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"Machbarschaft Borsig11"
Kunstprojekt will Dortmunder Platz wiederbeleben

Die Glanzzeiten des Dortmunder Borsigplatzes liegen gut 100 Jahre zurück. Eine Wiederbelebung will das Projekt "Machbarschaft Borsig11" erreichen. Vier Künstler leben für ein Jahr hier und entwickeln gemeinsam mit den Anwohnern Projekte, die das Quartier verändern.

Von Peter Backof | 30.06.2014
    Blick auf die jubelnden Fans des Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund am Sonntag (15.05.2011) während der Meisterfeier am Borsigplatz in Dortmund. Der BVB ist deutscher Fußball-Meister der Saison 2010-11. Foto:
    Allenfalls wenn der BVB die Meisterschaft feiert, ist auf dem Borsigplatz etwas los. (Victoria Bonn-Meuser / dpa)
    Anwohnerin Sonja: "Die sind sehr schön. Also mir gefallen die. Hübscher als unsere Euro-Währung!"
    Sonja ist eine von den Elftausend, die am Dortmunder Borsigplatz wohnen oder dort arbeiten. Sie bekommt gerade "Chancen" - ein schöner Kalauer: "Chancen", vor Ort auch "Schangsen" genannt, so heißen jetzt Geldscheine, die ein Jahr lang nur in der Dortmunder Nordstadt gelten, beim Projekt "Public Residence – die Chance". Immerhin Tausend von den Elftausend kommen in diesen Genuss. Rechtlich gesehen, sind die Chancen Gutscheine:
    Volker Pohlüke, Leiter Borsig 11: "Man wendet sich an den Herausgeber der Chancen. Das sind wir, als 'Machbarschaft Borsig 11'. Dann kann man hundert 'Chancen' in Empfang nehmen, einfach, indem man seinen Namen angibt und seine Kontaktmöglichkeiten. Weil wir dann ja in der Folge die Scheininhaber benachrichtigen, wenn es was zu kaufen gibt: nämlich die Kunst."
    Zu viele Zahlen? Klingt nach kompliziertem Konzept? - Auf dem Borsigplatz steht ein erstes Resultat: ein Auto aus Papier. Die Mitte des Platzes, das ist eine runde Grünfläche von etwa hundert Metern Durchmesser, umspült von mehrspurigem Kreisverkehr. Das Papierauto steht seit einer Woche auf der Insel und wirkt wie ein herausgeschnittenes, weißes Loch in der Wirklichkeit. Ein Hinweis darauf, dass dieser gefühlte Miniaturpark überhaupt nicht genutzt wird: nicht einmal als Standort für eine Bronze des Großindustriellen Borsig aus dem 19. Jahrhundert. Gekauft wurde das Papier - und ein Skelett aus Holz, das das Kunstauto gegen Windböen resistent macht - mit den ersten Chancen.
    Volker Pohlüke: "Wir verschenken tatsächlich 100.000 Euro ins Quartier. Die Künstler werben oder stellen ihre Projekte vor, die Bewohner entscheiden dann, wem sie wie viele Chancen geben möchten."
    Henrik Mayer: "Es funktioniert wirklich so, dass ich Leute hier anspreche, beim Bäcker zum Beispiel: Die muss ich jetzt überzeugen, dass sie in mich investieren."
    Sagt Henrik Mayer von der Gruppe Reinigungsgesellschaft. Er ist einer der vier Künstler, die seit Anfang Juni für ein Jahr auch direkt am Platz wohnen.
    Zwischen Reanimation und Aufbruch
    Henrik Mayer: "Der Borsigplatz hat ja nicht den besten Ruf. Die Leute, die hier wohnen, denken da ganz anders, aber wenn man jetzt Leute von außen fragt, hört man: im Norden wohnen die Horden. Die Idee ist, mithilfe der Bewohner Dinge herauszuarbeiten, für die der Borsigplatz auch steht. "
    Die Straßen, die auf das brache, grüne Rund zulaufen sind geprägt von Imbissen, Spielhallen und Ein-Euro-Märkten. Nur eine einzige Straße mit prächtigen Fassaden erinnert noch an die wilhelminischen Wirtschaftswunderjahre, als hier auch Großbürger ansässig waren und die Wiese belebter Marktplatz war. Und darum geht es natürlich auch "Machbarschaft Borsig 11": um den Versuch einer Reanimation. Oder besser: den Aufbruch zu etwas ganz Neuem? Anwohnerin Sonja ist erst einmal recht angetan:
    Sonja: "Ich finde gut, dass was für's Viertel gemacht wird, Projekte gefördert sind, die jetzt nicht schon in aller Munde sind, sondern dass man auch Kleinigkeiten verwirklichen kann. Macht Sinn!"
    Die Mitsprache der Anwohner bedeutet für die Künstler – Henrik Mayer, Frank Bölter, Susanne Bosch und Angela Ljiljanic – dass sie sich zunächst einmal in das Borsig-Biotop einfühlen müssen. Bei einem Brainstorming in einem Jugendheim haben sie erfahren, dass es hier relativ viele junge Leute ohne Schulabschluss gibt, die aber auch zu alt sind, um noch einen regulären Abschluss zu machen. Oder dass der einzige Supermarkt am Platz vor Kurzem geschlossen wurde. Themen, die das Leben der Menschen hier prägen.
    Henrik Mayer: "Die Künstler sind dazu da, diesen Dingen ein Bild zu verschaffen."
    Aber wie? Die vier Künstler sind untereinander konkurrierende Kandidaten und auch Moderatoren für Wünsche. Das bedeutet, dass sie mitgebrachte Vorstellungen, was sie hier ästhetisch machen könnten, wahrscheinlich über Bord werfen müssen. Eine Tribüne aus Beton als Hinweis, dass kein einziger Zebrastreifen auf die Wiese führt? Oder doch lieber eine regelmäßige Schaum-Performance, was für Kinder ein großer Spaß wäre: Das wird jetzt alles diskutiert, bei diesem Projekt, das erst langsam wächst und bei dem der Weg das Ziel ist. Die Künstler sind hier nicht kaserniert, aber fast täglich am Platz: Das Borsigjahr wird auch sie prägen.
    Angela Ljiljanic: "Mein Name ist Angela, Angela Ljiljanic. Manche nennen mich Anjela, manche Anju, manche Anjijan – ich bin mal gespannt, welchen Namen Dortmund mir nach dem Jahr verpasst!"
    Beim Rühren der Werbetrommel ernten Angela Ljiljanic und ihre Kollegen auch Skepsis und lassen das Wort "Kunst" deshalb auch oft weg. Bemerkenswert ist zumal, dass der Verein "Machbarschaft" einen Kunstpreis und seine Vernetzung aus dem Kulturhauptstadtjahr des Ruhrgebiets 2010 hier neu investiert. Eben diese 100.000 Euro sollen nicht - wie ein Kulturhauptstadtjahr – nomadisch herumziehen, sondern am Borsigplatz sesshaft werden: für die Menschen, die dann mit der Kunst vor Augen leben. Das macht ganz neugierig, was nun konkret - über das Papierauto hinaus - realisiert werden wird.