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Lukas Bärfuss: "Malinois"
Männer am Abgrund

In "Malinois" beschreibt der Schweizer Dramatiker und Erzähler Lukas Bärfuss in insgesamt 13 Erzählungen Männer am Abgrund des Alltags und wirft die Frage, was die Liebe ausmacht. Außerdem blickt er auf die Untiefen des Literaturbetriebs.

Von Cornelius Wüllenkemper | 26.11.2019
Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss auf der Frankfurter Buchmesse.
Lukas Bärfuss auf der Frankfurter Buchmesse. (picture-alliance/Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/ZB)
Ein Entwicklungshelfer, der sich in der Liebe zu einer Organisatorin des Völkermords in Ruanda verliert. Ein Bruder, der der Leistungsgesellschaft den Rücken kehrt und sich das Leben nimmt. Ein erfolgreicher Immobilieninvestor, der innerhalb von 36 Stunden aus blinder Sehnsucht nach einer ihm unbekannten Frau seine bisherige Existenz hinter sich lässt. Lukas Bärfuss’ männliche Protagonisten haben stets etwas Verlorenes, Getriebenes, ja Hilfloses an sich.
Das gilt auch für die Figuren, die der preisgekrönte Autor im Erzählband "Malinois" zum Leben erweckt. Frauen spielen hier nur eine Nebenrolle, es sind stille Ehefrauen, alternde Mütter, entfernt lebende Schwestern oder Ex-Geliebte, die sich im peripheren Setting von Bärfuss’ geschundenen Protagonisten tummeln. "Was ist die Liebe?", diese Frage scheint sie alle zu beschäftigen, und so lautet auch der Titel der ersten Geschichte, in der der Erzähler eine ernüchternde Antwort gibt:
"Eine Fürchterlichkeit natürlich; eine Wildnis, die Unterstand verspricht; ein schrecklicher Wille zur Unordnung, der sich hinter Ritualen verbirgt; eine Grausamkeit, die sich der Zärtlichkeit bedient; eine Gesetzlosigkeit, die Freiheit behauptet. Liebe ist auch eine Funktion des Magens, die sich nicht auf diesen beschränkt."
Die formalisierte Liebe ist eine Farce
Das ist sprachlich gekonnt und in gleichem Maße melancholisch-hoffnungslos formuliert. Die formalisierte Liebe bleibt in Bärfuss’ Geschichten zumeist eine Farce, während das spontane Begehren als Naturgewalt seine Helden in den Abgrund stürzt. In "Was ist die Liebe?" verliebt sich nach dreißig Jahren Ehe ein Mann in den Bruder seiner Frau. Eines Tages offenbart er ihr, dass er seinen Schwager küssen möchte.
"Dann sagte seine Frau: Ich habe darüber gelesen. Das kommt vor in deinem Alter. Das ist der Magen. Das geht vorbei."
Bei Bärfuss sind es vor allem Männer, die sich in verzehrender Liebessehnsucht, in blindem Begehren verlieren, während Frauen einen weitaus pragmatischeren Umgang mit der Zweierbeziehung pflegen. In der Erzählung über eine Autofahrt durch die Schweiz mit dem kryptischen Titel "Los Angeles" beklagt sich die alternde Mutter beim Ich-Erzähler, dass seine Schwester den falschen Mann gewählt habe.
"- Wenn sie bloß diesen Nichtsnutz verlassen würde, sagt sie.
- Versteh es endlich, Mama. Sie will ihn nicht verlassen. Sie lieben sich. Weißt du, was das ist, Liebe? [...]
Und überhaupt, sage ich und weiß, dass es nichts ändern wird, was sollte dann mit Pepe geschehen?
- Ich habe euch auch alleine durchgebracht, faucht sie. Man braucht dazu keinen Mann. Einen Mann vielleicht, aber keinen Nichtsnutz. Ich habe es früh genug eingesehen. Seinen Kram habe ich ihm auf die Straße gestellt. Weg war er. Hat sich nie wieder blicken lassen, verstehst du, nicht eine einziges Mal. Keinen Franken habe ich gesehen. Ich hab es allein geschafft."
Rückhaltlose Analysen zwischenmenschlicher Verhältnisse
Der Leser mag bei einigen von Lukas Bärfuss’ Geschichten spekulieren, inwiefern sie auf eigene Erlebnisse des Autors zurückgehen. Dass seine schwierigen Familienverhältnisse und auch seine Jahre als mittelloser Herumtreiber seine politischen und menschlichen Ansichten ebenso sehr geprägt haben wie sein Schreiben, hat Lukas Bärfuss immer wieder selbst gesagt.
Wie dem auch sei, seine 13 Erzählungen bestechen durch die Genauigkeit der Beobachtung, durch die Unmittelbarkeit des Geschehens und durch ihre sprachliche Prägnanz. Bärfuss betreibt rückhaltlose Analysen zwischenmenschlicher oder auch gesellschaftlicher Verhältnisse am Beispiel kleinster Begebenheiten. Es geht um Verlust, um Verzweiflung und Einsamkeit.
In "Haschisch" verlieren junge Handwerkslehrlinge ihre gesellschaftlichen Koordinaten an dasselben. Sie handeln mit dem Stoff und türmen aus Arrestanstalten – aber wohin bloß, wenn es doch in ihrem Leben keine Frauen gibt, weil das Haschisch eben "eine eifersüchtige Leidenschaft" ist. In der Erzählung "Ein Engel in Erding" verliert ein Mann sein Leben in der Gegenwart an die Erinnerung einer längst erloschenen Beziehung. Eine der stärksten Erzählungen des Bandes vereint wiederkehrende Motive: die Hülle der öffentlich gelebten Liebe, die Entfremdung vom eingeübten Alltag, die sprachlose Einsamkeit. In "Der Keller" wird ein Mann auf dem Nachhauseweg zu seiner Familie am Fahrradständer im Hof niedergeschlagen und ausgeraubt.
"Er hielt sich an etwas fest, es war sein Rad. Er bemerkte es erst, als es nachgab und hinfiel. Er fiel mit, zurück auf den Asphalt, was nicht das Schlimmste war, das Schlimmste war der Lärm, das dumme Scheppern von Blech, das in die Stille des Hofes drang und ihn befürchten ließ, jemand könnte aus dem Fenster schauen und ihn dort liegen sehen, einen Mann, den sie oft gesehen hatten, den sie als Nachbarn kannten, und für den sie sich im Weiteren nicht interessierten, außer er war betrunken oder machte Ärger, was nie geschehen war. Daniel war anständig und rechtschaffen. Deshalb blieb er liegen. Er schämte sich, er war seiner selbst überdrüssig und verharrte, deshalb blieb er weiter im Schutz seiner Lage."
Eine Kritik an Schweizer Sekundärtugenden
Daniel wird sich vor seiner Frau verstecken anstatt Hilfe zu holen, er wird in den Keller flüchten, weil der Überfall ihn aus seinem ritualisierten Alltag direkt in einen inneren Abgrund reißt. Er begehrt nicht dagegen auf, sondern lässt sich fallen aus lauter Selbstverachtung. Hier klingt Bärfuss’ oft formulierte Kritik an der Verlogenheit der "Schweizer Sekundärtugenden" wie Pflichtbewusstsein und Ordnung an, eine Kritik, die dem Autor in der Heimat nicht nur Freunde eingebracht hat.
So wie Daniel sind die meisten von Bärfuss’ Protagonisten einsame Helden, die das Leben über sich ergehen lassen anstatt es zu gestalten. Es sind sprachlos Leidende, die die Last ihrer Existenz nur dadurch ertragen, dass sie sich an eingeübte Abläufe klammern. Vielerorts scheint bei Bärfuss der existentialistische Gedanke auf, dass das Leben sinnlos ist, es sei denn, man selbst verleiht ihm einen eigenen Sinn. Und so erinnern seine Helden an Camus’ namenlosen "Fremden" oder an Jean-Paul Sartres Antoine Roquentin, der hinter der bürgerlichen Fassade für sein Leben nur "Ekel" empfindet.
Lukas Bärfuss’ Figuren sind hilflose Herumtreiber, die sich vor lauter Selbst-Entfremdung in Scheinwelten und Tagträume flüchten. So etwa in der titelgebenden Erzählung "Malinois", in der ein Mann in den besten Jahren darüber räsoniert, welcher Tyrann über sein Gedächtnis herrscht und damit den Stationen seines Lebens einen Zusammenhang verleiht.
In der Erzählung "Ernesto" verrichtet der nagende Selbstzweifel auch am Ich-Erzähler seine Arbeit, der dem realen Autor Lukas Bärfuss auffallend ähnelt. Er ist ein Schriftsteller, der sich in einer Talk-Runde im Fernsehen über einen Kollegen äußert. Die verbreitete Verehrung für dessen abseitige literarische Welten versteht dieser Ich-Erzähler als Hinweis auf den "Ekel der Masse vor sich selbst", und zugleich sieht er darin die "Sehnsucht des Einzelnen, nicht zur Masse, sondern zur Elite der Eingeweihten zu gehören."
Spitzen gegen den Literaturbetrieb
"Natürlich war es mir nicht möglich gewesen, diese oder ähnliche Gedanken in der Literatursendung zu äußern, weil ein solcher Vorwurf sehr wohl begründet sein will, wofür es nicht genug Sendezeit gab. Das war meine offizielle Begründung, inoffiziell muss ich gestehen, dass mir der Mut fehlte, einer Unterhaltungssendung ihren Spiegel vorzuhalten. Oder ich war einfach zu klug und zu opportunistisch gewesen (und Opportunismus ist eine Form der Klugheit, wenn auch keine besonders respektable) [...] Wie auch immer, ich beschränkte mich in der Sendung darauf, durch geistreiche Bemerkungen einen kleinen teil meines Wissens aufblitzen zu lassen, damit sich das Publikum die ganze Größe meiner Belesenheit selbst ausmalen konnte."
Die Überheblichkeit dieses Ich-Erzählers bleibt im Erzählband "Malinois" nicht die einzige selbstkritische Spitze gegen den Literaturbetrieb. Womöglich befindet Lukas Bärfuss sich dafür an geeigneter Position. Mit 16 Jahren verließ er die Schule und schrieb sich ohne Studium aus dem sozialen Prekariat in die obersten Ränge der Gegenwartsliteratur ein. Dass auch er selbst als erfolgreicher Autor keineswegs unfehlbar ist und seine Geschichten nicht immer vollendet sind, formuliert Bärfuss im Nachwort ausdrücklich.
Auch Gelegenheitstexte sind in diesem Band
So merkt man es der Erzählung "Die feine Nase" an, dass sie ursprünglich die Skizze eines großen Gesellschaftsromans war, den Bärfuss nie geschrieben hat. Auf wenige Seiten eingedampft bleibt diese Geschichte inkongruent, unverständlich. "Der Schlüssel" wiederum erzählt über das kleinbürgerliche Idyll einer Schweizer Familie, das erschüttert wird, als der Nachbar allnächtlich in den Garten defäkiert.
Wie dieser etwas konstruiert wirkende Plot, den sich Bärfuss laut eigenem Bekunden in aller Eile ausdachte, um nicht ohne Text zu einem Wettbewerb anzureisen, finden sich in diesem Band auch Gelegenheitstexte, die mehr Tiefe vorgaukeln, als sie wirklich vorweisen können. Dort wo er lakonisch und zugleich sehr genau den Zusammenbruch des Eingeübten beschreibt, dort wo die kleinen Lügen im Alltag menschliche Abgründe offenbaren und die hilflose Einsamkeit hinter der gesellschaftlichen Fassade aufscheint, da gelingt Lukas Bärfuss in seinen Erzählungen das, wofür er zurecht verehrt und ausgezeichnet wird.
Lukas Bärfuss: "Malinois".
Wallstein Verlag, Göttingen.
128 Seiten, 18 Euro.