Donnerstag, 25. April 2024

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Märchen Europa?
"Diese ewige Wettbewerberei macht die Menschen kaputt"

Aus Sicht der Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan hat die negative Stimmung in Europa seit der Bankenkrise stark zugenommen. Falsche politische Weichenstellungen und "Wahltaktiererei" in den Nationalstaaten hätten die Menschen gegeneinandergetrieben, sagte sie im Deutschlandfunk. Städte und Gemeinden müssten grenzüberschreitend "mehr machen können".

Gesine Schwan im Gespräch mit Petra Ensminger | 28.08.2016
    Gesine Schwan in schwarzer Kleidung mit buntem Halstuch vor schwarzem Hintergrund.
    Gesine Schwan am 9.02.2016 auf dem Gründungskongress der paneuropäischen Bewegung DiEM 25 in der Berliner Volksbühne. (imago/IPON)
    Petra Ensminger: Der Brexit, der Streit um die Flüchtlingsverteilung, die Ukraine-Krise - Europa, die EU, wo steuert sie hin? Im Rahmen unserer Sommerinterviewreihe "Märchen Europa" - letzter Teil - habe ich mit Gesine Schwan gesprochen, sie verfolgt und begleitet schon lange die Europäische Politik, als Politikwissenschaftlerin, in ihrer Zeit als Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, als Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Gouvernance in Berlin, die sie bis vor zwei Jahren noch war, als engagiertes SPD-Mitglied. Schon ihr Lebenslauf zeigt, wie wichtig ihr die Europäische Gemeinschaft ist, - weil Sie sich was eigentlich von Europa erwartet hat? Das war die erste Frage an Gesine Schwan.
    Gesine Schwan: Ich habe mir grundsätzlich erhofft, dass der Zusammenschluss der europäischen Staaten und die Zusammenkunft vieler europäischer Bürger und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit aus Europa einen neuen Ort macht der friedlichen Zusammenarbeit, des Austauschs, des kulturellen Austauschs und natürlich auch der ökonomischen Wohlfahrt, dass wir einfach nach diesen Schrecken des Konflikts des Zweiten Weltkriegs, des Nationalsozialismus, etwas Neues aufbauen können, und habe das ja auch am eigenen Leibe erfahren. Ich war hier am französischen Gymnasium in Berlin und habe neun Jahre lang mit Franzosen zusammen die Schulbank gedrückt. Ich war viel in Frankreich, das ist mein erstes Land, Französisch ist nach wie vor die mir nächste Sprache nach dem Deutschen. Und dann auch Polen. Ich habe es immer gerne gehabt, da friedliche Perspektiven und bereichernde Perspektiven zu sehen.
    Ensminger: Wenn Sie heute auf die EU schauen, tun Sie das mit welchem Gefühl?
    Schwan: Mit der Sorge im Moment. Ich glaube, dass die Europäische Union sehr, sehr viel erreicht hat und dass das im Moment verstellt wird durch negative Entwicklungen, die sich vor allen Dingen seit der Finanz- und Bankenkrise ergeben haben, wo aus verschiedenen, in meiner Sicht falschen, politischen Weichenstellungen, die bedingt waren aus der ökonomischen Globalisierung, die Solidarität völlig unter die Räder gekommen ist. Natürlich gab es immer Interessenkonflikte zwischen den Staaten, aber seit dieser Bankenkrise geht es wirklich sehr negativ zu. Das ist eingebettet in eine allgemeine Stimmung des Wettbewerbs. Die Wettbewerbsfähigkeit steht ja immerfort oben an. Meines Erachtens macht das auch innerstaatlich die Menschen ganz kaputt, diese ewige Wettbewerberei, und natürlich zusammen mit anderen sehr schnellen Entwicklungen. Aber ich glaube, wir haben lauter Fehlentscheidungen, gerade auch die deutsche Bundesregierung getrieben, denn die war die mächtigste, die waren alle immer beteiligt, grundsätzlich damit, dass sie die Solidarität versagt hat den Staaten, die unter der Banken- und Finanzkrise gelitten haben, weil sie sie verdächtigt haben, sie haben schlampig gewirtschaftet. Wir haben große Arbeitslosigkeit, das zieht sich jahrelang schon hin, das macht die Staaten hoffnungslos, gerade neuestens auch jetzt wieder in Italien. Und ich glaube, diese falschen wirtschaftspolitischen und politischen Weichenstellungen haben die Menschen gegeneinander getrieben, haben zusätzlich zu traditionellen Vorurteilen neue geweckt, und da müssen wir jetzt rabiat gegen an. Ich meine, vor allen Dingen dadurch, dass wir die Nationalstaaten, die sich sehr gegenseitig blockieren, mehr austarieren damit, dass Städte und Gemeinden in Europa auch grenzüberschreitend mehr machen können.
    Sparpolitik hat viel kaputt gemacht
    Ensminger: Das ist eine Idee, für die Sie sehr stark werben. Da kommen wir auch noch mal dazu. - Das ist ja etwas, was viele sagen, gerade aus dem linkeren politischen Spektrum: Die Wirtschaftsunion steht zu sehr im Vordergrund. Haben wir es tatsächlich versäumt, die politischen Institutionen zu stärken, weil wir die politische Integration nicht wichtig genug genommen haben?
    Schwan: Ich glaube nicht, dass die Wirtschaftsunion das Problem ist, sondern dass eine weitgehend von Deutschland, aber dann auch von einer sehr lang andauernden Barroso-neoliberalen Kommission, der Europäischen Kommission vorangetriebene sehr starke Sparpolitik, dass die ganz viel kaputt gemacht hat. Es ist eine dogmatische Fixierung auf ausgewogene Haushalte, die ganz viel an notwendigen Investitionen und so weiter torpediert hat. Ein Staat ist kein Privathaushalt. Die Idee der schwäbischen Hausfrau, die spart und dann geht’s wieder gut, ist völlig unangemessen für eine Volkswirtschaft, erst recht für eine Verbundwirtschaft, und da ist so viel kaputt gemacht worden aus Dogmatismus. Aber dahinter stehen natürlich auch Interessen, und das muss anders gemacht werden. Natürlich brauchen wir dann auch eine politische Koordinierung, unter anderem, um die Währungsunion doch noch wirklich zum Tragen zu bringen. Sie hatte es ja einigermaßen geschafft, aber mit der Bankenkrise sind all die Herausforderungen deutlich geworden, dass sie in einem föderalen System mit einer gemeinsamen Währung, aber sehr unterschiedlichen Kräften wie in Deutschland zum Beispiel auch, dass sie da Ausgleiche brauchen. Sie brauchen Zahlungsausgleiche, sie brauchen Hilfe. Das ist so in allen Währungsunion, in föderalen Systemen. Und hier ist wirklich falsche Politik gemacht worden.
    Ensminger: Sie haben eingangs aber auch gesagt, es ist viel geschafft worden, auch in der Europäischen Gemeinschaft, in der Europäischen Union, nicht nur die Wirtschaft, die immer überlagert, sondern tatsächlich auch die Gemeinschaft, die ja immerhin eine lange Zeit des Friedens für viele, nicht alle, Staaten gewährleistet hat. Wenn man Sie aber dennoch hört mit Blick auf den Traum von einem geeinigten Europa, hat sich denn vielleicht die Europäische Gemeinschaft als Institution so überlebt?
    "Kein Nationalstaat kann mehr irgendwas erzwingen"
    Schwan: Nein! Sie hat sich nicht überlebt, aber sie muss weiterentwickelt werden. Sie ist entstanden als Kooperation von Staaten, deren Regierungen damals vom Impetus getragen waren, und einige Politiker waren da besonders wichtig, zum Beispiel die Gründer, aber dann auch Jacques Delors und so weiter. Aber wir leben inzwischen in einer völlig veränderten Welt. Wir haben eine ökonomische Globalisierung, wir haben eine technologische rasante Entwicklung. Wir müssen sehr viel mehr versuchen, miteinander zu kooperieren. Das können wir nicht mehr erzwingen. Kein Nationalstaat kann mehr irgendwas erzwingen. Das Problem ist, dass die letzten Jahre damit vertan worden sind, nationale Regierungen wieder zurückgekehrt sind, gerade in der großen Ermächtigung des Europäischen Rates, wo die Regierungschefs sind, die sich eigentlich nur ihrem jeweiligen Wahlvolk verantwortlich fühlen und nicht der Europäischen Union, weil aus ihrem Wahlvolk kommt die Macht, dass die versucht haben - und da ganz besonders die deutsche Regierung, vor allen Dingen unter Angela Merkel und Wolfgang Schäuble -, eine bestimmte Politik auch rechtlich zu erzwingen, die den anderen Ländern nicht gut tat. Sie hat den Deutschen sehr gut getan, wir haben große Vorteile davon gehabt, aber langfristig wird uns das viel kosten, weil wir eine Autorität, die wir positiv durchaus hatten, auch noch unter Helmut Kohl und auch noch unter Gerhard Schröder, weil wir die Autorität verloren haben. Denn Autorität verlangt, dass wir, was man oft mit dem Begriff des benevolenten Hegemon bezeichnet, dass wir wirklich gerecht sind und auch mit den Augen der anderen sehen und mit den Gefühlen der anderen fühlen, und das haben wir nicht gemacht.
    Ensminger: Jenseits der Kritik, Sie haben es gesagt: Wir leben in einer anderen Welt. Also muss auch anders auf europäischer Ebene natürlich agiert werden. Halten wir vielleicht an einem System fest, das sich überholt hat? Müssen wir da eine grundlegende Reform herbeiführen?
    Schwan: Ich glaube nicht mehr so sehr an grundlegende Reformen, obwohl man immer sehr gründlich und systematisch denken muss. Aber mir kommt immer mehr gegenwärtig die Überlegung, dass die Nationalstaaten und die darin agierenden Parteien - und wir können ohne sie gar nicht, ohne die Parteien, wir haben eine repräsentative Demokratie, oft eine parlamentarische, die finde ich auch gut -, aber dass da so viel Macht und Wahltaktiererei betrieben wird, dass die Sachprobleme in den Hintergrund geraten. Ich bin in einer Partei und ich glaube auch, dass man diese Erfahrung haben muss und dass man sich da engagieren muss. Aber wenn ich sehe, wie viele politisch-taktische Erwägungen eine Rolle spielen, bevor man etwas sagt, und wie sehr der öffentliche Diskurs dann auch noch vielfach durch bestimmte Medienbrechungen, die ihre eigenen Logiken haben, verzerrt wird, dann kann ich nachvollziehen, dass viele Menschen denken, da wird kein Problem mehr gelöst, sondern da wird was ganz anderes gespielt. Deswegen glaube ich wirklich, dass auf der kommunalen Ebene gegenwärtig mehr Menschen aus den verschiedensten Parteien den Eindruck haben, hier müssen wir jetzt mehr wirklich unsere Probleme lösen und nicht immer nur rumtaktieren oder auch rhetorisch rumtaktieren. Das ist für mich im Moment eine wirklich große Herausforderung.
    Europäischer Sonderfonds für Kommunen
    Ensminger: Also den Kommunen und den Gemeinden mehr Verantwortung geben, aber im europäischen Rahmen. Das ist eine Grundidee, ich habe es schon gesagt, für die Sie aktuell ja auch sehr werben. Und ergänzen wir vielleicht noch mal ganz kurz auch für die Hörerinnen und Hörer: Ihre Idee, die Sie auch in der SPD versuchen, voranzutreiben, bedeutet, es gibt einen Fonds und jenseits nationalstaatlicher Interessen können sich Gemeinden zum Beispiel, wenn sie sagen, sie möchten Flüchtlinge tatsächlich in ihrem Ort integrieren, dass sie dann dort Gelder abrufen können.
    Schwan: Ja! A: Natürlich behalten die Nationalstaaten das Recht zu bestimmen, wer auf ihren Grund und Boden kommt. Das ist das eine. Man kann es nur kooperativ mit den Nationalstaaten machen. Und das Zweite ist, dass es sehr viel Funding, sehr viele Bezahlungen und Quellen gibt. Die sind aber so schwer abzurufen, dass man ein System der Vereinfachung oder eben doch eine Art Sonderfonds braucht, damit, sagen wir mal, Bautzen sich überhaupt bewerben kann. Die haben ja nicht eine Maschinerie, die sich durch alle Programme kämpfen kann.
    Ensminger: Aber wenn wir auf die Probleme der Europäischen Union schauen, wie viel Durchsetzungskraft da tatsächlich die Institutionen gegenüber den nationalstaatlichen Interessen auch haben - Sie haben es angesprochen -, übertragen wir da den Kommunen nicht zu viel Verantwortung?
    Schwan: Nein! Ich denke, es soll Aufgabe durchaus der Europäischen Union, der Kommission und auch des Europäischen Parlaments sein, durchaus auch der Nationalstaaten, allgemeine Richtlinien zu treffen. Vor allen Dingen meine ich jetzt aber, den europäischen Institutionen gebührt das. Aber ich denke, es geht darum, in diesem Rahmen zum Beispiel Investitions-, Wachstums- oder ich plädiere da für die Migrantenaufnahme, solche Möglichkeiten zu geben, weil es hat keinen Sinn, das von oben herab zu machen, wenn man nicht die lokalen Gegebenheiten sieht. Und dich glaube, dass in der Zivilgesellschaft, in dieser organisierten Zivilgesellschaft, aber auch überhaupt in der Zivilgesellschaft sehr viel mehr Fantasie, Intelligenz, Bereitschaft zu helfen, auch Großzügigkeit da ist, als man das durch die Lupe des nationalen und parteimäßig sortierten, auch medial übertragenen Systems oder der Öffentlichkeit mitbekommt. Und hier finde ich, da habe ich nach wie vor nicht nur meine Träume; ich sehe das doch auch, wenn man das mal verfolgt, was es alles zum Beispiel an Integrationsinitiativen gibt, an fantasievollen Sachen, an Theaterspielen, und da träume ich gerne.
    Ensminger: Aber wenn man das so hört, was Sie da sagen, dann bekommt man dennoch den Eindruck, dass Brüssel, die Europäische Union vielleicht tatsächlich, gerade wenn es um die Gemeinschaft, die Solidarität, die politische Integration geht, vielleicht nicht mehr ganz der richtige Ansprechpartner ist.
    Schwan: Im Gegenteil! Die Nationalstaaten sind es nicht. Brüssel ist es, aber es ist auch durch rechtliche Entwicklungen, Verästelungen inzwischen auch selbst so, wie soll man sagen, gebunden, dass sie manchmal Hilfe suchend um sich schauen und jetzt Gemeinden auch einladen, dass sie Hilfe suchend um Rat bitten, wie es denn möglich ist, am effektivsten diese Städte und Gemeinden zu unterstützen, weil allen bekannt ist, wie schwierig das ist. Wir können ja auch nicht einfach jetzt uns über alle Rechtsvorschriften hinwegsetzen. Es sind ja Steuergelder, die da vergeben werden. Das ist schon harte, wie soll man sagen, Erleichterungsarbeit oder Transparenzarbeit, die da notwendig ist, aber ich finde, das ist aller Mühen wert.
    Ensminger: Ihre Hoffnungen auf eine gute Zukunft für die Europäische Union, die sind noch lange nicht verflogen? Das höre ich raus?
    Schwan: Nein, noch lange nicht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.