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Lukas Linder: "Der Letzte meiner Art"
Held des Mittagsschläfchens

In seinem ersten Roman erzählt der Schweizer Dramatiker Lukas Linder vom jüngsten Spross einer Adelsfamilie, die zu ihrer eigenen Karikatur geworden ist. Zwischen den Zeilen geht es auch um die Frage, ob das Kulturbürgertum noch zu retten ist.

Von Melanie Weidemüller | 12.12.2018
    Der Schriftsteller Lukas Linder und sein Roman "Der letzte meiner Art"
    Treibt todtraurige Geschichten gern auf die groteske Spitze: Lukas Linder (Buchcover Verlag Kein&Aber, Autorenportrait (c) Dominique Meienberg)
    Das Familienporträt auf dem Buchdeckel zeigt eine Gruppe ernst bis verstört dreinblickender Menschen, bei denen es sich offenbar um Eltern, Kinder und Großeltern handelt. Altmeisterlich ausgeführt in dunklen Grün- und Brauntönen, liegt die abgründige Komik dieses Sippen-Bildnisses im Detail: in den irren Augen des Familienältesten, der zudem einen Kopfverband trägt, in den schlecht sitzenden, artig zugeknöpften Jacken der Zöglinge und – das ist nun wirklich absurd – einem gediegenen Biedermeierstuhl im Zentrum, auf dem gelangweilt eine dicke Katze thront.

    Die hintersinnige Illustration auf dem Cover des Romandebüts von Lukas Linder ist die perfekte Einstimmung für die Lektüre dieser Schweizer Familiensaga. In einem "persönlichen Geleit" stellt sich der jugendliche Ich-Erzähler namens Alfred am Anfang des Romans höflich vor:
    Jüngster Spross einer aussterbenden Familie
    "Ich stamme aus einer alten und sehr reichen Berner Familie. Uns gab es schon im vierzehnten Jahrhundert. Und das sieht man uns auch an. Wie die Wurzeln uralter Bäume sind unsere Gesichter in sich selbst verknorzt. Kein besonders schöner Anblick. Erst vor dem Hintergrund ihrer langatmigen Vergangenheit fangen unsere Gesichter zu leuchten an. Und dann erkennt man: Das sind Gesichter, die gerahmt ins Museum gehören, nicht aber in die freie Wildbahn des einundzwanzigsten Jahrhunderts."

    Doch genau hier, in Zeiten kultureller Umbrüche und globaler Unübersichtlichkeit, ist Lukas Linders Roman angesiedelt. "Der Letzte meiner Art" lautet sein Titel, und wenn der Autor diesem nachgeborenen Spross eines alten Adelsgeschlechts auch noch den Namen "Alfred von Ärmel" verpasst, sind wir natürlich gewarnt: Hier beherrscht jemand Ironie so souverän, dass Ernst und Karikatur sich Mimikry-haft verbünden. Wir haben es mit einer veritablen Tragik-Komödie zu tun, die im zerschlissenen Gewand eines Heldenepos daherkommt.

    "Meine Mutter hat sich in einen Dornröschenschlaf gerettet. Mein Vater in die geistige Umnachtung. Und mein älterer Bruder Thomas, der einzige kluge Kopf der Familie, hat sich schon vor Jahren aus dem Staub gemacht und nicht mehr von sich zurückgelassen als ein paar absolut unglaubwürdige Gerüchte. So bleibt es mir überlassen, unsere denkmalgeschützten Gene in ein neues Zeitalter zu retten. Das ist bedauerlich. Für mich. Vor allem aber für die Gene, die in mir den denkbar schlechtesten Botschafter gefunden haben."
    Dekadent-dysfunktionale Eltern
    "Das letzte Bild einer Familie gerät immer zur Karikatur", heißt es an anderer Stelle in Linders Roman. Tatsächlich ist die vornehme Von-Ärmel-Sippe des jungen Ich-Erzählers Alfred bestens geeignet, das Wartezimmer eines Psychoanalytikers zu bevölkern. Der Vater, ein introvertierter Kauz, ist stolzer Inhaber einer, jawohl, Wimpel-Fabrik! Also jene kleinen, dreieckigen Gartenzwergversionen einer respektablen Fahne. Nachdem das Familienunternehmen von einem australischen Junginvestor aufgekauft wurde, dämmert der tatenlose Wimpelfabrikant zuhause in die Demenz. Seine Diven-hafte Gattin – bildschön, weltgewandt und von Verehrern umschwärmt – lebt wiederum in ihrer ganz eigenen Blase.
    "Statt zu denken, zog sie es vor, zu wirken." Frau von Ärmel hält bevorzugt Hof in ihrem privaten Salon oder verschwindet zu ominösen Verabredungen und interessiert sich zuallerletzt für ihren Sohn Alfred. Eher schon für den vermeintlich musisch hochbegabten Erstgeborenen, Thomas, das überzüchtete Familiengenie. Alfred aber ist die ewige Nummer zwei. "Dysfunktional" wäre ein mildes Wort für diese Roman-Familie, deren physischen und moralischen Verfall auch der heranwachsende Alfred, mitten in seinen Identitätswirren, immer deutlicher realisiert. Was anfangen mit dem eigenen Leben?

    Auf der Handlungsebene erzählt Lukas Linders Debüt-Roman in amüsanten Episoden von Alfreds verwegener Mission, die ruhmreiche Familientradition in die Zukunft zu retten, indem er ein Held wird. Natürlich ist das ein in unseren Zeiten lächerlicher und historisch schwer vorbelasteter Karriereplan. Doch möglicherweise, das legt der Roman nahe, war das ganze Heldenkonzept schon immer lächerlich. Gänzlich ungeeignet für körperliche Großtaten, sucht Alfred in Geschichtsbüchern verzweifelt nach historischen Vorbildern, die ihre Heldentaten im Sitzen vollbrachten.
    Wie wird man ein Held und rettet die Familienehre?
    "Was ich mir wünschte, war ein Held des Mittagsschläfchens, Blumengießens und Spazierengehens. Ein Held, den man für sein langes Gähnen liebte. Für seine Geduld und die wunderbare Handschrift. Denn so schlecht ich in Sport war, so brillant war ich, laut Zeugnis, in Schönschrift. Alfred von Ärmel. Meister der Kalligrafie. Gewinner internationaler Wettbewerbe. Niemand, der das A lesbarer schreibt als er. Und habt ihr erst seine Us gesehen?"

    Alfreds Phantasien sind durchaus utopisch, in der Realität gerät in Linders Roman selbst die Eroberung einer Tanzpartnerin für den schulischen Abi-Ball zur heroischen Prüfung. Alfreds Rendezvous mit Ruth, einer 50-jährigen Witwe, die unverhofft zur Auserwählten wird, gehören zu den komischen Höhepunkten des Romans. Ruth serviert ihm bei jedem Besuch ihr Spezial-Kartoffelpüree, um schließlich mit einem echten Widerling durchzubrennen. Auch als romantischer Held der Liebe bleibt Alfred, wozu sein Schöpfer ihn bestellt hat: ein äußerst sympathischer Held des Scheiterns.

    Fassen wir zusammen: "Der letzte meiner Art" ist ein sehr komisches Buch, aber keineswegs ein belangloses. Ein Roman, der wie das Leben selbst bizarre Szenen aneinanderreiht und seine Schärfe erst im Nachgang entfaltet. Man kann ihn als Farce auf den Selbstoptimierungs-Kult lesen. Er ist aber auch ein Abgesang auf ein erschlafftes Kulturbürgertum, das sich auf die Vergangenheit beruft und hehre Werte hochhält, aber längst abgehängt in der Defensive hockt. Ein Schelm, wer uns das als Komödie verkauft.

    Lukas Linder, geboren 1984 im Kanton Zürich, hat sich bereits am Theater einigen Ruhm als kluger Erzähler unserer Gegenwart erworben. "Der letzte meiner Art", sein erster Roman, ist sprachlich und dramaturgisch so genau gearbeitet, dass die 270 Seiten sich wunderbar leicht lesen. Becketts absurdes Scheitern, Genazinos melancholische Alltagsversager, der selbstironische, empfindsame Ton eines Joachim Meyerhoff: All‘ das mag man in diesem Debütroman wiederfinden. Lukas Linder ist aber vor allem ein eigener kluger Kopf, der mit Herz und Verstand schreibt und mit Alfred eine wunderbare Figur geschaffen hat.
    Abtanzpartnerin mit lecker Kartoffelpüree
    "Die Menschen sitzen so satt in ihrem Leben, dass man glatt die Hoffnung verlieren kann. Gibt es da überhaupt noch ein schönes Plätzchen für mich? Zusammenrutschen, Leute! Je länger dieses Leben dauert, desto mehr frage ich mich: Wird es ein gutes Ende mit Alfred von Ärmel nehmen?"

    Das wüssten wir natürlich auch sehr gern. Melancholisch gestimmt klappen wir das Buch zu und halten uns an die kühne Hoffnung, dass Lukas Linder demnächst vielleicht eine Fortsetzung seiner Von-Ärmel-Saga vorlegt. Es wäre jammerschade, wäre sein erster Roman zugleich der letzte seiner Art.

    "Auf Wiedersehen, Ruth. Jedes Mal, wenn ich Kartoffelpüree esse, denke ich an dich."
    Lukas Linder: "Der Letzte meiner Art"
    Kein & Aber Verlag, Zürich. 272 Seiten, 19 Euro