Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Lyrik von Marion Poschmann
Dichtung als Schule des Sehens

Mit ihren neuen Lyrikbänden "Mondbetrachtung in mondloser Nacht" und "Geliehene Landschaften" gibt Marion Poschmann auch Einblicke in ihre Art zu Arbeiten. Poschmann ist unter anderem Preisträgerin des Wilhelm-Raabe-Literaturpreises 2013, der gemeinsam von DeutschlandRadio und der Stadt Braunschweig vergeben wird.

Von Claudia Kramatschek | 02.05.2016
    Die für den Leipziger Buchpreis nominierte Autorin Marion Poschmann sitzt am 17.03.2016 auf der Buchmesse in Leipzig
    Die Schriftstellerin Marion Poschmann (picture-alliance / dpa / Jan Woitas)
    Spätestens mit ihrem Gedichtband "Grund zu Schafen" hat sich die Lyrikerin und Prosaautorin Marion Poschmann als eine genaue Beobachterin von Räumen und Landschaften erwiesen. Ihr Faible gilt dabei jenen Randzonen, in denen sich Natur und Zivilisation miteinander zu etwas Neuem verfugen. Nicht zuletzt stellt sich daher auch für sie die Frage: Was ist das überhaupt Natur? Marion Poschmann:
    "Das Verhältnis zur Natur ist ja im Grunde die entscheidende Frage, also eine der entscheidenden existenziellen Fragen, finde ich, überhaupt. Und das spielt natürlich auch als eine wichtige Frage in der Dichtung eine Rolle. Ich stelle mir in der Literatur die Frage, wie stehe ich zur Natur und inwieweit bin ich Teil der Natur oder nicht. Ich selber würde für mich die Frage so beantworten: Ich bin auf jeden Fall Teil der Natur, ich bin Natur, und alles, was ich tue, auch alle meine poetischen Handlungen, haben dann entsprechende Auswirkungen, also sind praktisch so, dass sie auf mich auch zurückwirken. Daher versuche ich, in meinen Gedichten zum Beispiel zu einer eher organischen Entwicklung zu kommen. Also versuche, mich selber beim Schreiben in einen Zustand zu bringen, in dem sich ein Gedicht entfalten kann."
    Dichtung als Schule des Sehens
    Dass ein Gedicht sich solchermaßen entfalten kann, hat – zumindest für Marion Poschmann – nicht zuletzt zu tun mit Inspiration. Der Begriff der Inspiration – spätestens seit Gottfried Benn mit argwöhnischen Augen betrachtet – fällt in dem schönen Band "Mondbetrachtung in mondloser Nacht", in dem die Autorin uns Einblick gibt in das innere Gewebe ihrer Poetologie: Sie schreibt darin über Springkraut und die Schafe in der arkadischen Tradition, über die Walchenbilder von Lovis Corinth, über eine Ästhetik des Erhabenen im Zeitalter globaler Katastrophen, über das Dasein im Schriftstellerknast einer ländlichen Einsiedlerklause. Und sie erklärt: Dichtung – und dies meint bei ihr die Lyrik und die Prosa – ist für sie vor allem eines - eine Schule des Sehens, die unsere Sinne schärft und womöglich gar das Unsichtbare sichtbar macht. Eben darauf verweist auch der reizvoll paradoxe Titel des Bandes:
    "Was sieht man, wenn man in der mondlosen Nacht den Mond betrachtet? Und vor allem: Was ist das für ein Mond? Welchen Realitätsgrad hat dieser Mond? Ist dieser Mond ein Mond, den man als Teil der Natur betrachten kann? Ist das ein reiner Sprach-Mond, ein Bewusstseins-Mond? Also in der mondlosen Nacht ist da der Mond vorhanden oder ist er nicht vorhanden? Das finde ich daran sehr interessant: Dass man daran sehen kann, wie Sprache funktioniert und auch, wie Bewusstsein funktioniert."
    Von eben diesem lustvollen Wechselspiel zwischen da und nicht-da leben auch die Gedichte in ihrem neuen Band "Geliehene Landschaften":
    "Bei der Landschaft hat man ja auch diese Spannung zwischen dem Vorhandenen, der Natur – und der Konstruktion, die das Bewusstsein erzeugt. Also Landschaft ist ja immer etwas, was vom Menschen aus gesehen wird und als Landschaft definiert wird. Man blickt auf die Landschaft und stellt eigentlich einen begrenzten Ausschnitt her, der dann die bestimmte Landschaft ist. Und diesen Konstruktionsprozess stelle ich praktisch in den Gedichten nach."
    "Landschaft, o Sprachpanorama
    Des Logos creator"
    Entstanden sind die Gedichte auf der Grundlage von Reisen, die Marion Poschmann an die im Band evozierten Landschaften und Schauplätze unternahm: In Kaliningrad etwa besucht sie den Bernsteinpark.
    "Kinder schwappen, Tee in Tassen, an der Elternhand.
    Unter der Hand erkaltet die Liebe des Vaterlands, übt sich
    in Hütekunst, Wortgewalt, Totengesprächen. Verordnet
    Erholung: an jeder Laterne ein Lautsprecher.
    Immer noch gilt: alle staatlichen Feiertage
    verbringt man im Park.
    Sanitäres Grün. Einflusszonen für Stadtwälder. Lufthygiene.
    Die Haltbarkeit eines Parks hängt ab von der Trübung.
    Dekogrün. Pflanzprogramm. Hüpfburg mit Pinguinen.
    Plastikbäume glitzern im Vergnügungssektor, und wieder
    ist das Gesehene größer als das Gedachte. Maskierte Tiere
    Elegien. Eliten. Elysium.
    Geknüpft an den Arm kleiner Mädchen ziehen
    Kaninchen-, Prinzessinnenluftballons vor einem
    unwirklich mächtigen Etwas mit Namen gesunde Vernunft,
    trudeln rote, zur Sonne drängende Sterne. Am langen Faden
    ein Panzer, sehr blank, Originalgedanke, der auf der Höhe
    der Büsche tanzt."
    Lunapark-Freizeitpark als Thema
    Sie fährt nach Coney Island in den Lunapark, wandelt durch stillgelegte Kohlereviere, begibt sich auf die Spuren der Dichterlandschaften des Altmeisters Basho. Auch der Begriff "Geliehene Landschaften" entstammt der ostasiatischen Gartenkunst:
    "Dabei geht es darum, dass man einen Garten baut und Elemente, die sich jenseits der Gartenmauern befinden, mit einbezieht in die Konstruktion. Also beispielsweise, wenn hinter dem Garten ein besonders schöner Berg steht, dann schneidet man die Hecken so oder baut die Mauern so, legt so die Büsche und Bäume an, dass dieser Berg in diesem Garten eine starke Präsenz entfalten kann. Dass er quasi mit zum Ganzen dazu gehört. Gedichte operieren ja auch so, also sie schaffen sich einen kleinen Raum, dort wird einiges hineingefüllt, anderes, was außerhalb dieser Grenzen sein mag, wird auch in irgendeiner Form mit hinein genommen."
    Doch Marion Poschmann raut ihre Landschaften ironisch auf, indem sie ihnen artfremde Elemente hinzufügt: Eierschneider, Rouladenklammern, oder einen hohen Tinnitus-Ton.
    "Saugraum
    Vorabend, 11. Stock, Wolkenbox. Die Gläubiger
    warnten vor Glutamat, und ein bissiger Wind
    drang durch die Ritzen der Schiebefenster,
    pfiff diesen einen hohen Tinnitus-Ton,
    aufsässig wie die unendliche Bildung von Schwärze
    beim Verb. Draußen unter den Boxerwolken
    trippelten in ihren Wintermänteln
    die bestens frisierten Hunde New Yorks.
    Sie gingen mit wirr verwickelten Leinen
    in Zweier- und Dreiergruppen, die Mehrheit
    trug schwedische Ledersocken mit Strickschicht.
    Aber es reichte noch nicht zu Schnee.
    Wir saßen im Saugraum der Fernsehprogramme,
    lasen die gelben Fieberbegriffe, wir saßen in Wolken,
    die aus der Küche kamen, an Glätte gewannen,
    an Zähigkeit."
    Das scheinbar Vertraute erscheint in solchen syntaktisch wie bildlichen Neuverfugungen in neuem Licht – was Landschaft sein kann, wird dadurch extensiv erweitert. Heraus kommen Bewusstseinslandschaften, angesiedelt zwischen – Zitat – "Sediment und Sentiment". Am eindringlichsten ist dieses Widerspiel im Zyklus über den Lunapark in Coney Island eingefangen. Bei Marion Poschmann erscheint dieser Park wie die Ruine des menschlichen Wunsches, sich mithilfe der Natur der eigenen irdischen Existenz zu entheben. Im Gedicht "Schiffschaukel" heißt es:
    "Nachtfahrt
    der Sonnenbarke: das Auge versinkt.
    Anlieferungs- und Entsorgungsrampen,
    Rollvorrichtung des Raums. Monsterwellen,
    niedergedrückt, dann wieder emporgerissen.
    Hände versuchen, den Ölfilm der Theorie zu fassen,
    ergreifen nur Tiefgaragen aus gegenstandslosem
    Wir-Gefühl. Finsternis blitzt.
    Kalter Glanz, übermalte Glasscheiben, Übermaß."
    "Allgemein ist mir bei der Arbeit an diesem Buch klarer geworden, dass all diese Gartenprojekte, diese Parkanlagen eigentlich Versuche sind, eine Art Paradies auf Erden zu schaffen. Und dann kann man sich natürlich immer fragen, wie gut klappt das eigentlich? Und wo zeigt sich dann auch, dass diese Utopien schwer zu verwirklichen sind? Und speziell in diesem Fall von Coney Island, diesem Luna Park, aus verschiedenen Fahrgeschäften, Achterbahnen und so weiter, die im Grunde nach Naturgewalten benannt sind – also da sieht man das ganz besonders, wie Anspruch und Realität eigentlich auseinander klaffen und auch in ein seltsam ironisches Verhältnis zueinander treten."
    Dass noch die Produktion von Landschaftsgedichten im 21. Jahrhundert von allerlei Aporien umstellt ist, davon zeugen nicht zuletzt jene Gedichte im Band, in denen die Lyrikerin auf den Spuren Bashos wandelt. Zwar stehen noch immer dunkelgrün die Kiefern im Park des verlorenen Mondscheins in Matsushima. Doch Plastikverpackungen, elektronisches Vogelgezwitscher und ein – Zitat – "Vergänglichkeitstrainer" haben inzwischen die Herrschaft übernommen.
    "Dunkel bemooste Wolken wandern
    über nur flüchtig vorhandene Berge
    und treiben weiter
    in etwas hinein,
    was gut und gerne das Nichts
    sein könnte,
    wäre es nicht bereits
    etwas, Verhangenheit, Teil eines Parkplatzes,
    vollkommen leer, bis auf ungezählte,
    mit weißer Markierungsfarbe umrissene
    Buchten."
    Marion Poschmann, die sich in diesem Band erneut als Meisterin von Form- und Sprachkunst auf hohem Niveau erweist, scheint uns also zu fragen: Wohin gehen wir, wenn wir den Wegen einer von Menschenhand gemachten Natur folgen? Ihre Antwort kommt wie auf leisen Taubenfüßen daher – und hat doch die Kraft, uns aufzuschrecken.
    Buchinfos:
    Marion Poschmann: "Mondbetrachtung in mondloser Nacht", Suhrkamp Verlag, 118 Seiten, Preis: 19,95 Euro
    Marion Poschmann: "Geliehene Landschaften", Suhrkamp Verlag, 218 Seiten, Preis: 18,00 Euro