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Männliche Gewalt gegen Unschuldige

Der Völkerrechtler Ingo von Münch hat sich dem Thema Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten am Ende des Zweiten Weltkriegs gewidmet - Quellenkritik und Differenzierung sind dabei seine Sache leider nicht.

Von Henry Bernhard | 01.02.2010
    "Frau, komm!" heißt Ingo von Münchs Buch. "Frau, komm!", das war die gängige Aufforderung sowjetischer Soldaten an deutsche Frauen und Mädchen, ihnen zu folgen, um vergewaltigt zu werden.

    "Frau, komm!", dieser knappe Satz muss 1945 in den Ohren einer Frau einen Klang gehabt haben, der sich in seiner Schrecklichkeit heute nur noch erahnen lässt. Denn es entzieht sich schlichtweg dem Vorstellungsvermögen einer jüngeren Generation, was es bedeutet, vergewaltigt zu werden, mehrfach vergewaltigt zu werden, dreifach, vierfach, 40-fach, manchmal über Tage und Wochen hinweg, oder gar zusehen zu müssen, wie die eigene minderjährige Tochter vergewaltigt wird. Von Münch lässt sehr viele Frauen zu Wort kommen, deren Aussagen er den verschiedensten Quellen entnommen hat.

    Am 3. Februar zogen die ersten Einheiten der Roten Armee in die Stadt ein. Sie kamen in den Keller, wo wir uns versteckt hatten, und führten mich und zwei weitere Frauen mit vorgehaltener Waffe in den Hof. Dort wurde ich von zwölf Soldaten nacheinander vergewaltigt. In der nächsten Nacht brachen sechs betrunkene Soldaten in unseren Keller ein und vergewaltigten uns vor unseren Kindern.

    Die Vergewaltigungen wiederholten sich täglich zweimal, jedes Mal mehrere Soldaten, bis zum 7. Tag. Der 7. Tag war mein schrecklichster, ich wurde abends abgeholt und morgens entlassen. Ich wurde am Geschlecht ganz aufgerissen und hatte armstarke Geschwulste vom Geschlechtsteil an beiden Oberschenkeln bis an die Knie. Ich konnte nicht mehr laufen und nicht liegen.

    Dies war das Schicksal vieler deutscher Frauen und Mädchen, seit die Sowjetarmee im Herbst 1944 erstmals in Ostpreußen auf deutsches Staatsgebiet vorgestoßen war. Wirklich belastbare Zahlen über die Anzahl der vergewaltigten Frauen und Mädchen gibt es nicht, verschiedene Schätzungen gehen von ein bis zwei Millionen Opfern aus. Es handelt sich also um Massenverbrechen, nicht um Einzeltaten auf der sowjetischen Seite, um Kriegsverbrechen, da sie größtenteils im Krieg stattfanden, und um eine kollektive Erfahrung auf der deutschen Seite. Gemessen an der Anzahl der Opfer ist über dieses Thema sehr lange sehr wenig gesprochen worden. Von Münch macht dafür verschiedene Gründe fest: Zunächst einmal das schamvolle Schweigen der Opfer und der Täter, aber auch die spezifisch deutsche Selbstkasteiung als "Volk der Täter".

    Die Verweigerung des Opfer-Seins der 1944/45 vergewaltigten deutschen Frauen und Mädchen wird überdeutlich, wenn deren Erlebnisberichte als "Propaganda" bezeichnet werden und das Wort Opfer sogar in Anführungszeichen gesetzt wird, schreibt von Münch. Dabei schreibt er wiederum pikiert "Volk der Täter" oder auch "Vernichtungskrieg" in Anführungszeichen. Das Unwohlsein mit dem Buch verstärkt sich, wenn sich von Münch weigert, die Massenvergewaltigungen in den historischen Kontext aller deutschen Massenverbrechen in Osteuropa zu stellen. Stattdessen fragt er, ob die Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten eine Entsprechung während der deutschen Besatzungszeit in der Sowjetunion gehabt hätten. Mitunter flapsig im Ton und mit wenig historischer Akkuratesse strickt er so im Subtext weiter an der Mär von der "sauberen Wehrmacht". Tenor: Die Wehrmacht hat im Osten nur wenig vergewaltigt, also gab es für die sowjetischen Soldaten auch keinen Grund zur Vergeltung. Ab und an bemüht er einen juristischen Zusammenhang, argumentiert aber auch dabei mitunter schulmeisterlich und blauäugig, spekuliert, wo er keine Fakten findet. Quellenkritik und Differenzierung sind nicht seine Sache. So nimmt er das umstrittene Geschehen in Nemmersdorf, Ostpreußen, im Oktober 1944 für bare Münze, ohne die nationalsozialistische Propaganda zu hinterfragen.

    Keine Vermutung muss man bei der Betrachtung der bekannten Fotos anstellen: Die darauf abgebildeten toten Frauen und Mädchen mit z.T. entblößtem Unterleib sind, wie von einer internationalen Ärztekommission festgestellt worden ist, vor ihrer Tötung durch russische Soldaten vergewaltigt worden.

    Kein Wort davon, dass Goebbels die Ärztekommission beauftragt hat, dass vermutlich Leichen von anderen Orten herbeigeschafft worden waren, dass zumindest die Vergewaltigungen im Nemmersdorfer Kampfgebiet arg umstritten sind, dass Fotos eben nicht immer für sich sprechen können.

    Den mangelnden Überblick über die Quellen versucht von Münch dadurch auszugleichen, dass er möglichst viele Vergewaltigungsopfer und –zeugen zu Wort kommen lässt. Dieser erschütternde vielstimmige Chor des Grauens ist gleichzeitig das Beeindruckendste wie auch das Problematischste an dem Buch: Von Münch benutzt die Zeitzeugenberichte, um seine Thesen zu belegen, ohne sie einer Quellenkritik zu unterziehen. Nun weiß die moderne Geschichtswissenschaft um die Bedeutung von Zeitzeugen, sie weiß allerdings auch um die Fragwürdigkeit der Erinnerung, die immer auch Konstruktion ist. Die Chance, Zeitzeugenberichte an historischen Quellen, zum Beispiel Anzeigen und Arztberichten, zu überprüfen, hat sich von Münch vergeben.

    Er versucht über weite Strecken die Frage zu ergründen, warum es die Massenvergewaltigungen gegeben hat und wer für sie die Verantwortung trägt. Sicher gibt es ein ganzes Bündel von Ursachen: Nach fünf Jahren Krieg galten für die ausgelaugten sowjetischen Soldaten schon lange keine zivilen Regeln mehr. Dauer-Alkoholisierung, sexuelle Lust, Rachegelüste, die Wut auf den Reichtum der deutschen Aggressoren, enthemmende Gruppendynamik und ein enormer Disziplinverlust taten ihr Übriges, um die Frauen und Töchter des Feindes als legitime Beute erscheinen zu lassen. Die Ignoranz der Vorgesetzten und die deutschfeindliche Propaganda schien ihnen dabei auch noch recht zu geben. Ganz sicher trägt die sowjetische Armeeführung die Hauptschuld an den Massenvergewaltigungen, die sie zwar nicht initiiert, aber doch erst Monate nach Kriegsende bekämpft hat. Von systematischen Massenvergewaltigungen als Waffe, wie zum Beispiel später im Bosnienkrieg, kann man jedoch nicht sprechen, dazu fehlte es an zentraler Lenkung und Leitung.

    Dass sich hier männliche Gewalt Bahn gegen Unschuldige brach, ist unentschuldbar, zutiefst bedauerlich und in all seinen Aspekten durchaus untersuchungswürdig. Von Münchs Buch leistet dazu leider keinen großen Beitrag. Es referiert nur andernorts Veröffentlichtes und benutzt die ausufernden Opferberichte, um ein rechtskonservatives Geschichtsbild zu untermauern. Das nützt weder den Opfern noch der historischen Aufarbeitung. Eine ärgerliche Lektüre.

    Henry Bernhard über Ingo von Münch: "Frau, komm!" Die
    Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45. Im Ares Verlag, 193 Seiten für 19 Euro und 90 Cent (ISBN: 978-3902475787).