Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Luthers mystische Wurzeln
"Manchmal bekomme ich Gegensturm"

Professor Volker Leppin, evangelischer Theologe und Kirchenhistoriker an der Universität Tübingen, bettet den Reformator in spätmittelalterliche Frömmigkeitstraditionen ein und sieht in ihm weniger die Zäsur oder den Innovator schlechthin.

Volker Leppin im Gespräch mit Andreas Main | 07.03.2016
    Porträt des Reformators Martin Luther, Ölgemälde auf Holz von Lukas Cranach d.Ae., 1528. Das Bild hängt in der Lutherhalle in Wittenberg, dem grössten reformationsgeschichtlichen Museum der Welt.
    Porträt des Reformators Martin Luther, Ölgemälde auf Holz von Lukas Cranach d.Ae., 1528. Das Bild hängt in der Lutherhalle in Wittenberg, dem grössten reformationsgeschichtlichen Museum der Welt. (picture-alliance / dpa / Norbert Neetz)
    Andreas Main: Die beiden werden schon mal verwechselt – die Brüder Leppin. Der eine Hartmut Leppin ist ein renommierter Alt-Historiker und der andere Volker Leppin ist ein renommierter evangelischer Theologe. Er ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen. Was seinen Ansatz besonders macht, Volker Leppin gehört zu den wenigen evangelischen Theologen, die einen ausgeprägten Forschungsschwerpunkt im Mittelalter haben. Man könnte also sagen, vor Luther und vor der Reformation, die viele für eine Zäsur halten, für den Schnitt schlechthin vom Mittelalter zur Neuzeit. Und damit sind wir direkt im Thema seines neues Buchs, das Mitte Februar erschienen ist. Es hat den Titel "Die fremde Reformation – Luthers mystische Wurzeln." Herr Professor Leppin im Studio in Tübingen, ich grüße Sie, schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben.
    Volker Leppin: Hallo. Sehr gerne.
    Main: Sie sagen ja selbst im Titel, die Reformation sei vielen fremd geworden. Sich dennoch mit ihr zu beschäftigen, worin sehen Sie die Relevanz Ihres Ansatzes, eben die Verwurzelung Luthers im Mittelalter stärker hervorzuheben, als das normalerweise passiert?
    Leppin: Manchmal ist es ja gar nicht so schlecht, sich mit dem Fremden zu beschäftigen, um durch das Fremde dann eine heilsame Irritation für die Gegenwart zu gewinnen. Fremd ist die Reformation für mich einerseits als historischer Vorgang insgesamt - und andererseits ist der spezifische Zugang, den ich wähle, fremd, weil wir in der Gefahr sind Reformation durch Luther-Denkmäler, Luther-Jubiläum, -Logos und dergleichen hindurch zu sehen und dabei genau die Ferne dieser mystischen Frömmigkeit zu verlieren. Und wenn wir uns der wieder zuwenden, dann sind wir auch frei von den Denkmälern, von den Logos und können uns ganz anders mit den Inhalten der Reformation beschäftigen.
    Main: Auf den Punkt gebracht lässt sich Ihr Buch womöglich in einem Satz zusammenfassen: Der Anfang der Reformation liegt im Mittelalter.
    Leppin: Ich würde es noch zuspitzen: Der Anfang der Reformation liegt in der Mystik des Mittelalters.
    "Das Mittelalter war nicht finster"
    Main: Dann könnten wir jetzt das Gespräch beenden, tun wir aber nicht. Eine wunderbare Zuspitzung Ihres Ansatzes möchte ich zitieren. Dass die 95 Thesen Martin Luthers, die auf den 31. Oktober 1517 datiert werden, nicht als Beginn der Neuzeit gesehen werden sollten, bringen Sie so auf den Punkt: "Der 31. Oktober war ein inner-mittelalterliches Ereignis." Also nicht Mittelalter kontra Neuzeit, sondern verschiedene Strömungen: Wer gegen wen – oder was stand sich gegenüber?
    Leppin: Der 31. Oktober 1517 war insofern ein mittelalterliches Ereignis, als das Mittelalter keineswegs so starr und geschlossen war, wie es uns gelegentlich erscheint. Als jemand, der sich mit dem Mittelalter beschäftigt, denkt man manchmal, man muss es nicht mehr sagen. Und trotzdem muss man es sagen: Das finstere Mittelalter gab es nicht! Sondern: Das Mittelalter war eine ungeheuer lebendige, vielfältige, auch von Spannungen gezeichnete Gesellschaft. Und genau in diese Spannungen hinein kommt Luther. Die wichtigste Spannung zunächst einmal um zu verstehen, was da am 31. Oktober 1517 geschieht, ist die Spannung zwischen den Ansätzen einer sehr veräußerlichten Frömmigkeit und einer sehr stark verinnerlichten Frömmigkeit. Wir verbinden mit der Zeit vor der Reformation vor allen Dingen den Ablass. Man kauft sich das Heil mit möglichst viel Geld, mit möglichst vielen Jahren, die man gewinnen kann. Das ist charakteristisch für die veräußerlichte Frömmigkeit. Aber es gibt im späten Mittelalter auch die Bewegung einer tiefen Frömmigkeit, die sich identifiziert mit dem leidenden Christus. Darstellungen des Schmerzensmannes mit den Wunden, die wir heute noch gelegentlich in den Kirchen haben. Die Darstellung von Vesperbildern. Maria, die ihren Sohn auf dem Schoß hat. Das sind Darstellungen, mit denen sich Menschen identifizieren konnten, wo es nicht um Äußerliches geht, sondern um ein innerliches Wahrnehmen. Und dieses innerliche Wahrnehmen steht für Luther, für seine Frömmigkeit im Mittelpunkt. Und die steht im Mittelpunkt seiner Ablass-Thesen, wenn er sagt: Unser Herr und Meister Jesus Christus. Als er sagte, tut Buße, meinte er, dass unser ganzes Leben Buße sein soll.
    Main: Verliert oder gewinnt Luther, wenn Sie ihn so einbetten in die mystischen Frömmigkeits-Strömungen des Spätmittelalters?
    Leppin: Ich würde das, glaube ich, nicht machen, wenn er verlieren würde. Er gewinnt ungeheuer viel, er gewinnt Facetten. Er ist nicht festgelegt auf das, was spätere Lutheraner aus ihm gemacht haben als ein festes Lehrgebäude, sondern er wird derjenige, der sich dem Menschen in seiner Situation vor Gott zuwendet, wie er ihn wahrnimmt, wie er ihn vor dem biblischen, vor dem mittelalterlichen Hintergrund wahrnimmt. Und dadurch wird er für uns auch stark zu einem Gesprächspartner, der auch über die menschlichen Bestimmungen eines Menschen im 21. Jahrhundert sprechen kann.
    Main: Aber er verliert Singularität.
    Leppin: Er verliert Singularität, das mag mancher traurig finden. Aber Singularität ist ja nicht unbedingt dasjenige, was eine Person als solche auszeichnen muss, sondern manchmal kann die Besonderheit der Person auch darin liegen, dass vieles, was mit anderen gemeinsam ist, sich in einer ganz besonderen Weise verbindet. Und dann ist auf eine bestimmte Weise wieder Singularität da.
    Luther vom Sockel stürzen?
    Main: Sie gehen ja so weit, dass Sie sagen, es gibt nicht nur Verbindungen zwischen mittelalterlicher Mystik und Luther, Sie sagen ja auch, letztlich ist es genau die Mystik des Spätmittelalters, die zu jenen Änderungen führt, die in der Reformation die kirchliche und politische Landschaft Europa komplett umgepflügt haben. Diese mystischen Strömungen – viele sind es – welche waren es, die diese Kraft entwickelt haben?
    Leppin: Die Kraft kommt – für Luther selbst vor allen Dingen – aus der deutschsprachigen Mystik des 14. Jahrhunderts. Der wichtigste Autor ist für ihn Johannes Tauler, ein Schüler Meister Eckarts, dessen Predigten Martin Luther in den Jahren 1515/16 etwa gelesen hat, mit Randbemerkungen versehen hat, die wir heute noch nachvollziehen können. Und von dem er sein neues Bußverständnis, wie es in die Ablassthesen hineinkommt, gewinnt. Von dem er aber wahrscheinlich auch den Gedanken gewinnt, den wir bei Tauler selbst schon finden, dass nicht die Weihe den Priester macht, wie es das mittelalterliche Kirchenrecht als Grundunterscheidung festgelegt hat, sondern – so sagt es Tauler – die Andacht. Und Luther macht daraus nicht die besondere Andacht, nicht die besondere Frömmigkeit, sondern: Die Taufe macht den Priester. Und damit sind wir an dem Punkt, an dem er auch an Adlige und die städtischen Räte appellieren kann: Ihr dürft Kirche ändern, denn ihr seid Priester, Bischof, Papst.
    Main: Wieso war das, was im Spätmittelalter noch nebeneinander existieren konnte, in der Reformation dann kirchen-trennend?
    Leppin: Das, was nebeneinander existieren konnte, ist auch schon innerhalb des Mittelalters immer mal wieder in Konflikte geraten. Wir haben im vergangenen Jahr ein sehr trauriges Jubiläum gehabt...
    Main: ... Hus...
    Leppin: Ja, genau, das Jubiläum von der Verbrennung von Jan Hus – 600 Jahre. Da sind auch zwei unterschiedliche Perspektiven im Mittelalter aufeinandergeprallt. Das haben wir bei Luther auch. Insofern wir seine an der inneren Frömmigkeit orientierte Richtung haben, die zugleich sich den Laien zuwendet, und dem entgegen von Prierias, einem Hoftheologen sozusagen des Papstes, eine Theologie, die den Papst in den Mittelpunkt stellt, die die Zentralität der Kirche in den Mittelpunkt stellt. Das prallt bei Luther aufeinander, und sein Vorteil gegenüber Jan Hus ist, dass seine Ideen nun von Fürsten und von städtischen Räten in großer Zahl aufgegriffen werden und die politische Unterstützung eine andere und erfolgreichere ist, als dass etwa 100 Jahre vorher bei Jan Hus der Fall gewesen ist.
    Gemeinsame christliche Wurzeln entdecken
    Main: Könnte man so zuspitzen: Was später als neu gilt – also Luther – wurzelt im Alten? Und wer ihn abtrennt von spätmittelalterlicher Frömmigkeitskultur, der tut das, um konfessionelle Unterschiede deutlich zu machen?
    Leppin: Zumindest macht der konfessionelle Unterschiede etwas deutlich. Ich will nicht sozusagen gleich die Absicht unterstellen, sondern im Grunde kann man beschreiben, dass wir eine Bildungstradition seit dem 19. Jahrhundert haben – bis hin in die Lehrstühle auch an allgemeinen historisch ausgerichteten Instituten, die Mittelalter und die irgendwie ab 1500 gedachte Neuzeit in den Bildungsplänen der einzelnen Gelehrten voneinander unterscheidet. Das heißt: Man wird jemand, der sich qualifiziert im wissenschaftlichen Betrieb für die Neuzeit äußert, ohne sich intensiver mit dem Mittelalter beschäftigt haben zu müssen. Das heißt, man muss gar nicht die Absicht haben, Luther und die Reformation vom Mittelalter abzutrennen, man bewegt sich in einem anderen Diskurs sonst. Aber das führt in der Tat dann dazu, dass man einseitig die Reformation und Luther von der entstehenden Konfession her interpretiert.
    Main: Luther steht gegen das Mittelalter – dieses über 500 Jahre immer wieder vermittelte Bild ist aus Ihrer Sicht falsch, irriger Eindruck, wie Sie sagen oder wie Sie schreiben. Wie erklärt es sich denn, dass es zu diesen Fehlschlüssen kam?
    Leppin: Von Luther aus dem Mittelalter heraus ging natürlich die Bildung der neuen lutherischen Konfession aus. Und dann haben wir immer wieder Prozesse einer bestimmten Form der Erklärung, die auch etwas Legitimierendes hat: zu gucken, wo sind denn die Anfänge dieser unserer lutherischen Konfession? Und da geht man zurück bis zu Luther und nicht noch einen Schritt weiter. Man kann natürlich auch sagen, wenn wir unsere eigene Biografie schreiben, dann setzen Sie ja in den meisten Fällen nicht bei unseren Großeltern und Eltern an, sondern wir setzen bei unserer Geburt an und erzählen von da an. Das ist die typische Weise, die Geschichte der evangelischen Konfessionen zu erzählen. Und ich schaue auch mal nach den Vätern und Großvätern und Großmüttern und Müttern.
    Main: Wenn jemand eher Ihrer Position zuneigt und die Reformation einbettet ins späte Mittelalter oder wenn jemand anders herum Luther als Innovator schlechthin sieht, welche Konsequenz hat dieses Geschichtsbild jeweils für uns Heutige?
    Leppin: Wenn ich Luther als den großen Innovator kennzeichne, tue ich das in der Regel ja aus einer evangelischen Position heraus und unterstelle damit, dass Innovation, Fortschritt, Modernität auf Seiten der Evangelischen ist, was eine Schieflage innerhalb unserer mitteleuropäischen Kultur mit sich bringt. Wenn ich Luther in das Mittelalter einordne, wie ich selbst das tue, dann entdecke ich die gemeinsamen Wurzeln auch mit der römisch-katholischen Tradition. Dann entdecke ich, wie gemeinsam die unterschiedlichen Konfessionen auf die neuzeitliche Situation zugegangen sind, wie sie von ihren gemeinsamen Wurzeln her Kraft bekommen haben und entdecke insgesamt zwischen diesen Konfessionen mehr an Gemeinsamkeit als an Trennendem.
    Main: Könnte es sein, dass Sie in gewisser Weise anschlussfähiger sind bei gewissen katholischen als bei gewissen protestantischen Positionen?
    Leppin: Das kann gelegentlich passieren, ist ja auch keine Schande, sondern ich beobachte das durchaus mit Freude, dass ich im katholischen Kontext viele Gesprächspartner finde. Ich habe zum Glück auch viele Gesprächspartner, sehr konstruktive Gesprächspartner auf evangelischer Seite. Aber in der Tat ist es so, dass ich den Eindruck habe: Im Kontext römisch-katholischer Theologie ist das Verständnis für diesen Ansatz im Großen und Ganzen stärker verbreitet als in der evangelischen.
    Main: Bekommen Sie also in der evangelischen Theologie auch schon mal Gegenwind?
    Leppin: Manchmal sogar Gegensturm. Es gibt schon sehr heftige Kritik, die von einem stärker an der traditionellen Deutung Luthers, an der Neuzeit orientierten Deutung Luthers ausgerichteten Hintergrund kommt und sehr deutlich an meinem Ansatz Kritik übt. Aber Streit ist ja in der Regel auch produktiv.
    Reformationsjubiläum: Gefahr der Veräußerlichung
    Main: Herr Leppin, jetzt beschäftigen sich schon seit Jahren hunderte hoch bezahlte Protestanten mit dem Reformationsjubiläum. Es hat Themenjahren gegeben und alles läuft aufs große Finale hinaus, das Reformationsjahr 2017. Es gibt sogar eine Reformationsbotschafterin. Wenn Sie sagen, die Reformation sei eine fremde Reformation, was Sie ja nicht nur kritisch sehen – dennoch was läuft falsch in der Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum?
    Leppin: Wenn ich auch sagen darf, was richtig läuft, dann sage ich gerne auch, was falsch läuft.
    Main: Bitte.
    Leppin: Was falsch läuft, ist zumindest die Gefahr, dass man immer dasjenige fortsetzt, gegen das Luther sich wendet – nämlich eine gewisse Veräußerlichung. Das ist auch erklärbar, dass wir in unserer heutigen Gesellschaft auf Marketingstrategien setzen müssen, dass wir uns durch Logos artikulieren müssen...
    Main: Playmobil-Luther ...
    Leppin: Wobei selbst mein eigenes Fensterbrett voll ist mit Playmobil-Luthers – aber in der Tat ist das Aspekt dessen, dass man da eine bestimmte Art nicht mehr mit den Inhalten verbundenen Äußerlichkeit hat. Das kann man an einzelnen Aktionsplänen, in denen es dann letztlich um die Zahlen 500 oder die Zahlen 95 geht, die in den Vordergrund gestellt werden müssen, nachvollziehen. Da sind, glaube ich, starke Schwierigkeiten in der Vorbereitung. Aber richtig schlimm wäre das nur, wenn die Verantwortungsträger sozusagen beratungsresistent wären. Das sind sie ja glücklicherweise nicht, sondern wir sind immer stärker in einem Prozess, der auf 2017 zugeht und in dem zwei meines Erachtens außerordentlich wichtige Akzentsetzungen in den vergangenen Jahren erfolgt sind. Das eine ist, dass man sich tatsächlich stärker auf die theologischen Inhalte besonnen hat. Die sehr umstrittene Schrift der EKD "Rechtfertigung und Freiheit", zu der kann man manche Anfragen formulieren, aber die hat doch jedenfalls auf die Inhalte hingeführt und gesagt, darum geht es. Es geht doch um die Rechtfertigungslehre, es geht um eine theologische Grundbotschaft für den Menschen im 21. Jahrhundert – das ist der eine Aspekt. Und der andere Aspekt, dass man immer stärker die ökumenische Frage in den Vordergrund gestellt hat, was mittlerweile auch durch den Briefwechsel zwischen Kardinal Marx und Bischof Bedford-Strohm ganz deutlich ist: Die großen Kirchen in Deutschland wollen in diesem Reformationsjubiläum Akzente der Gemeinsamkeit setzen. Das halte ich für eine ganz große außerordentliche Entwicklung.
    Luther: Du produzierst Dein Leben nicht selbst
    Main: Sie haben mir die Reformation näher gebracht – wie im Übrigen auch Ihr Kollege Volker Reinhardt mit seinem neuen Buch "Luther, der Ketzer". Das Gespräch mit ihn ist auf der Deutschlandfunkseite im Internet nachzulesen und nachzuhören. Aber mal losgelöst von solchen Studien – wie kann aus Ihrer Sicht die Reformation dem geneigten Publikum besser nahe gebracht werden?
    Leppin: Ich spreche ja immer wieder davon in diesem Buch, dass Luther seine Botschaft auf bestimmte Grundsätze zugespitzt hat. Und ich glaube: Der Grundsatz, der elementare Satz, der für das Jahr 2017 wichtig wird, der im Grunde genommen auf allen Kanälen formuliert werden muss, ist: Du produzierst dein Leben nicht selbst. Als Mensch des 21. Jahrhunderts sind wir gewohnt, einen Weg der permanenten Selbstoptimierung zu gehen. Für die einen ist das vielleicht das Fitnessstudio, für die anderen wird es irgendetwas anderes sein. Wir arbeiten an uns, das ist auch gut und schön, jeder von uns macht das. Aber damit erreichen wir noch nicht die Fülle unseres Lebens, wir erreichen nicht den Sinn unseres Lebens. Und da ist die reformatorische Botschaft, ungeheuer wichtig zu sagen: Das, was Leben ist, das, was den Sinn unseres Lebens ausmacht, das können wir nie selbst produzieren, sondern immer nur geschenkt bekommen.
    Main: Volker Leppin, bei Ihnen entsteht der Eindruck während der Lektüre des Buches, dass die Reformation primär theologisch, geistig und geistlich motiviert ist. Damit stehen Sie allerdings auch im Widerspruch zu vielen Historikern, die eher machtpolitische oder materielle Aspekte hervorheben. Ist das womöglich typisch für Theologen, die Relevanz von Fragen rund um Prädestination, Rechtfertigung, Gnade so hoch einzuschätzen?
    Leppin: Das ist natürlich Teil unserer Aufgabe als Theologen, an die Relevanz dessen zu erinnern. Ich würde aber auch behaupten, dass es wahrscheinlich in der gesamten Geschichte kaum einen Vorgang gibt, bei dem ich so gute Gründe dafür habe, Religion und Theologie in den Vordergrund zu stellen. Das geht bis in den Punkt hinein, an dem dann tatsächlich Machtkalkül und Machtinteressen in das Reformationsgeschehen hineinkommen. Das ist der Moment, in dem städtische Räte und Fürsten die Reformation gestalten. Aber warum dürfen sie das? Warum können sie das? Weil von Luther her und aus seinem mystischen Hintergrund der Gedanke kommt, dass alle getauften Christen und Christinnen schon Priester, Bischof, Papst sind. Das legitimiert die Fürsten, das legitimiert die städtischen Räte. Das heißt, wir haben tatsächlich ein Scharnier zwischen den fein verästelten theologischen Überlegungen Martin Luthers und der dann folgenden politischen Aktivität. Und ich glaube, es ist wichtig in unserem 21. Jahrhundert, in dem religiöse Fragen zwar neu durch den interreligiösen Diskurs in den Mittelpunkt gerückt sind – innerhalb unserer christlichen Gesellschaft, aber oft in den Hintergrund treten, daran zu erinnern: Damals hat Religion tatsächlich ein entscheidende Rolle als Motiv gespielt.
    Main: Sie nannten es eben ein Scharnier. Ich möchte da noch mal nachhaken, weil für mich ist nicht ganz einsichtig, wieso jener mystische, auf Frömmigkeitstradition konzentrierte Luther, wie es dann dennoch dazu kommt, dass sich in der Reformation alles so zuspitzt.
    Leppin: Luther ist im Grunde in den Jahren 1518/19 zugleich ein mystischer Erbauungsschriftsteller und ein Kirchenkritiker. Er hat beide Aspekte. Er leidet an seiner Kirche. Er sieht, da läuft etwas schief. Und dann kommt er in eine Situation, in der die Kirche, die er kritisieren und verbessern will, ihr Vertrauen setzt in Personen, die genau das nicht aufgreifen können – insbesondere Prierias, der als Hoftheologe am Vatikan das Gutachten gegen Luther schreibt und der ihm eine Machtfülle des Papstes entgegenhält, für die es keinen kirchenrechtlichen Hintergrund, keine kirchenrechtliche Legitimation gibt. Luther erhält dies als offizielle Stimme aus Rom und verzweifelt natürlich umso mehr an der Kirche, tritt umso mehr in die Öffentlichkeit. Das provoziert wiederum seine Gegner, stärker in die Öffentlichkeit zu gehen. Das heißt, wir haben einen Prozess des Sich-hoch-Schaukelns in der Jahren 1518/19 und dann zunehmend auch ein Hineindringen dieser Überlegung eben in die Kreise politischer Entscheidungsträger, die sehen, dass durch die Weise, wie Luther argumentiert, nun mit einem Mal Gründe dafür da sind, so zu handeln, wie sie es – teilweise aus sehr weltlichen machtpolitischen Gründen – in Ansätzen schon zuvor getan haben. Also etwa die Besetzung von Priesterstellen an Kirchen in den Städten oder auch die Besetzung von Bistümern durch Territorialherren. All das wird mit einem Mal durch Luther legitimiert.
    Kirchenspaltung verflüssigen
    Main: Ich möchte Sie noch einmal zitieren. Sie schreiben an einer Stelle: "Luther musste nichts neu erfinden." Gibt es dennoch - selbst aus Ihrer skeptischen Sicht - etwas Neues und Einzigartiges, was Luther der Menschheit beschert hat?
    Leppin: In ihm konzentriert sich viel – und das macht in einzigartig. Er hatte die Gabe, vieles Unterschiedliche zu bündeln in einen wenigen, sehr klaren Grundüberzeugungen. Wahrscheinlich sind Änderungen innerhalb des historischen Verlaufs nur dann möglich, wenn man solche klaren Grundorientierungen gewinnt. Und dazu hatte er eine ausgesprochene Gabe, diese zu formulieren.
    Main: Sie hingegen wollen die Folgen der Kirchenspaltung "verflüssigen". Diese Formulierung findet sich auf einen der letzten Seiten Ihres Buches. Ist es das, was Sie wollen, wenn Sie die Reformation eben nicht als Zäsur ansehen, die das Mittelalter beendet – also Luther einbetten und so die Kirchenspaltung verflüssigen?
    Leppin: Vor allen Dingen die Form, in der wir derzeit über die Kirchenspaltung sprechen, zu verflüssigen. Wir sind ja in der Gefahr, im ökumenischen Dialog immer wieder an den Punkt zu kommen. Wir haben Schwierigkeiten bei der Abendmahlslehre. Wir haben Schwierigkeiten beim Amtsverständnis und, und, und. Wir stoßen an bestimmte Grenzen. Wir sind ungeheuer weit gekommen in den letzten etwa 50 Jahren des ökumenischen Gesprächs. Aber momentan sind wir an einer Stelle, an der wir nicht mit großen Sprüngen rechnen können. Und an der Stelle würde ich gerne verflüssigend sagen: Wir gehen noch mal einen Schritt zurück, denken noch einmal über die historischen Hintergründe, die geistlichen Grundlagen der Reformation nach - und da entdecken wir ungeheuer viele Gemeinsamkeiten.
    Main: Und dann entstehen auch Alternativen zu den großen Sprüngen?
    Leppin: Dann entstehen neue Möglichkeiten, aufeinander zuzugehen – ja.
    Main: Wie könnten die aussehen?
    Leppin: Viel könnte über das Gebet im gemeinsamen Gottesdienst gehen. Da muss man versuchen, Formen zu finden zwischen den Kirchen, in denen nicht sofort gesagt wird, ach – jetzt können wir am Sonntag nicht gemeinsam Abendmahl feiern, sondern in denen man konstruktiv die Möglichkeiten nutzt, die eben gegeben sind im derzeitigen Kirchenrecht. In diesem Rahmen, wie kann ein ökumenischer Gottesdienst aussehen? Was können wir voneinander lernen? Was können wir Evangelischen profitieren davon, dass wir in den katholischen Gottesdienst schauen und dessen Reichtum anschauen. Und was können die Katholischen vom evangelischen Gottesdienst lernen? Auch das ist im ökumenischen Gespräch immer wieder erfolgt und das müssen wir immer weiter mit Leben füllen.
    Main: Und mir fällt in diesem Zusammenhang die Communauté von Taizé ein, wo genau das gelingt.
    Leppin: Die ist in der Tat ein Ansatz, an den ich dabei denke, ein Ansatz, der auch sehr stark aus den mystischen Wurzeln lebt und sehr viel Gemeinsamkeit gestaltet.
    Main: Der evangelische Theologe und Kirchenhistoriker Volker Leppin – sein Buch hat den Titel "Die fremde Reformation – Luthers mystische Wurzeln". Es ist erschienen im Verlag C.H. Beck und rund 250 Seiten kosten 22 Euro. Herr Leppin, ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch nach Tübingen.
    Leppin: Vielen Dank. Gern geschehen.