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Märchenhafter Bildungsroman

Der Held aus Rolf Lapperts Roman "Nach Hause schwimmen" heißt Wilbur und ist schwer selbstmordgefährdet. Rein klinisch gesehen könnte man ihn auch für einen mittelschweren Autisten halten, dazu würden auch die Anfälle von Genie auf ausgesuchten Gebieten passen. Doch Lappert verweigert den Blick von außen. Er bleibt stets solidarisch mit seinem Helden. Und deshalb erscheint uns Wilburs Autismus als eine recht vernünftige Angelegenheit.

Von Walter van Rossum | 15.07.2008
    Heute ist der Tag, an dem ich sterbe. Offenbar versuchen eine Menge Leute, das zu verhindern, doch ich bin so gut wie tot. Ich sehe das Licht, über das ich schon oft gelesen habe.

    So lernen wir ihn kennen: Wilbur - 20 Jahre alt - und gerade mal wieder mit seiner Lieblingsübung beschäftigt: dem Ertrinken. Und wenn gerade kein Meer, kein Teich, kein Fluss, kein Schwimmbad zur Verfügung steht, dann findet er andere Gelegenheiten des Untergangs. Denn Wilbur hat glatt das Zeug, in einer Pfütze Whiskey zu ertrinken.

    Fast hätte sein Leben angefangen wie das der meisten: zwar überzählig bis auf die Knochen, gleichwohl: erwartet. Doch dann stirbt seine irische Mutter bei seiner Geburt in New York und der schwedische Vater ergreift von irrer Trauer übermannt die Flucht. Es beginnt die Karriere eines Findelkindes: flüchtig behütet und dann weitergereicht. Dann geschieht das Schlimmste: Für einige Jahre findet Wilbur nach Hause: zu seiner Großmutter Orla in Irland. Eine wunderbare Frau, die nie richtig lieben durfte, konnte, hält sich an ihrem Enkel schadlos.

    Allein, die glückliche Symbiose zerbricht, als Orla bei einem Unfall stirbt - und Wilbur auch. Zumindest dreht er jetzt dem Leben entschlossen den Ton ab. Und darum geht es auf den vielen hundert wunderschönen Seiten dieses Epos: um den Vorhang der Pupille, der nichts reinlässt und nichts raus.

    Wilbur entwickelt sich zum Meister des alten Kinderspiels: Ich halte mir die Hand vor Augen und weil ich nichts sehe, werde ich nicht gesehen. Und wie die meisten Kinder flunkert Wilbur dabei ein bisschen. Doch immerhin gelingt es diesem Kreuzritter der Verweigerung nur spärlich zu wachsen. Am Ende seiner Wachstumskarriere bringt er es auf etwa 160 Zentimeter.

    Man kann ein Leben nicht retten, das der Gerettete nicht mehr leben will. Es ist, als trage man den Müllsack zu dem zurück, der ihn auf die Straße gestellt hat, und verlange Finderlohn. Ich wollte nicht ertrinken, ich wollte nur nicht schwimmen. Ich hatte keinen Plan. Es war Zufall. Das Leben kehrt heim wie ein kurzzeitig verreister Greis, den man aus Pflichtgefühl aufnimmt. Ich beherberge mich, ich gewähre mir Asyl.

    Gut, rein klinisch gesehen könnte man Wilbur für einen mittelschweren Autisten halten, dazu würden auch die Anfälle von Genie auf ausgesuchten Gebieten passen. Doch Lappert verweigert den Blick von außen. Er bleibt stets solidarisch mit seinem Helden. Und deshalb erscheint uns bald Wilburs Autismus als eine recht vernünftige Angelegenheit. Was soll man sonst machen, wenn das Leben nicht lebt?

    Andererseits sollte jetzt niemand denken, Wilburs Pilgerreise durch die Tiefebene der Misere gestalte sich auch für den Leser zu einem Kreuzgang des Leidens und Mitleidens. Im Gegenteil, sonderbarerweise gerät Wilburs Hängepartie mit dem Leben von Seite zu Seite mehr zu einer wunderbaren Andacht an das Leben - diese Suchmaschine ihrer selbst.

    Ich weiß, wovon ich rede, mein Leben ist ein Flickenteppich aus Erinnerungsfetzen. Alles, was ich bisher getan habe, hat mit meiner Vergangenheit zu tun. Ich habe sie gesucht, habe sie verdrängt, habe darin gelebt und sie verleugnet, habe mich mit ihr getröstet und versöhnt und habe sie verflucht. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich für jeden Schritt, den ich nach vorne mache, zwei zurückgehen. Ich bin zwanzig Jahre alt. Ich wurde mit Mängeln ausgeliefert. Ich bin ein Wunderkind.

    Man würde es sich etwas zu leicht machen, Wilbur für einen Anti-Helden in einer ansonsten funktionierenden Welt zu halten. Denn in diesem Roman gibt es - bis auf eine Ausnahme - weit und breit keine Helden. Nach der Lektüre von Nach Hause schwimmen möchte man glauben, dass die Normalbiographie nichts anderes ist als die rein theoretische Nulllinie der Statistiker. Verständlicherweise zieht Wilbur seinesgleichen besonders an. Und tatsächlich fehlt es nicht an Figuren, die ihm geradezu verfallen. Doch auch die Vertreter von Recht und Ordnung, die Säulen welchen Systems auch immer, erweisen sich bald nachdem sie in Wilburs Dunstkreis erscheinen als wenig begabte Bastler ihrer Existenz. Ein Universum von Verlierern - Abgesandte einer rätselhaften Paradoxie: wer verliert, gewinnt.

    Der Schweizer Schriftsteller Rolf Lappert ist Jahrgang 1958. Bereits in den 80er Jahren erschienen zwei bemerkenswerte Gedichtbände von ihm. Es folgten zwei Romane (Der Himmel der perfekten Poeten, 1994 und Die Gesänge der Verlierer, 1995; Verlag Nagel & Kimche, beide sind demnächst wieder bei DTV lieferbar) Dann hat es ihn eine Weile in die Drehbuchschreiberei verschlagen. In dieser Zeit muss sich so einiges angestaut haben, was schließlich in dieser durchpulsten Prosa zum Ausbruch zu kommt. Lappert lebt teilweise in Irland, in der Schweiz, in Frankreich und Deutschland - meist unterwegs mit Handgepäck.

    Insofern hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem nomadischen Helden Wilbur. Allein, Rolf Lappert ist gefühlte 183 cm groß und alles andere als eine unscheinbare Erscheinung - eher Bruce Willis als Wilbur. Doch ist Wilbur nicht ein verkürztes Anagramm von Bruce Willis? Und dieser Schauspieler spielt tatsächlich eine gewisse Rolle in dem Roman, ursprünglich lautete der Titel gar "Bruce Willis ist tot". Wenn Wilbur hinter vorgehaltener Hand doch heimlich in die Welt spinkst, dann in die Welt des Films, und dabei fasziniert ihn besonders die Figur dieser Koryphäe der Virilität. Und die Kapitelüberschriften folgen seinen Filmen von The first deadly sin, 1980, bis Unbreakable, 2000. Bruce Willis - der Typ also, der im Alleingang und in aussichtsloser Position fünfzig Terroristen niedermetzelt und am Ende im Leuchtkranz seiner Wunden strahlend die Familie umarmt. Dieser knallharte Heartbreaker wurde Schauspieler, um sein Stottern zu überwinden.

    Wilbur fand Gefallen an der Idee, sein Leben sei eine Inszenierung und er eine Figur, die es nicht wirklich gab. In so einem Spiel konnte er verletzt werden, ohne Schaden zu nehmen, genauso wie Orla es ihm im Kino erklärt hatte. Das Schicksal mochte Kugeln und Pfeile auf ihn abschießen, doch er war unverwundbar. Er verspürte weder Freude noch Ungeduld, wenn er sich den weiteren Verlauf des Lebens vorstellte, aber sterben wollte er auch nicht mehr. Der Mann im Film nahm in jeder Sekunde den Tod in Kauf, versuchte jedoch mit allen Mitteln ihn zu verhindern. Es war nicht die Liebe zum Leben, die ihn auf den Beinen hielt, es war die Verachtung für den Tod. Man musste die eigene Existenz als Kräftemessen begreifen, als Wettkampf des Menschen gegen eine höhere Gewalt, die alles daran setzte, einen zu vernichten.

    Wilbur schreibt sogar eine ganze Abhandlung über seinen Helden. Das Manuskript wird abgelehnt, Wilbur wirft es in die Mülltonne. Rolf Lappert hat vor vielen Jahren ein Achthundert-Seiten- Romanmanuskript nach zwei Ablehnungen weggeworfen. (S)eine Art, den Feind zu besiegen. Man könnte sogar sagen: Wilburs Kampf um sein schmales Lebensterrain ist ein Ringen mit dem Bruce-Willis-Mythos in ihm. Schließlich gewinnt er aus schier aussichtsloser Position, keine Leichen säumen seinen Weg. Er schwimmt nach Hause, er wird erwartet: Bruce Willis ist tot. Wilbur lebt! Leben, das heißt, man kommt nicht an, man fängt was an. Kein Sinn, nur ein paar Berührungen.

    Ganz am Ende kapiert man, dass Wilbur sein Leben lang auf der Suche war - ohne es zu wissen. In diesem fast schon märchenhaften Bildungsroman waren die Schlachten der Erfahrung nicht umsonst.

    Rolf Lappert: Nach Hause schwimmen
    Roman. 544 S.
    C. Hanser Verlag. München 2008