Freitag, 29. März 2024

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Macht der Erinnerung

Thema von Peter Härtlings Künstler- und Gesellschaftsromanen ist zumeist das Erinnern, die Rekonstruktion des Vergangenen sowie die - so der Untertitel seiner autobiographischen Erzählung "Zwettl" - "Nachprüfung einer Erinnerung". Da Erinnerung eine trügerische Sache sein kann, denn jeder sucht sich dabei ins rechte Licht zu rücken, aktiviert Peter Härtling Misstrauen und Zweifel. War es so? Auch in seinen "Erinnerungen" "Leben lernen" ist dieser Grundton vorhanden. Aber gerade er ist es, der Härtling in seiner Autobiographie zu Erinnerungsgenauigkeit anleitet. Härtling, 1933 in Chemnitz geboren, sein Vater war im benachbarten Hartmannsdorf Rechtsanwalt, zog 1941 als Achtjähriger mit seinen Eltern nach Brünn.

Stephan Reinhardt | 14.11.2003
    Beim Jungvolk wurde Peter Härtling Hordenführer und im Herbst 1944 absolvierte er sogar eine Prüfung für die Napola, die Nationalpolitische Erziehungsanstalt, Eliteinternat für den Führernachwuchs.

    Doch da war der Krieg schon zu Ende. Der Vater erklärte dem 12-jährigen, was für ein dummer Junge er gewesen war. Doch der Vater konnte ihm nicht mehr viel helfen. Kurz darauf starb er in russischer Kriegsgefangenschaft. Für den Heranwachsenden Anlass zu einer Art ständiger Vatersuche.


    Nach wochenlanger Irrfahrt im Zug fand Härtlings Mutter 1945 Unterschlupf in der schwäbischen Kleinstadt Nürtingen, 30 Kilometer von Stuttgart entfernt. Die Einheimischen reagierten mit Abwehr. Peter Härtling und seine jüngere Schwester verloren auch ihre Mutter.


    Härtling, der mit Großmutter und zwei Tanten in einem Frauenhaushalt aufwuchs, fand Ersatzväter. Seinen Deutschlehrer Erich Rall, der ihn mit Literatur vertraut machte, und den Maler Fritz Ruoff, einen alten Kommunisten, der ihn sensibilisierte für alte Nazis und Wendehälse sowie die republikanische, demokratische Tradition in Württemberg. Härtling, der las, was ihm in die Hände fiel, kam über das Lesen ins Schreiben hinein. Die wenig geliebten Nürtinger drängten ihn in die Rolle des "verrückten Poeten". Ein Volkshochschulvortrag, den der 17-jährige über Wolfgang Bochert und dessen Heimkehrerstück "Draußen vor der Tür" gehalten hatte, erregte bei einigen konservativen Lehrern Missfallen.


    Ein mutiger Akt der Selbstbehauptung, der sich als Muster wiederholt im Lebenswunsch, Schriftsteller zu werden. Zunächst jedoch wurde Härtling Journalist. Als Lokaljournalist für alles bei der "Nürtinger Zeitung" erschrieb er sich Ausdrucksvielfalt, dann machte er Karriere: als Literaturblattleiter der "Deutschen Zeitung", als liberaler Redakteur des konservativen "Monat" in Berlin, schließlich als Verlagsleiter beim S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main. An seinem 40. Geburtstag - 1974 - kündigte er plötzlich. Er wollte nicht mehr verlegen, sondern nur noch schreiben - seine Literatur. Härtling erzählt in seinen "Erinnerungen" "Leben lernen" anektodenreich nicht nur von diesen Wendepunkten und Prägungen. Er zieht auch die Linien von der Biographie zu den Dichtern und Künstlern, die er zum Gegenstand seiner oft formexperimentellen Erzählstücke macht. Ob die schwäbischen Dichter Nikolaus Lenau, Eduard Mörike, Wilhelm Waiblinger oder Hölderlin, ob die Komponisten Schumann, Schubert oder ob E.T. A. Hoffmann - in ihnen porträtiert der Wortkünstler Peter Härtling Brüder. Sie sind Einzelgänger, Außenseiter, Unbequeme. Grenzgänger.

    Wo Härtling seinen Lebensentwurf in dieser Autobiographie resümiert darstellt, ist die Lektüre äußerst kurzweilig und bringt intellektuellen Gewinn. In der zweiten Hälfte gleitet sie ein wenig hinein in Namedropping und ins Harmonisieren. Als wollte der erkrankte Autor zu seinem 70. Geburtstag niemanden mehr verletzen.