auch das ist ein Warnhinweis: Vorsicht, da passiert irgendetwas bei dir, du musst etwas korrigieren! Und wenn das auch nicht korrigiert wird, dann befällt es den Menschen tatsächlich am Körper selbst."
Schlecht über andere zu reden – hebräisch: Laschon Hara –, ist im Judentum seit altersher eines der schlimmsten Vergehen. Auch im Christentum gilt es als verwerflich, schlecht über andere zu reden. Doch die Tatsache, dass sowohl jüdische als auch christliche Gelehrte diesem Thema eine derart große Bedeutung beimessen, legt nahe, dass die Appelle immer wieder ungehört verhallten. So steht es im Neuen Testament, in der sogenannten Gemeinderegel im Matthäus-Evangelium: "Sündigt aber dein Bruder, so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Hört er nicht auf dich, so nimm noch einen oder zwei zu dir, damit jede Sache durch zweier oder dreier Zeugen Mund bestätigt werde."

Schlecht reden, um andere zu warnen

Andere zur Seite zu nehmen und ihnen unter vier Augen zu sagen, was stört - diese Regel scheint immer weniger befolgt zu werden - gerade in Internet-Zeiten. Viele neigen dazu, sich an Dritte oder gleich an die globalisierte Medienwelt zu richten und dort über Schwächen oder Fehler der Anderen zu reden. Genau dies wollten die biblischen Autoren dereinst verhindern. Aber auch sie machen Ausnahmen. Das Judentum definiert genau, wann es möglich oder sogar geboten ist, schlecht über Andere zu sprechen – nämlich dann, wenn es gilt, Dritte zu warnen, sagt Rabbiner Julian-Chaim Soussan:
"Also wenn einer zum andern kommt und sagt: 'Ich möchte mit dem X ein Geschäft machen – hast du ne Ahnung, ob ich dem vertrauen kann?' Und der Gefragte weiß jetzt tatsächlich, dass dieser X im Verdacht steht, ein unlauterer Geschäftsmann zu sein, der schon das eine oder andere Mal jemanden über den Tisch gezogen hat. Darf er jetzt, oder darf er nicht? Er will ja seinen Bekannten davor bewahren, einen Verlust zu machen oder betrogen zu werden. In dem Fall sagen die Rabbiner: Es ist erlaubt, ihn zu warnen. Aber auch hier ist wichtig: Der Hörende, also der Gewarnte, weder darf er jetzt den, über den gesprochen wurde, schlecht behandeln oder herabsetzen in seinen eigenen Augen, noch darf er es gar Dritten weitererzählen."
Darstellung von Verleumdung, Korruption, Täuschung und Despotismus, Relief am Supreme Court in Washington
Darstellung von Verleumdung, Korruption, Täuschung und Despotismus am Supreme Court in Washington (imago stock&people)
Und es gibt noch eine Ausnahme: wenn eine Ehe angebahnt werden soll. Wer über den zukünftigen Bräutigam oder die zukünftige Braut etwas weiß, das die Ehe in Gefahr bringen könnte, darf einschreiten. Doch es muss der Wahrheit entsprechen. Beweise müssen vorliegen. Eine weitere Ausnahme: wenn es darum geht, ein Verbrechen aufzudecken.
Soussan: "Ich lach auch immer, wenn Leute zu mir kommen und mir sagen: 'Ja, Herr Rabbiner, Sie haben doch auch Schweigepflicht.' Na, aus jüdischer Sicht nicht per se. Wenn jemand in mein Büro kommen würde und sagen würde: 'Ich habe jemanden umgebracht', dann würde ich wahrscheinlich die Polizei rufen."
Amerikanische Psychologen haben ermittelt, dass Menschen im Schnitt täglich etwa 16.000 Wörter von sich geben. Ein männlicher Vielsprecher soll es gar auf 47.000 Wörter gebracht haben. Im biblischen Buch Kohelet hätte der Prediger Salomo dies wohl so kommentiert: "Die Rede der Dummen ist gekennzeichnet durch viele Worte."

Das Eigenleben der Worte

Studien darüber, wie oft Menschen es bereuen, etwas gesagt zu haben, gibt es nicht. Doch jüdische Gelehrte warnten bereits im späten Mittelalter. In den "Orchot Zadikim", einem Buch zur jüdischen Ethik aus dem 15. Jahrhundert, wird ein Rabbiner mit den Worten zitiert: "Bevor du sprichst, bist du Herr deiner Worte. Nachdem du gesprochen hast, sind deine Worte dein Meister."
Eine chassidische Geschichte erzählt davon, wie schwer – oder unmöglich – es ist, Worte, die einmal in der Welt sind, zurückzunehmen. Sie verselbständigen sich und lassen sich nie wieder einfangen:
"Ein Mann hatte schlecht über einen anderen gesprochen. Er ging zum Rabbi und fragte ihn, wie er das wieder gut machen könne. Der Rabbi trug ihm auf, ein Federkissen zu besorgen und herzubringen. Das tat der Mann, und der Rabbi gab ihm den Auftrag, das Kissen aufzuschneiden und die Federn aus dem Fenster zu schütteln. Als der Mann damit fertig war, stellte sich der Rabbi neben ihn und sah eine Weile zu, wie die Federn vom Wind über die ganze Stadt verteilt wurden. Dann sagte er zu dem Mann: 'So, und nun fang damit an, alle Federn wieder einzusammeln!'"
Heute lassen sich die Federn noch schwerer einsammeln – vor allem die digitalen Federn. Und sie haben noch schlimmere Folgen als in jenen vergangenen Zeiten, als das Konzept von Laschon Hara – wörtlich "böse Zunge" – entstand. Und so bekommt die uralte Warnung vor übler Nachrede neue Aktualität.

Die Macht der Worte

Nicht erst die moderne Psychologie, sondern bereits die Weisen der Antike kannten die Macht der Worte. Von Schimon ben Gamliel, einem bekannten Rabbiner, der vor 2000 Jahren in Jerusalem lebte, wird erzählt, wie er seinen Diener damit beauftragte, ihm auf dem Markt etwas Gutes zu kaufen:
"Der Diener kehrte mit Zunge zurück. Da wies Rabbi Schimon ihn an, etwas Schlechtes auf dem Markt zu kaufen. Da brachte der Diener ebenfalls Zunge. 'Warum das?', fragte der Rabbi. 'Du solltest etwas Gutes kaufen und brachtest Zunge. Dann solltest du etwas Schlechtes kaufen und brachtest wieder Zunge!' Da erwiderte der Diener: 'Die Zunge ist gut und schlecht zugleich. Wenn sie gut ist, dann ist sie sehr gut; wenn sie schlecht ist, dann ist sie sehr schlecht.'"
Der britische Sozialpsychologe Robert Dunbar fand in den 90er-Jahren heraus, dass wir ein Drittel der Zeit, die wir miteinander sprechen, über Personen reden, die nicht anwesend sind. Gemeinsam mit seinen Kollegen hatte der Wissenschaftler zu Forschungszwecken Tausende Gespräche in Zügen, Geschäften und Restaurants belauscht. Er war selbst erstaunt über das Resultat. Er wiederholte die Studie mehrmals – und kam zu dem Schluss: "Menschen sind von Natur aus geschwätzig."
Der Frankfurter Rabbiner Julian-Chaim Soussan glaubt: Wir wollen uns vergleichen und aufwerten. Wir tratschen über andere, um uns selbst besser zu fühlen: "Man stärkt sein eigenes Ego auf Kosten von anderen. Ich glaube, das ist die einfachste und billigste Version, sich selber eine Erhebung zu geben, ohne irgendetwas dafür tun zu müssen. Ich glaube, das hat schon ganz viel als Motivation damit zu tun."
Seit Jahrtausenden denken Priester und Rabbiner, Theologen und Philosophen darüber nach, wie man Klatsch und Tratsch, die üble Nachrede, vermeiden kann. Der Frankfurter Rabbiner Julian-Chaim Soussan schlägt vor, einfach mal den Spieß umzudrehen: "Eigentlich kann man sich am besten vor Laschon Hara schützen, indem man sich überlegt, wie würde ich mich wohl fühlen, wenn jemand das über mich erzählen würde – unabhängig davon, ob das stimmt oder nicht. Ich glaube, dann hat man einen ganz guten Bremser im Kopf, der einem sagt: 'Einfach mal den Mund halten! Das muss jetzt nicht sein.'"
Gekürzte Version des Beitrags "Es ist die Art des ganzen Geschlechts", ausgestrahlt in der Sendung "Aus Religion und Gesellschaft" am 13.01.2021.