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"Lulu" in Amsterdam
Bedächtig geht es in den Abgrund

Um die vorletzte Jahrhundertwende schuf Frank Wedekind das Drama "Lulu" - über die sexy Kindfrau, halb Edelnutte, halb Unschuldslamm. Alban Berg vertonte das Drama. In Amsterdam wurde die Oper nun in einer Inszenierung von William Kentridge gezeigt, in der Lulu eher ein simples Mädchen ist, das in einen Strudel aus Männerlust und Lebensfrust gerät.

Von Jörn Florian Fuchs | 02.06.2015
    Der südafrikanische Multimedia-Künstler William Kentridge steht am 30.01.2014 bei einer Fotoprobe des Theaterstücks "Drawing Lessons / Refuse the Hour" im Schauspielhaus in Hamburg auf der Bühne.
    Der südafrikanische Künstler William Kentridge (picture alliance / dpa - Malte Christians)
    Das blutig brutale Finale kann man im Amsterdamer Muziektheater nicht sehen, sondern nur hören. Aus dem Off ertönen Lulus Entsetzensschreie, als sie von Jack the Ripper gemeuchelt wird. Es ist Ende und Höhepunkt einer beispiellosen Tragödie. Es ist die Verfallsgeschichte dieser von Anfang an schon verlorenen jungen Frau. Sie wechselt die Liebhaber und Ehemänner wie andere Leute Socken, schwankt ständig zwischen Traurigkeit und Lebenssucht. Jeder Mann kennt sie unter einem anderen Namen, wie Wagners Kundry scheint sie jedem das zu bieten, was er sich sehnlichst wünscht.
    Oft wird Lulu als sexy Vamp dargestellt oder als psychotische Grenzgängerin - der südafrikanische Künstler und Regisseur William Kentridge hingegen zeigt sie in Amsterdam als simples, irgendwie sogar biederes Mädchen, das in einen Strudel aus Männerlust und Lebensfrust gerät. Kentridge ist vor allem für seine Trickfilmarbeiten und Zeichnungen bekannt, auf der Bühne sieht man gemorphte Figuren, rasch sich verändernde Gesichter, Zeitungsschnipsel, Avantgarde-Kunst der 1920er- und 30er-Jahre.
    Räume aus Formen und Licht
    Mal taucht Kurt Weill im Hintergrund auf, dann blinzelt ein Sigmund-Freud-Verschnitt mit seinen mächtigen Kreideaugen. Auch zwei lebende Skulpturen gibt es, eine verrückte, zeitweise strippende Pianistin mit Bubikopf und einen grotesk verrenkten Diener, der gern mit dem Serviertablett herum läuft - und Jack the Ripper die Mordwaffe reicht. Kentridge schafft immer neue Räume aus Formen und Licht, mal wird alles gnadenlos grell, dann wieder geheimnisvoll düster und diffus.
    Während der von Lothar Zagrosek klangsinnlich duftig dirigierten Zwischenspiele erlebt man eine Art Making-off, Kentridges riesige Hand erscheint und verändert mit wenigen Bewegungen die ganze Bühne, fügt hier schraffierte Flächen hinzu, übermalt Porträts dort. In diesen ungemein eindrücklichen Räumen agieren die Protagonisten eher zurückhaltend, Mojca Erdmann etwa zeigt Lulu als Geschöpf, in dem es brodelt, das aber seine Gefühle, seine Wut nicht konstant nach außen trägt, wie man es bei anderen Aufführungen oft gesehen hat. Erdmann singt präzise bis in die Spitzen ihrer Partie. Aus der Männerriege stechen Franz Grundhebers Schigolch und Gerhard Siegel als Prinz, Kammerdiener und Marquis heraus. Jennifer Larmore gibt die lesbische Gräfin Geschwitz, die Leib und Vermögen für Lulu opfert, szenisch und vokal als Ausnahmeerscheinung. Lothar Zagrosek gelingt mit dem Concertgebouw Orchester eine wirklich exemplarische Interpretation der äußerst komplizierten, mit unzähligen Stilen und formalen Prinzipien gespickten Partitur. Nach den beiden von Alban Berg vollendeten Aufzügen folgt der von Friedrich Cerha aus dem Particell rekonstruierte, oder - wie manche meinen - doch eher neu komponierte Schlussakt.
    Vom Publikum gefeierter Abend
    Viele Situationen und Bilder dieses konzentrierten, vom Publikum ausführlich gefeierten Abends bleiben haften. Die Premiere fand zur Eröffnung des renommierten Holland Festival statt, später wandert die Produktion weiter nach New York und London. Von Kentridge wird man aber auch in unseren Breiten noch viel hören und sehen. Markus Hinterhäuser, derzeit Chef der Wiener Festwochen und ab 2016 Intendant in Salzburg, ist ein großer Fan des innovativen Künstlers. Zuletzt schufen die beiden zusammen mit dem Bariton Matthias Goerne eine sehr eindrückliche Reflexion über Franz Schuberts "Winterreise".