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Märchen- und Mythensammler für die Gegenwart

Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm waren zu allen Zeiten immer aktuell und wurden immer in den Zeitgeist mit einbezogen. So kämpfen in Afrika die Bremer Stadtmusikanten beispielsweise mit Al Kaida, sagt Bernhard Lauer, Direktor des Brüder-Grimm-Museums in Kassel.

Bernhard Lauer im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | 22.12.2012
    Doris Schäfer-Noske: Wer das Fernsehprogramm für die Weihnachtszeit plant, der müsste komplett umdenken, wenn es sie nicht gegeben hätte. Die Rede ist von den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm. Die beiden sollten eigentlich Lieder und Märchen für die Volksliedsammlung "Des Knaben Wunderhorn", der Romantiker Clemens von Brentano und Achim von Arnim zusammentragen. Doch da die Auftraggeber das Material nicht nutzten, setzten die Gebrüder Grimm ihre Arbeit in Eigenregie fort. So entstand ein Werk, das in über 170 Sprachen übersetzt wurde und inzwischen zum Weltdokumentenerbe der Unesco zählt. Vorgestern vor 200 Jahren ist der erste Band der Grimmschen "Kinder- und Hausmärchen" erschienen. Über einen Kongress aus diesem Anlass haben wir gestern berichtet. Doch er war nur der Auftakt eines umfangreichen Jubiläumsprogramms in Deutschland. - Frage an Bernhard Lauer, den Direktor des Brüder-Grimm-Museums in Kassel: Herr Lauer, waren denn Grimms Märchen in Deutschland immer so populär wie heute?

    Bernhard Lauer: Ja die Kinder- und Hausmärchen waren eigentlich zu allen Zeiten immer aktuell. Sie wurden nur immer auch in den Zeitgeist mit einbezogen. In der Nazizeit, im Dritten Reich, hat man natürlich auch versucht, die Brüder Grimm, ihr Leben und Wirken in die Ideologie mit einzubauen und sie auch dafür auszunutzen. In der DDR hat es allerdings eine relativ ungebrochene Grimm-Tradition gegeben, wobei aber vor allen Dingen die Märchen von den Unterdrückten und Beleidigten, also etwa die Bremer Stadtmusikanten oder auch das tapfere Schneiderlein, die kluge Bauerntochter, in den Mittelpunkt gerückt wurden, während man doch so den Prinzessinnen, die ja im Märchen nicht so besonders aktiv sind, wenn Sie etwa an Dornröschen oder an Schneewittchen denken, nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat. Umgekehrt: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Grimms natürlich auch von der Politik verdächtigt, mit Schuld am Holocaust zu sein.

    Es hat zum Beispiel ein Verbot in der englischen Besatzungszone gegeben, die grimmschen Märchen nach 1945 zu drucken. Und auch die 68er-Bewegung, zu der ich mich leider auch so ein bisschen zählen muss, die hat unter anderem auch gegen das grimmsche Märchenwerk so ein bisschen revoltiert. Jede Zeit hat die grimmschen Märchen in ihrer Art und Weise interpretiert. Jede Zeit hat sie auch zum Teil versucht, zu instrumentalisieren. Natürlich versuchen auch Hollywoodfirmen, das grimmsche Märchen dann auch für ihre Zwecke darzustellen. Es hat in der letzten Zeit einige, wie ich finde, nicht sehr gelungene Produktionen gegeben. Auf der anderen Seite hat jetzt doch ARD und auch das ZDF die neuen Grimm-Filme herausgegeben und, glaube ich, in einer sehr positiven, einer schönen Weise an die alte DEFA-Tradition auch so ein bisschen angeknüpft.

    Schäfer-Noske: Wie kommt es denn, dass Menschen in ganz unterschiedlichen Ländern diese Märchen bis heute lesen, also auch bis Japan oder Ägypten?

    Lauer: Ich denke, da muss man zwei Gründe anführen. In den Märchen werden allgemeine menschliche Grunderfahrungen dargestellt, das Erwachsen werden, der Konflikt zwischen Eltern und Kindern, die Erfahrung des unbekannten und so weiter. Auf der anderen Seite sind es gerade die grimmschen Märchen gewesen, die in einer sehr schönen Art und Weise, in einer wunderbaren romantischen Erzählform eben diesen Erzählstoffen eine, wie ich finde, weltweit gültige Form gegeben haben, und es sind von daher gesehen immer die grimmschen Märchen, die weltweit im Vordergrund stehen, aber auch in den einzelnen Ländern verheimatet, auf die dortige Lebenswirklichkeit angepasst. Wir werden auch in unserer Ausstellung, die wir im nächsten Jahr präsentieren werden, einmal schauen, wie zum Beispiel die Bremer Stadtmusikanten mit Al Kaida in Afrika kämpfen.

    Schäfer-Noske: Können Sie das mal genauer ausführen?

    Lauer: Die Märchen werden ja immer auch mit Bildern dargestellt. Die Illustrationsgeschichte ist sehr, sehr reich und sie bezieht immer wieder auch politische Dinge mit ein. Und es gibt zum Beispiel Illustrationen aus Afrika, wo die bösen Räuber, die den Bremer Stadtmusikanten gegenüberstehen, dann in dieser Art und Weise mit einer Kalaschnikow und mit langen Bärten und Al Kaida-mäßig dort darstellen und auch Entführungen und so etwas machen. Das werden wir im nächsten Jahr auch zeigen.

    Schäfer-Noske: Gibt es denn auch Unterschiede, welches Märchen wo besonders beliebt ist?

    Lauer: Ich denke mal, weltweit am beliebtesten sind insbesondere die aus der französischen Tradition herrührenden Märchen wie etwa Aschenputtel oder Dornröschen, Schneewittchen, Hänsel und Gretel. Und in Japan zum Beispiel sind vor allen Dingen die Tiermärchen sehr bekannt. Das erste Märchen, was in die japanische Sprache übersetzt worden ist, ist das Märchen von dem Wolf und den sieben jungen Geißlein, und bis heute erfreut sich gerade dieses Märchen in Japan einer ganz besonderen Wertschätzung.

    Schäfer-Noske: Das war Bernhard Lauer, Direktor des Brüder-Grimm-Museums in Kassel, zur Rezeption der Märchen, die vor 200 Jahren erschienen sind. Zum Jubiläum und zum 150. Todestag von Jacob Grimm und dem unbekannteren Bruder Ludwig Emil Grimm 2013 sind viele Veranstaltungen in Kassel und auch weltweit geplant.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.