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"Lulu. Eine Mörderballade"
Eine Horrorwelt mit wenig Sprache

"Lulu" ist Wedekinds weltberühmte Erotiktragödie, die schon bei ihrer Uraufführung 1904 für einen Skandal sorgte. Der Aufstieg und Fall des triebhaften Straßenmädchens fasziniert bis heute die Theatermacher. Der Belgier Stef Lernous inszenierte das Stück nun nahezu ohne Sprache in Oberhausen.

Von Dorothea Marcus | 16.01.2016
    Der Dramatiker Frank Wedekind mit seiner Frau Tilly in einer Szene des Stücks "Der Erdgeist" an den Berliner Kammerspielen im Jahr 1913.
    In Oberahsuen ist Frank Wedekinds (l.) ursprüngliche Lulu-Handlung nur in Ansätzen erkennbar. (dpa)
    An verschmierten Wänden brechen die Kacheln ab, es dampft kalt, in schmuddeligen Buchstaben prangt "Fleischerei" über der Bühne. Denn was ist die Welt anderes als ein abgehalfterter Triebmarkt der körperlichen Bedürfnisse?
    Mühsam schrubbt oben bereits Jack the Ripper die blutverschmierten Worte "Burn in Hell" vom Fenster – vergeblich, am Schluss dieser eineinhalb Stunden werden sie wieder blutrot an die Scheiben geschrieben. Bühnenbildner und Kostümbildnerin haben in Oberhausen ganze Arbeit geleistet. Die Gosse, aus der Lulu kommt, ist schon von Beginn an ein opulent heruntergekommenes Schlachthaus. So heißt übrigens auch das Ensemble des Belgiers Stef Lernous aus Mechelen: "Abattoir Fermé", "geschlossenes Schlachthaus". Die Männer, die sich um Lulu drängen, kläffen und geifern wie Hunde. Nur sie selbst hat sich einen reinen Kern bewahrt. Oder ist das nur eine Zuschauerprojektion? Ganz nackt, als sei sie aus Peter Zadeks legendärer Lulu-Inszenierung am Schauspielhaus Hamburg von 1988 entsprungen, räkelt sich die Schauspielerin Laura Angelina Palacios auf einem verdorrten Ast – die Unschuld vom Lande auf einem Rest von Natur. Bis zum Schluss sagt sie fast nichts, sondern schleicht geschmeidig wie ein Tiger über die Bühne, feuert die Band an, stampft, tanzt und schwenkt Haare und Arme, ein kettenrauchendes, bleichgeschminktes Schneewittchen, ein "Vogel im Käfig", wie einer der Songs heißt. Doch ihre innere Freiheit als Straßenmädchen ist für die Männer um sie herum eine Provokation und wird auch nicht lange halten.
    "She was born in the big city. In the middle of a slum. My name's Shig, pass for her papa, a harlot was her mum... "
    Grandioser Konzertsound
    Einen satten, grandiosen Konzertsound erschafft sechsköpfige Live-Band neben der Bühne mit Klarinetten, Akkordeon, Mandoline, Keyboards und Gitarren. Der musikalische Leiter Otto Beatus hat die Songs, die im Original alle im Falsett des Tiger Lilies-Chef Martyn Jacques gesungen wird, für eine sechsköpfige Band arrangiert und sie an die verschiedenen Schauspieler delegiert. Und obwohl der Abend nahezu ohne Sprache auskommt, ersteht so nur aus der Musik und dem in sich geschlossenen ästhetischen Schlachthaus-Arrangement eine Horror-Welt, in der das Straßenmädchen Lulu in die Selbstzerstörung taumelt. Schon ihr Aufstieg mit Hilfe der Männer ist die verschwenderische Ausstattung einer passiven Puppe: mit Gold bestäubt vom Maler, permanent umbenannt, ausgebeutet vom vermeintlichen Vater Shig. Er wurde von der schrägen Pop- und Theaterband "The Tiger Lilies" zur Handlung dazu erfunden. In Oberhausen wird er von der Schauspielerin Susanne Burkhard gespielt und dirigiert sein Zirkuspferdchen Lulu verschlagen, schmal und listig durch die geifernden Männer:
    "It was me who made the sale. And she still calls me papa. Make more money cannot fail. You really are daddy's best. Daughter, daughter, pass the test. For us this life is piss and shit. Show your legs and show your tits. Show us yer tits."
    Jack the Ripper: Lulus letzer Freier
    Nur in Ansätzen ist Frank Wedekinds ursprüngliche Lulu-Handlung erkennbar. Die Männer, die Lulu verfallen, defilieren vorbei, ob sie nun Dr. Goll, Alwa, Schwarz oder Shunning heißen – und werden geschwind um die Ecke gebracht. In der oberen Etage sammeln sich die Männerköpfe am Fenster, die immer mal wieder auch zu singen beginnen. Bewacht werden sie von Jack the Ripper, übrigens auch von einer Frau gespielt. Der ist eine Art moralisch-teuflischer höherer Instanz über allem. Zum Schluss ist er Lulus letzter Freier – und kippt wie beiläufig einen Eimer Blut über sie aus, aus dem sie dann rutschend und kriechend verendet, als goldblitzender, blutig verschmierter, missbrauchter Papagei. Eine grotesk schräge, düster-morbide, Karnevalsparty geht zu Ende. Der Belgier Stef Lernous aus Mechelen, der zum ersten Mal in Deutschland inszeniert, erschafft in Oberhausen ein dichtes, atmosphärisches Bilderuniversum, kongenial zu der Konzeptkunst der Tiger Lilies und im fernen Geist von Wedekind. Trotz der sparsamen Dialoge wird das zu einer zwar schlichten, aber doch überzeugenden Metapher: Die Welt ist ein Schlachthaus, letztlich regieren Sexualität und Gewalt.
    "Your life is dark... and all the lust has been and come."