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Lügengerüst

Herbert Genzmer promovierte über "Lügenstrategien in Deutsch, Englisch und Spanisch", seine Romane tragen Titel wie: "Das Amulett", "Die Einsamkeit des Zauberers" oder "Abzittern". In seinem neuen Roman "Das perfekte Spiel" erzählt der 1952 in Krefeld geborene und vielgereiste Autor vom rasanten Leben eines Mannes, der nach der Kriegskindheit im Waisenhaus zu einem besessenen Spieler und Betrüger wird.

Von Bettina Hesse | 11.06.2012
    Seinen Roman Das perfekte Spiel stellt uns Bettina Hesse vor, die mit dem Autor darüber gesprochen hat.

    Das perfekte Spiel beginnt als Monolog, der deutlich an jemanden gerichtet ist. Temporeich erzählt Felix Gidden seinem Gegenüber, wie er als junger Gauner und Trickbetrüger Mitte der 50er-Jahre in einem Düsseldorfer Frisiersalon zusammengeschlagen wird. Ein Freund aus der Halbwelt hatte ihn dorthin geschleppt – das unschöne Erlebnis beruhte offenbar auf einer Namensverwechselung. Adressat der selbstironischen Suada ist der betreuende Arzt im Altenheim: Denn mittlerweile hat Gidden sein Leben hinter sich, ist aber immer noch leidenschaftlicher Spieler und Lügner, und wenn auch nur beim Erzählen.

    Soweit die Exposition der Geschichte. Ein zweiter, allwissender Erzähler informiert über die großen Stationen in Giddens' Leben: Türkei, Südspanien, Frankreich und immer wieder Düsseldorf, wo er im Waisenhaus aufwuchs und die Fäden für seine betrügerischen Geschäfte bündelt.
    Die beiden wechselnden Handlungsstränge zeichnen ein rastloses Leben nach, beherrscht von Gier und der manischen, aber erfolglosen Suche nach der jungen Frau des Industriellen Johannes Gidden. Sie, die schöne spanische Gattin, hat in einem Istanbuler Casino Spielschulden gemacht und ist verschwunden. Um zu beweisen, dass er, Felix Gidden, der falsche Gidden ist, willigt er beim "echten" ein, für ihn nach Istanbul zu reisen, die Spielschuld seiner Frau zu regeln und sie zu suchen. Ihr Foto trägt er wie eine Ikone bei sich.

    In der Türkei lernt er einen Mann kennen, der ihn in die Kunst des spielerischen Betrugs einführt und zum väterlichen Freund wird. Zurück in Deutschland plant er den großen Coup: nämlich im verdorrten Südspanien Regen zu machen. Als begnadeter Erzähler verkauft er Geschichten und als Anpassungsgenie schlüpft er in die unterschiedlichsten Rollen. Später kassiert er Kopfgeld für nach Deutschland "importierte" Türkische Arbeitskräfte. Längst hat er die Grenze zwischen Spiel und Verbrechen überschritten, selbst vor Mord schreckt er nicht zurück – wenn die Geschichte denn wahr ist.

    Was hat es auf sich mit diesen Lügen-Strategien?

    "Sagen wir mal so: alles gelogen! Ja, Menschen lügen permanent, und man spricht dann immer von 200 Mal, die der Mensch am Tag lügt. Lügen ist also schon ein sehr wichtiger Teil unseres Lebens, und das nicht nur im psychologischen Sinne sondern auch im linguistischen Sinne, und das bedeutet, dass man lügt, auch unter Umständen ohne zu wissen, dass man lügt."

    Felix Gidden – Thomas Manns Hochstapler Krull lässt grüßen – ist als ambivalente Persönlichkeit angelegt: ein Mensch ohne Wurzeln, ohne Vergangenheit oder Bindungen, vor allem ohne Gewissen – alles andere als ein liebenswerter Schwindler. Reizbar und unbeherrscht fördert seine paranoide Seite Gewalttätigkeit, sobald Pläne durchkreuzt werden. Dabei bleiben die Rollen Schablonen, die Person dahinter leer und abwesend. Als eine Art deutscher Tom Ripley ist er moralfrei und besessen in eigener Sache, immer mit gesellschaftlichem Schliff. Auf diese Weise gelangt er nach seiner Türkischen Lehrzeit in Andalusien und im Deutschland des Wirtschaftswunders zu Reichtum.

    Was interessiert Sie an einer solchen Figur in der Zeit?

    "Also, erstmal finde ich die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute sehr interessant. Und dann sprechen wir über das Wirtschaftswunder, wir sprechen also über Gier, wir sprechen darüber, dass die Leute schon sehr früh und sehr schnell bereit waren, ihre Moral und ihre Ethik unter den Tisch zu kehren und zu gucken, dass sie alle ihre Schäfchen ins Trockene brachten."

    Auch wenn sich am Ende herausstellt: Das "perfekte Spiel" war ein Fake, und der clevere Felix Gidden wurde selbst zum Spielball, skrupellos eingesetzt und ausgenutzt, ist sein Leben doch getragen von Hoffnungen und Träumen. Es wird zur kenntnisreich und rasant erzählten Geschichte – von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart.

    Was ist es, was diesen Felix Gidden umtreibt? Warum bricht er überhaupt nach Istanbul auf und begibt sich auf die Reise?

    "Es geht ja um eine Verwechslung, der Mann muss ja dahin, um seine Haut zu retten. Und dann fängt er an, sein Leben neu zu gestalten. Und das, was da passiert, dieser seltsame Attraktor, wie man das in der Chaosforschung nennt, der stößt ihn dann an und lässt ihn ein vollkommen neues Leben bekommen."

    Reise- und Ländererfahrungen fließen in Genzmers häufig als Roadmovie angelegten Romane ein; die ungewöhnlichen Geschichten und Schauplätze leben von Passagen atmosphärischer Dichte in den Metropolen der Welt: New York, Barcelona, Madrid, Granada, Istanbul, Athen, Nizza, Singapur.
    Sind Ihre Texte von den eigenen Erfahrungen in fremden Ländern beeinflusst?
    "Als ich ein kleiner Junge war, war für mich der größte Traum unterwegs zu sein. Ich wollte auch nicht auf die Schule gehen, auf der ich war, ich wollte auf ein Internat, und von dem Internat wäre ich am liebsten in ein ausländisches Internat gegangen. ... Dieses Leben an anderen Orten hat einfach für mich meine ganzes Leben etwas unheimlich Attraktives gehabt, mehr noch als mich selbst zu bewegen, also ständig unterwegs zu sein, punktuell irgendwo zu sein und das Leben und die Kultur, also die Stofflichkeit wirklich kennenzulernen. ... "

    Mit dem weltmännischen Erzählgestus von Spannungsliteratur führt "Das perfekte Spiel" die pathologische Oberfläche eines haltlosen Menschen vor, der versucht, die Grauzone seiner traumatischen Kindheit und Jugend durch das Spielen auszugleichen, ein Spiel im europäischen Raum an der Schwelle zur modernen Gesellschaft.

    Sich verschiedener Genres bedienend oder sie wenigstens streifend, bisweilen mit leicht überspanntem dramturgischen Bogen, setzt Genzmer – nicht nur in diesem Roman –, auf die bewährte Strategie des Geschichtenerzählens – ein Gegenentwurf in der Fantasiewelt gewissermaßen.

    Ist das Erzählen von Geschichten die beste Überlebensstrategie?

    "Das Erzählen von Geschichten birgt ja in sich immer die Möglichkeit des Lügens. Geschichten erzählen, das Fabulieren ist meiner Meinung nach, das, was die Menschen am meisten auszeichnet, aus sich selber schöpfend, irgendeine Geschichte, eine andere Realität, eine parallele Wirklichkeit zu erzeugen, ist für mich das Größte!"


    Herbert Genzmer: "Das perfekte Spiel". Roman, 355 Seiten, Berlin University Press, 2012, 22,90 Euro