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Machtprobe in Rom

Silvio Berlusconi kämpft morgen im italienischen Parlament um sein Amt des Premierministers. Umfragen deuten auf eine Abwahl hin. Ist es seine Politik oder sind es seine Skandale und Skandälchen, die ihm den Posten kosten könnten?

Von Kirstin Hausen | 13.12.2010
    "Präsident, wir halten zu dir” heißt es in diesem Song, den man sich im Internet auf der Fanseite von Silvio Berlusconi herunterladen kann. Fans hat er immer noch genug, der angeschlagene Ministerpräsident Italiens. Und es sind nicht nur die politischen Aktivisten, die Parteimitglieder der ersten Stunde, es sind auch die ganz normalen Leute von der Straße, die ihm die Stange halten. Daran ändern auch seine zweite Scheidung und seine Sexskandale mit Minderjährigen und Prostituierten nichts.

    "Das sind private Angelegenheiten, das geht mich nichts an",

    sagt dieser Mann von Anfang 60. Schlimm scheint er die amourösen Eskapaden des Regierungschefs nicht zu finden. Moralisch ein bisschen anrüchig, weil auch eine Minderjährige im Spiel war, aber die sah wirklich gut aus, gibt er mit einem Augenzwinkern zu.

    "Wen interessiert schon, ob er mit diesem Mädchen - er hat sich halt einen netten Abend gemacht",

    sagt er und nickt zufrieden. Berlusconi, der Sexprotz – das ist in Italien kein schlechtes Image. An seinen Frauengeschichten wird Silvio Berlusconi sicher nicht scheitern. Das weiß er, umso unbekümmerter geht er damit um. Mit einem provozierenden Grinsen sagte er zur besten Sendezeit:

    "Besser eine Leidenschaft für schöne Mädchen haben als schwul zu sein."

    Auch diese Äußerung, die international für Empörung sorgte, tut seiner Beliebtheit keinen Abbruch. Er spricht aus, was viele Italienerinnen und Italiener denken und dafür lieben sie ihn. Olga Vattini, Hausfrau und Mutter:

    "Wer hat das schon jemals getan? Niemand. Vor Berlusconi ziehe ich den Hut. Wenn er stürzt, verlasse ich das Land."

    Eigentlich ist er für morgen geplant: Berlusconis Sturz. Doch es könnte alles ganz anders kommen als Parlamentspräsident Gianfranco Fini sich das vorgestellt hat. Fini, bis zum Sommer der Koalitionspartner von Berlusconi, hatte die gemeinsame Partei "Volk der Freiheit" mit mehr als 30 Abgeordneten verlassen und vehement Berlusconis Rücktritt gefordert.

    Doch der Regierungschef war nicht gewillt, abzutreten und so zog Fini die mit ihm verbundenen Minister aus der Regierung ab. Gemeinsam mit den Oppositionsparteien strengte er ein Misstrauensvotum an, das sich nun als Bumerang erweisen könnte. Denn sollten die Rebellen um Gianfranco Fini es nicht schaffen, der Regierung das Vertrauen zu entziehen, gehen sie geschwächt aus dem Machtpoker hervor. Und Berlusconi hat mit dem Abgeordneten Mario Pepe sogar eine Art Headhunter eingesetzt, der so viele Fini-Anhänger wie möglich umstimmen soll.

    Als Köder dienen ein sicherer Listenplatz bei den nächsten Wahlen, politische Ämter und lukrative Beraterverträge. Die Staatsanwaltschaft in Rom hat Ermittlungen wegen Verdachts auf Stimmenkauf eingeleitet, doch Mario Pepe wiegelt ab.

    "Ich versuche nur, die Abgeordneten, die uns aus persönlichen Eifersüchteleien heraus verlassen haben, wieder nach Hause zu bringen und Berlusconi so die Stimmen zu sichern, mit denen er auch ins Amt gewählt wurde."

    Dass es bei dem Bruch zwischen Regierungschef Berlusconi und Parlamentspräsident Fini auch um Inhalte ging, kehren die Berlusconi-Anhänger gerne unter den Tisch. Stattdessen heben sie die Auseinandersetzung auf die persönliche Ebene und bezeichnen Fini und seine Gruppe sogar als "Verräter".

    "Verrat ist ein Konzept, das es in kriminellen Vereinigungen oder totalitären Systemen gibt, aber nicht in einer Demokratie",

    sagt der Soziologe Nando dalla Chiesa.

    "In einer Demokratie gibt es keinen Verrat. Es gibt Opportunismus und man kann sagen, jemand hängt sein Fähnchen nach dem Wind, aber Verrat ist ein ganz anderes Kaliber."

    Doch die Rechnung scheint aufzugehen und steht für das politische Klima im Land. Das Wort "Verrat" hat es aus Berlusconis Fernsehsendern in die Wohnzimmer der Italiener geschafft. Es ist in aller Munde, bei den politischen Diskussionen in Geschäften und Cafés, im Zug und auf der Straße.

    "Für mich war diese Regierung eine gute Regierung und Finis Gruppe hat sie verraten. Jetzt versuchen sie, Berlusconi die Schuld in die Schuhe zu schieben, aber Berlusconi wird nicht zurücktreten und das ist auch gut so, weil alle sagen, dass es uns besser geht, seit er regiert."

    "Fini ist für mich ein Verräter. Er hat nicht genug Spielraum gehabt und sich deshalb mit Berlusconi angelegt. Das ist eine persönliche Sache zwischen den beiden, das glauben so wie ich viele ihrer Wähler."

    Silvio Berlusconi hat immer noch starken Rückhalt in der Bevölkerung. Das liegt zum einen an seiner Fähigkeit, sich als starker Mann zu präsentieren, der nur von den anderen Regierungsmitgliedern an der Umsetzung seiner Versprechen gehindert wird und zum anderen an der Schwäche der Opposition. Der Politikwissenschaftler Gian Enrico Rusconi von der Universität Turin:

    "Der durchschnittliche Berlusconi-Wähler stört sich nicht an den Dingen, die Berlusconi macht, aber daran, dass die ganze Welt über ihn lacht. Aber welche Alternativen hat er? Die Linken bringen mich zum Weinen, wirklich zum Weinen. Sie haben es nicht einmal geschafft, von dieser tiefen Krise zu profitieren. Warum? Weil die linke Führungsschicht aus alten Funktionären besteht. Die tun so, als seien sie die jungen Wilden, das sind sie aber nicht. Sie müssen abtreten. Nicht weil es schlechte Menschen sind, aber weil es immer die gleichen sind."

    Doch die Altgedienten wollen aufstrebenden Hoffnungsträgern keinen Platz machen. Luigi Bersani, der Vorsitzende der größten Oppositionspartei "Partito democratico" schafft es zwar, dass Parteivolk zu mobilisieren, wie die Großdemonstration in Rom am Wochenende gezeigt hat, aber innovatives Potenzial hat er nicht. "Ein Bürokrat", sagen viele. Dabei gibt es im linken Spektrum einen, der heraus sticht. Einen, der anders ist. Unkonventionell, mutig, charismatisch, links. Ohne wenn und aber links. Das ist das Problem. Die moderate linke Opposition will keinen progressiven Linken an der Spitze. Selbst dann nicht, wenn er schafft, was in Italien inzwischen Seltenheitswert hat: er begeistert bei seinen Auftritten die Menschen.

    Sein Name: Nichi Vendola. Sein jetziges Amt: Präsident der Region Apulien.

    Wenn Nichi Vendola öffentlich spricht, hängen die Zuhörer an seinen Lippen. Er ist rhetorisch begabt, hat einen durchdringenden, dennoch freundlichen Blick und reißt das Publikum mit. Vor allem aber ist er optimistisch, und danach sucht man in Italiens politischer Landschaft inzwischen so sehr wie nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen. Vendola scheut sich nicht, Visionen von einem besseren Italien zu verkünden. "Tagträumer" nennen ihn seine politischen Gegner, aber das ist zu kurz gegriffen. Nichi Vendola ist auch ein Macher.

    Einer, der die Dinge in die Hand nimmt – und wo er kann ändert. So wie in seiner Heimatregion Apulien, die als einzige in Süditalien Reform und Innovation erlebt. Mit seinem jungenhaften Auftreten repräsentiert er trotz seiner 52 Jahre im überalterten Italien die neue, frische Generation. Die Generation, die es kaum schafft, aus der zweiten Reihe nach vorne zu treten. Weder in der Politik noch in der Wirtschaft oder Finanzwelt. An den Schalthebeln der Macht sitzen fast immer Männer im Rentenalter.

    Vendola will den jungen Italienern mehr Gewicht geben. Die junge Generation ist jedoch in der Minderheit und würde Vendola nur bei den unter-30-Jährigen punkten, hätte er politisch keine Chance. Doch er schafft es, auch Ältere und sogar Konservative anzusprechen. Nichi Vendola ist gläubiger Katholik – und bekennender Homosexueller. Sein Lebenspartner muss sich nicht verstecken. Das braucht Mut in einem stark vom Vatikan beeinflussten Land wie Italien. Doch Vendola bringt dieser Mut allgemeine Anerkennung ein. In Apulien, wo er seit sechs Jahren regiert, zieht sich seine Beliebtheit durch alle Altersgruppen und soziale Schichten. Nichi Vendola hat bereits öffentlich erklärt, Spitzenkandidat der Linken bei den nächsten Wahlen werden zu wollen. Er entspricht dank seines Charismas einem Erfolgsschema, das der Politikwissenschaftler Gian Enrico Rusconi auf die dominante Rolle des Fernsehens in Italien zurückführt.

    "Die Leute wollen sich amüsieren und hier kommt die italienische Seele zum Vorschein. Die Politik ist reine Unterhaltung, ob da Berlusconi auf der Bühne steht oder jemand anders, alles ist Unterhaltung. In Italien, mehr als anderswo, haben die Medienevents alles andere verdrängt. Das ist eine grundsätzliche Revolution, die die Medien betrifft, aber auch noch darüber hinaus geht. Sie ist untrennbar verbunden mit Berlusconi, aber sie betrifft nicht allein Berlusconi, sie betrifft Italien."

    "Mediendemokratie" ist ein gängiger Begriff für das Phänomen Italien. Gian Enrico Rusconi hält ihn jedoch für überholt. Nach den maßgeschneiderten Gesetzen, die Berlusconi seit 2008 für sich im Parlament durchgesetzt hat, spricht er von einer Post-Demokratie.

    "Post-Demokratie, denn dabei handelt es sich um einen Prozess, der die Demokratie bereits hinter sich gelassen hat. (...) Die Italiener waren in der Geschichte schon öfter eine Art Versuchslabor, den Faschismus haben die Italiener erfunden, den Eurokommunismus, der nicht funktioniert hat, und jetzt haben wir den Berlusconismus erfunden."

    So geht es auch dem Medienwissenschaftler Giorgio Großi von der Mailänder Universität Bicocca. Er hat die Transformation der Medien unter Berlusconi untersucht und kommt zu beunruhigenden Ergebnissen.

    "Die Präsenz von Berlusconi auf der politischen Bühne Italiens hat dazu geführt, dass die Medien, allen voran das Fernsehen, einer klar politischen Logik gehorchen. Das heißt: wenn er in der Opposition ist, benutzt er seine TV-Kanäle als Sprachrohr. Und wenn er an der Regierung ist, regiert er auch noch über die staatlichen Fernsehkanäle. Ausgenommen das dritte Programm, wo er Probleme mit der Kontrolle hat. Das Fernsehen ist die politische Bühne des Landes geworden und die Journalisten haben ihre Autonomie verloren. Sie sind nicht mehr in der Lage, die Politik in ihre Schranken zu weisen."

    Deshalb ist es möglich, dass Silvio Berlusconi sich per Telefon in politische Talkshows einschaltet und solange redet, wie er will. Beispielsweise vergangene Woche bei "Ballarò" einer Diskussionssendung zur besten Sendezeit.

    Was anderswo als peinlich empfunden würde, ist in Italien normal geworden. Für Silvio Berlusconi gibt es keine Grenzen.

    "Er drängt sich dank seiner politischen Macht auf und bestimmt die Regeln. Die Macht der Medien ist zwar keine von der Verfassung garantierte Macht, aber sie hat sich in den Demokratien heute als Vierte Gewalt etabliert und natürlich muss ihre Eigenständigkeit verteidigt werden. Mein Eindruck ist, dass die italienischen Journalisten das vergessen haben und sich nicht mehr entsprechend den Regeln ihres Berufsstandes verhalten."

    Der Medienwissenschaftler Giorgio Großi nennt Italien deshalb eine "Zuschauer-Demokratie".

    "In der "Zuschauer-Demokratie" ist das Verhältnis zwischen der politischen Führungsfigur und den Leuten am Bildschirm essenziell. Das ist kein Verhältnis von Angesicht zu Angesicht, sondern eine Verbindung, die über die Medien hergestellt wird. Alle Länder sind von dieser Entwicklung geprägt. Das bedeutet nicht zwangsläufig autoritär, aber populistisch. Das sehen wir bei Sarkozy und natürlich bei Berlusconi, er ist gewählt, er hat den Konsens des Volkes, er führt das Volk und er steht über dem Gesetz."

    Das ist in Berlusconis dritter Amtszeit besonders deutlich geworden. Die Regierung versucht gar nicht mehr, Berlusconis Wunsch nach einem Gesetz, das ihn persönlich vor Strafverfolgung schützt, in einer komplizierten Norm zu verstecken. Und Berlusconis Wähler finden das sogar richtig. Viele würden ihn im Falle eines Regierungssturzes und damit verbundenen Neuwahlen im Frühjahr 2011 wieder wählen.

    "Wir müssen aufhören, zu glauben, dass er alles, was er tut nur für sich selbst tut. Und wenn schon: die anderen haben das auch gemacht, als sie an der Macht waren. Das ist doch menschlich. Niemand handelt gegen seine eigenen Interessen, das wäre doch blöd."

    Aussagen wie diese bestätigen die These des Politikwissenschaftlers Gian Enrico Rusconi, nach der Berlusconi die negativen Seiten der italienischen Mentalität politisch verkörpert.

    "Der Berlusconismus ist ein bedeutendes Phänomen, das Spuren hinterlassen wird. Das ist eine Mutation der Zivilgesellschaft. Der Berlusconismus ist eine Pervertierung der italienischen Seele. Wenn Berlusconi abtritt, und ich wette darauf, dass das nicht so bald sein wird, wird er dieses Land stark geprägt haben."

    Der Regierungschef steht vor einer Kraftprobe, doch die Abstimmung morgen im Parlament wird –unabhängig von ihrem Ausgang- wahrscheinlich noch keinen Schlussstrich unter seine politische Ära ziehen. Wird die Regierung bestätigt, ist das für Berlusconi ein persönlicher Triumph. Entziehen ihr die Abgeordneten das Vertrauen, sind Neuwahlen am wahrscheinlichsten. Vor allem, weil Berlusconis Regierungspartner Umberto Bossi von der "Lega Nord" den Urnengang einer wie auch immer gearteten Übergangsregierung vorzieht.

    "Die einzige politische Kraft, die Berlusconi am Leben erhält, ist die Lega. Das ist ein Pakt. In diesem Moment braucht Berlusconi Bossi und ich fürchte, die Lega ist noch nicht reif, sich von ihm zu lösen und eine landesweite Partei zu werden."

    Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit ist der Parteigründer Umberto Bossi nach wie vor die Führungs- und Identifikationsfigur der Lega Nord.

    Solange er an der Spitze der Partei steht, ist eine Abkehr von Berlusconi unwahrscheinlich. Das bedeutet: die Stimmenzuwächse, die die Lega Nord seit Jahren verzeichnet, kommen dem jetzigen Regierungschef zugute. Und der tut alles, um Bossi auch weiterhin zufriedenzustellen. Damit erklärt sich die harte Gangart der Regierung gegen Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten, die Aufnahme von Bürgerwehren in den Gesetzeskatalog und das Festhalten am Föderalismus, der die Kompetenzen für das Gesundheits- und das Bildungssystem an die Regionen abgibt. Berlusconi erhält seine Macht, indem er seinen Verbündeten gibt, was sie fordern.

    "Auch die Kirche hat eine enorme Verantwortung. Sie hält das Regime aufrecht, weil es ihr entgegenkommt. Es ist die reichste Kirche in ganz Europa und diese Regierung verschafft ihr so viele Ressourcen wie keine andere. Und unterstützt sie auch noch in ihrer Ablehnung von künstlicher Befruchtung, Sterbehilfe und all diesen Themen. Deshalb toleriert die Kirche in diesem Moment die sexuellen Fehltritte des Ministerpräsidenten."

    Und schließlich spielt auch noch die anhaltende Unruhe an den Finanzmärkten Berlusconi in die Hände. Am Mittwoch, einen Tag nach der Vertrauensabstimmung im italienischen Parlament, befasst sich die EU-Kommission in Brüssel mit den Staatsschulden der Mitgliedsländer. Italien steht mit seiner Rekordverschuldung von 118 Prozent des Bruttoinlandsproduktes denkbar schlecht da. Eine am Vortag gestürzte und nur noch kommissarisch amtierende Regierung würde Italiens Position erheblich schwächen. Zudem endet im nächsten Jahr die Laufzeit von 300 Millionen italienischen Staatsanleihen. Sollte das Land dann mit Neuwahlen statt mit dem Schuldenabbau beschäftigt sein, würde das die Finanzmärkte weiter verunsichern und Italien müsste für seine Staatsanleihen höhere Zinsen bieten. Das Geld dafür hat Italien derzeit aber nicht.

    All dies weiß auch Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano. Er erinnert die italienischen Abgeordneten deshalb seit Tagen an ihre "nationale Verantwortung". Was dazu führt, dass Parlamentarier, die ihre Stimme möglicherweise an Berlusconi verkauft haben, sich bei der Vertrauensabstimmung morgen auch noch als Retter der Nation darstellen können. Mal wieder ist die Situation in Italien komplexer als es von außen scheint. Und mal wieder ist Berlusconis politisches Ende alles andere als gewiss.