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Luftkrieg und Erinnerungspolitik

Die Debatte um den Luftkrieg während des Zweiten Weltkrieges wird häufig emotional geführt. Mit "Tod aus der Luft" gelingt es dem Historiker Dietmar Süß, die Diskussion um zivile Opfer, sinnlose Zerstörungen und Kriegsverbrechen in ruhigere Bahnen zu lenken.

Von Otto Langels | 21.03.2011
    Die Zerstörung von Guernica während des spanischen Bürgerkriegs durch die deutsche Legion Condor im April 1937 lieferte eine Vorahnung von der verheerenden Wirkung eines Luftangriffs. Pablo Picasso hielt das Inferno in der baskischen Kleinstadt in einem berühmten Gemälde fest. Der Tod aus der Luft erschien den Großmächten Deutschland und England als reale Bedrohung, als sie sich Ende der 1930er-Jahre auf einen möglichen Krieg vorbereiteten. In beiden Ländern, so der Jenaer Historiker Dietmar Süß, sei ausführlich diskutiert worden, welche Mittel man für den Schutz der Zivilbevölkerung benötigte.

    "Die Antworten darauf und was praktisch daraus folgt, ist zum Teil relativ dürftig. Denn insbesondere der Nationalsozialismus bereitet zwar die Bevölkerung schon seit 1933/34 durch Luftschutzübungen darauf vor, durch das Training mit Gasmasken, durch Luftschutzübungen auch in Schulen. Aber das, was dann letztlich investiert wird ganz konkret in den Luftschutz, ist dann relativ dürftig."

    Das NS-Regime setzte andere Prioritäten und forcierte die Rüstungsproduktion für einen Angriffskrieg. Dietmar Süß wählt für seine Studie eine vergleichende Darstellung, ein reizvoller, aber nicht ganz unproblematischer Ansatz, weil er mit den Länderbeispielen England und Deutschland eine Demokratie einer Diktatur gegenüberstellt und sich damit möglicherweise dem Vorwurf aussetzt, die Unterschiede zwischen beiden Systemen zu nivellieren. Dabei stellt der Autor in seiner Arbeit durchaus Ähnlichkeiten fest: Wie etwa beide Gesellschaften auf die existenzielle Bedrohung aus der Luft reagierten, wie sie das Leben der Zivilbevölkerung unter die Erde verlagerten oder wie sie die flächendeckenden Zerstörungen als Chance für einen ambitionierten Wiederaufbau begriffen. Aber vergleichen heißt eben nicht gleichsetzen. Ein entscheidender Gegensatz, so Süß, waren die gewalttätigen Reaktionen des NS-Regimes, um Kritik und Krisen zu verhindern.

    "Der große Unterschied zwischen Großbritannien und dem Dritten Reich ist dann die Art und Weise, wie mit Plünderern umgegangen wird. In Großbritannien gibt es keine neuen Straftatbestände. Es gibt zwar die Androhung von Todesstrafen, die aber nicht exekutiert werden. Es gibt öffentliche Debatten darum, aber nicht diese Art von extensiver Gewalt auch gegen kleine Delikte, die dann als Verstoß gegen die "guten Sitten der Volksgemeinschaft" mit radikalen Strafen geahndet werden."

    Die Brutalität des NS-Regimes zeigte sich auch in Fragen der Schadensregulierung. Während die englische Regierung 1941 eine Steuer für Haus- und Wohnungseigentümer einführte, um die Kosten der Zerstörungen zu verteilen, raubten die Nazis jüdisches Vermögen, um es an Luftkriegsopfer weiterzureichen und ausgebombte Familien in die Wohnungen emigrierter oder deportierter Juden einzuweisen. In Bayern zum Beispiel gelangte die Hälfte des geraubten jüdischen Eigentums in private Hände.

    Die deutsche Propaganda antwortete auf die Folgen des Luftkriegs mit Durchhalteappellen an die Volksgemeinschaft und massiven Anklagen an die Alliierten, die Kriegsgegner machten sich der hemmungslosen Barbarei gegen friedfertige Frauen und Kinder schuldig.

    "Aus britischer Sicht gibt es in den Jahren 1941/42 letztlich keine militärische Alternative, als diesen Luftkrieg mit seinen bescheidenen Erfolgen weiterzuführen, und zwar deshalb weiterzuführen, weil man sich militärisch in der Defensive sah. Wir werden diese Frage, Luftkrieg als Kriegsverbrechen, nie mit einem klaren Ja oder Nein beantworten können. Aus der Rückschau, aus den Jahren nach 1945, mit der Ausgestaltung auch des Kriegsvölkerrechts, unter heutigen Gesichtspunkten, ist diese Sache relativ klar zu entscheiden. Aus der Sicht der Zeitgenossen ist die Sache deutlich komplexer. Und man muss sich ja auch vergegenwärtigen, gegen wen man diese Art von Krieg geführt hat."

    Dietmar Süß versucht dieser heiklen Frage gerecht zu werden, indem er auf die deutschen Bombardements englischer Städte in den Jahren 1940/41 verweist. Die Angriffe seien in ihrer Wirkung den alliierten Luftangriffen in den Jahren 1941 bis 43 vergleichbar gewesen. Die massive Ausweitung der Flächenbombardements in den letzten beiden Kriegsjahren war allerdings eine neue Dimension, die, wenn überhaupt, nur damit zu erklären ist, dass in den Augen der Alliierten die Kriegsmoral der deutschen Bevölkerung ungebrochen schien.

    "Es ist wahrscheinlich die schreckliche und fatale Konsequenz dieses Krieges, dass das Ende des Dritten Reiches eben letztlich herbeigebombt werden musste."

    Der Autor schließt seine überzeugende, sachliche und lesenswerte Darstellung nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ab. Er beleuchtet auch den Umgang mit dem Luftkrieg in beiden Ländern nach 1945. Die Erinnerungspolitik durchlief verschiedene Phasen von der Versöhnung über die Aufrechnung von Toten bis zum Aufbrechen angeblicher Tabus.

    "Diese Debatten um den Luftkrieg sind immer auch Teil von Gegenwartsauseinandersetzungen. Man kann das an den aktuellen Debatten um Dresden, um die richtige Erinnerung in Dresden und an den Aufmärschen der Neonazis sehen, dass sich Teile der Rechtsextremen dieses Symbol anzueignen versuchen und mit dem Begriff des Bombenholocaust versehen. Also, Opfer des alliierten Luftterrors ist eine Art von Rhetorik, die wir aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs und aus der Goebbels'schen Propagandamaschine kennen."

    Mit seiner international vergleichenden Studie liefert Dietmar Süß einen bemerkenswerten Beitrag, die häufig emotional geführte Debatte um zivile Opfer, Kollateralschäden, sinnlose Zerstörungen und Kriegsverbrechen in ruhigere Bahnen zu lenken. Zugleich legt er eine Grundlage für künftige Diskussionen. Denn wie die Erfahrungen von Vietnam bis Irak zeigen, hat der Krieg aus der Luft durch neue Waffensysteme weiter an Bedeutung gewonnen.

    Dietmar Süß: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England.
    Siedler Verlag, 720 Seiten, 29,99 Euro
    ISBN: 978-3-886-80932-5