Freitag, 19. April 2024

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Mafia und Familienbande

Am 16. Oktober 2005, einem Herbstmorgen im kalabresischen Locri, tritt der Vizepräsident des Regionalparlamentes, Francesco Fortugno, aus dem Gebäude der Staatsanwaltschaft auf den Vorplatz hinaus - da stellt sich ihm ein Killer in den Weg und schießt ihn nieder.

Eine Sendung von Karl Hoffmann | 18.03.2006
    Ein Mord in aller Öffentlichkeit. Und eine unmissverständliche Botschaft: Wer der Mafia in Kalabrien den Kampf ansagt, muss sterben.

    Kalabrien ist der ausgetretene Vorderschuh des italienischen Stiefels. Und das Herrschaftsgebiet der 'Ndrangheta, der besonders brutalen Festlandsvariante der süditalienischen Mafia. Über weite Teile dieser Region mit ihren zwei Millionen Einwohnern hat der Staat jegliche Kontrolle verloren - so dass bereits der Ruf nach einem Militäreinsatz laut wurde, um Recht und Ordnung zu wiederherzustellen. Tatsächlich herrscht die Willkür der Paten und ihrer Familienbanden: Von hier aus wachen sie über ein globales Imperium aus Drogenschmuggel, Waffenhandel, Geldwäsche und Schutzgeld-Erpressung. Geschätzter Jahresumsatz: 35 Milliarden Euro - mehr als das jährliche Bruttosozialprodukt der gesamten Region.

    Und die ehrenwerte Gesellschaft, wie sie sich noch immer nennt, braucht sich um ihren Nachwuchs keine Sorgen zu machen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 28 Prozent. Wer keinen Job hat, geht zur Mafia. Und wer einen Job bekommt, ist auch schon fast dabei. Die 'Ndrangheta ist vermutlich der bedeutendste Arbeitgeber der Region - in einigen Branchen hat sie Monopolstellung: Und macht mit weiß gewaschenen Geldern aus schwarzen Quellen ganz legale Geschäfte.



    Die Fangarme der Krake Mafia
    Junge Leute über Macht und Monopole der 'Ndrangheta
    Kalter Wind fegt feinen Sand über die Küstenstrasse. Bei Siderno steht ein Mac Donalds Restaurant, vor den Kassen drängen sich die jungen Leute. Dienstags kostet der Hamburger nur einen halben Euro. Und viele nützen das aus. Im Winter gibt es nur wenige Alternativen am äußersten Ende der Stiefelspitze: Fast Food, Fernsehen oder Fußball. Regelmäßig treffen sich hier Giuseppe, Giovanni, Stefania und Donatella und plaudern über Probleme, die andernorts für Dauerschlagzeilen sorgen würden. Stefania beißt genüsslich in zwei noch heiße Pommes Frites.

    " Kürzlich ist eine Meldung erscheinen, darin hieß es, dass es in den letzten Jahren hier in Kalabrien keine einzige Anzeige wegen Schutzgelderpressung gegeben hat. Was heißt das - Schutzgelder werden inzwischen von allen bezahlt."

    Schwer, sich vorzustellen, dass auch weltweit operierende Konzerne Geld an die Bosse zahlt. Giuseppe scheint aber keine Zweifel zu haben.

    " Alle wissen davon und keiner wagt es Anzeige zu erstatten. Alle wissen, wer dahinter steckt, aber die Leute schauen weg. Auch in den Behörden bei der Polizei. Ich weiß nicht ob sie das absichtlich tun oder weil sie keine Ahnung haben. Gäbe es mehr Kontrollen, dann würde sich manches ändern. "

    Giuseppe packt den Hamburger aus und zieht am Strohhalm seiner Cola. Den Appetit hat ihm die Vorstellung von den Schutzgeldeintreibern und den 'Ndrangheta-Bossen nicht verdorben. Auch Donatella stürzt sich auf ihr Fastfood Menu, während sie locker über ihre Probleme redet. In Kalabrien fasziniert die Klarheit darüber, was alles im Argen liegt, wie auch die Erkenntnis, dass man an diesen Zuständen leider nichts ändern kann. Zum Beispiel an der Arbeitslosigkeit.

    " Nehmen wir junge Arbeiter oder Angestellte, die werden durchweg ohne Vertrag beschäftigt und erhalten einen Hungerlohn. Jeder hier weiß es, aber niemand wehrt sich dagegen. Wer nicht mitspielt, der wird entlassen, Ersatz gibt es genügend. Denn es gibt hier keine Alternativen. Das ist Alltag, wir sind nichts anderes gewöhnt. Wir wehren uns nicht mehr gegen dieses System, das ist inzwischen Teil unserer Kultur."

    Das McDonalds-Restaurant ist ein Stück heile Welt und der halbleere Parkplatz strahlt Normalität aus, die Sicherheit gibt. Die doppelten Hamburger zum Schleuderpreis sind aufgezehrt, die vier jungen Leute, ein Jurastudent ein Steuerberater und zwei Verwaltungsfachfrauen passen so gar nicht in das Bild, dass sie selbst von ihrer Heimat zeichnen. Die zwei Paare zwischen 22 und 32 leben recht gut in Kalabrien, haben neue Mittelklassewagen, sind schick gekleidet und voller Zukunftspläne. Aber sie hatten Glück, sagen sie: sie stammen aus den wenigen modernen Familien, die sich dank Bildung und Arbeit aus der Umklammerung der alten 'Ndrangheta-Kultur befreien konnten. Giuseppe, konnte studieren und seine Eltern haben genau aufgepasst, dass er nicht in die Kriminalität abgleitet. Was nicht so leicht ist, wo doch gut und böse geradezu hautnah beieinander liegen:

    " Nicht wenige meiner ehemaligen Klassenkameraden sind wegen Mordes im Gefängnis oder stehen unter Mordanklage. Auch ich hatte Schulfreunde, die heute auf Kriegsfuß stehen mit der Justiz. Die haben einen anderen Weg eingeschlagen als ich. Das ist doch ganz normal. Die einen bleiben redlich, die anderen kommen vom rechten Weg ab. Und das gilt nicht nur für Kalabrien, sondern für die ganze Welt. Uns geht es in jedem Fall gut."

    " Wer hier zufrieden leben will, der kann das ohne weiteres."

    " Natürlich wollen wir gewisse Schwierigkeiten in unserer Gesellschaft nicht unter den Teppich kehren."

    " Aber das Klima ist wunderbar, hier leben unsere Familien ziemlich komfortabel, die Lebenshaltungskosten sind relativ gering."

    Vier junge Kalabresen, modern aufgeschlossen, europäisch, kultiviert. Sie sind in ihrer Heimat verwurzelt und haben gelernt, mit all den Widersprüchen der Gesellschaft zu leben. Sie sind stolz auf den rechtschaffenen Teil ihrer Kultur und sind es leid, immer nur mit den kriminellen Elementen, mit der 'Ndrangheta in einen Topf geworfen zu werden.

    " Wir haben uns doch schon gebessert. Auch die 'Ndrangheta hat sich weiterentwickelt. Bis vor zwanzig Jahren hat sie noch überall Schutzgeld kassiert. Inzwischen haben die Mafiosi herausgefunden, dass es viel besser ist, selber Geschäfte aufzumachen als die der anderen in die Luft zu jagen."

    " Ohne Sarkasmus könnten wir mit unserer Geschichte nicht in Frieden leben."


    Die Geschichte der neapolitanischen Camorra, der sizilianischen Cosa Nostra und der kalabresischen 'Ndrangheta geht auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, als die Gründung des italienischen Nationalstaates im Süden des Stiefels ein Machtvakuum hinterließ: Rom interessierte sich nicht für das unzugängliche, rückständige Hinterland - und hatte angesichts der archaischen Familienstrukturen und des historisch gewachsenen Widerstands gegen jede Einmischung von außen auch nur wenig Chancen, seine Autorität als Zentralmacht durchzusetzen.

    Die Mafia schloss die Lücke und übernahm die Kontrolle. Sie legitimierte sich durch ihr Machtmonopol und die mangelnde Präsenz des Staates - die Justiz hat sich bis heute nicht den gebotenen Respekt verschaffen können. Und sie legitimierte sich durch pathetische Rituale und Symbole und durch den Rückgriff auf Normen und Werte, die bereits tief in der Kultur des Südens verwurzelt waren. Bis heute gilt das Gesetz der Ehre und der omertá - die bedingungslose Verschwiegenheit sichert das Überleben dieser Organisation auf der falschen Seite des Gesetzes. Der Treueschwur ist Teil eines Taufrituals, das in einem quasi-religiösen Akt vollzogen wird - der Pakt gilt auf Lebenszeit, wer ihn bricht und zum Verräter wird, hat sein Leben verwirkt.

    Dieser Initiationsritus ist auch Thema im Canto di malavita - im Gesang des Verbrechens: Seine folkloristisch - harmonische Anmutung steht im krassen Gegensatz zu den bedrohlichen Texten, die die Gewalt der 'Ndrangheta verherrlichen.


    'Ndrangheta, Camurra e Mafia

    Es gab ein Schlösschen mit drei Sälen
    Der erste stank nach Verrat
    Drei Tropfen Blut fand ich im zweiten
    Und im dritten gab es eine Gesellschaft
    Hier wurde ich als würdig anerkannt
    Und unter dem Baum der Mitwisser getauft
    Ehrenwerter Kreis, ich grüße Euch alle
    Bis zum Tod bin ich mit Euch verbunden
    Ich bin einer von Euch für Blut und Ehre
    Und um die Unwürdigen und die Verräter zu jagen
    Wir kennen keine Gnade und wir vergeben nicht
    Das ist der Befehl der Gesellschaft
    Die 'Ndrangheta, die Camorra und die Mafia
    sind die organisierte Gesellschaft
    Die 'Ndrangheta, die Camorra und die Mafia
    Gesetze der Ehre, Gesetze der Schweigsamkeit


    Den Schwur, sich auf Leben und Tod den Regeln der ehrenwerten Gesellschaft zu unterwerfen, kennen alle Mafiaorganisationen. Und doch unterscheidet sich die 'Ndrangheta von der Camorra und der Cosa Nostra: Sie ist undurchsichtiger, viel brutaler, viel skrupelloser. Diese Organisation wird wie keine zweite durch enge Familienbande zusammengehalten. Das macht die 'Ndrangheta so mächtig - und ihre Opfer so hilflos.



    Rocco & Rocco
    Der Versuch zweier Autowäscher, sich die Mafia vom Leib zu halten
    Die Sperrholzplatte, die an einem Straßenschild lehnt, ist selbst gemalt. "Autolavaggio due ERRE", Autowäsche zwei R steht in zwei Zeilen und drunter ist ein Pfeil, der in eine Seitenstrasse zeigt. Rechter Hand ist eine Art Waschhalle, bestehend aus einem Betonboden mit einem Gully in der Mitte und roh verputzten, sechs Meter hohen Seitenwänden, auf denen ein Wellblechdach ruht. Aus dem Halbdunkel kommt ein schmaler kleiner Mann. Er hat silbrig gelockte Haare, sein Mund verzieht sich zu einem freundlichen Lächeln. Er begutachtet den Lieferwagen und weist den Kunden schließlich in die Mitte der Halle ein. Dann macht er sich mit der Hochdruck-Wasserpistole an die Arbeit.

    " Wir waschen von Hand, das ist nicht wie in der Waschstrasse, bei uns wird der Wagen viel schonender sauber. Hier wird der Lack nicht von rotierenden Bürsten zerkratzt. Erst wird der grobe Schmutz beseitigt, dann kommt das Shampoo - das ist ein Wäsche wie es sich gehört."

    Rocco ist mit einer Vorsicht bei der Sache, als wäre er ein Friseur, der einem Kunden die Kopfhaut massiert. Rocco ist 56, seit dreißig Jahren wäscht er Autos und Lastzüge. Zusammen mit seinem um vier Jahre jüngeren Partner, auch der heißt Rocco, deshalb die zwei R auf dem selbst gemalten Firmenschild. Rocco & Rocco sind außerdem Schwäger, seit sie zwei Schwestern geheiratet haben. Sie leben vor allem von Stammkunden, die die abseits gelegene Waschhalle schon seit langem kennen. Es wird immer schwieriger, von ehrlicher Arbeit zu leben, auch darin sind sich die beiden Roccos einig.

    " Seit dreißig Jahren arbeite ich jetzt hier in dieser Halle, ich habe keine Zähne mehr, wegen der Feuchtigkeit habe ich überall Rheuma, schauen sie sich meine Hände an. Wenn ich irgendwann mal in Rente gehen kann, dann krieg ich als Freiberufler grade mal 500 Euro Rente."

    Der jüngere Rocco redet sich schnell in Rage. In Kalabrien könnte man herrlich leben, wenn nicht auf jeden ehrlichen Arbeiter fünf andere kämen, die keinen Strich tun und in Saus und Braus leben.

    "Das ist der erste Kunde heute Morgen. Wo soll ich hin in meinem Alter. Wer zum Teufel sollte mich mit meinen 54 Jahren noch wollen? Hab ich recht oder nicht? Mit bleibt nichts anderes als durchzuhalten, bis sie mir meine dürftige Rente geben. Andernfalls verhungern wir. Wir leisten weiter ehrliche Arbeit und lassen uns unseren Stolz nicht nehmen."

    Das System Mafia beherrscht den Arbeitsmarkt, vermittelt einerseits Arbeitskräfte, ist aber andrerseits auch verantwortlich für die hohe Arbeitslosigkeit. Die 'Ndrangheta saugt das Land aus. Der kleine Mann in Kalabrien wird der Mafia regelrecht in die Arme getrieben. Rocco und Rocco empfinden inzwischen tiefe Wut auf die Politiker, welcher Partei auch immer. Meint der Ältere mit inzwischen maliziösem Lächeln:

    " Haben Sie nicht mitbekommen, wie viel die da oben wieder geklaut haben? Die bringen Milliarden auf die Seite und was bleibt dem kleinen Mann übrig? Es sind die Großkopferten, die in der Regierung, die stehlen das ganze Geld. Alle haben sie Gerichtsverfahren am Hals, aber nach vierzehn Tagen Untersuchungshaft sind sie wieder auf freiem Fuß. Aber wenn sich der kleine Mann etwas zuschulden kommen lässt, dann muss er schrecklich büßen. Die machen Dich echt fertig. Aber mit den Verbrechern sind sie zahm: wie viele Mörder sind schon nach kurzer Zeit wieder auf freiem Fuß. Ständig hört man im Fernsehen von solchen Fällen. In Italien gibt's keine Gerechtigkeit, hier herrscht kein Recht und kein Gesetz mehr."

    Die laxe Justiz ermuntert die Picciotti, die Geldeintreiber der 'Ndrangheta zur Dreistigkeit. Sie kommen unangemeldet, bestaunen listig Laden oder Werkstatt ihres Opfers und sprechen dann von möglichen Unannehmlichkeiten. Da weiß dann jeder gleich Bescheid. Ein unerträgliches Unrecht für schwer arbeitende Kleinunternehmer.

    " Ich will ihnen mal was sagen: Wir schuften wie die Maulesel von morgens bis abends und uns bleibt noch nicht mal so viel Geld übrig, dass wir mit der Familie Pizza essen gehen können. Entweder man zahlt, oder man macht seinen Laden dicht. Ich, der ich hier schufte soll jemandem 500 oder 1000 Euro Schutzgeld im Monat bezahlen? Kommt nicht in Frage. Da mache ich den Laden zu und gehe nach Hause. Ich soll arbeiten, damit die sich mit meinem Geld ein schönes Leben machen? Einen Scheißdreck werde ich tun."

    Rocco und Rocco bestreiten, dass auch sie an die Bosse zahlen. Sie wissen, dass sie schutzlos sind, das schwächste Glied in einer raffgierigen Gesellschaft, eingekeilt zwischen gesetzesverachtenden Räuberbanden und skrupellosen Politikern, die für ein paar Wählerstimmen ihre eigene Großmutter verkaufen würden. Sie ziehen es vor, sich in ihrer eigenen kleinen Welt zu verschanzen, statt sich offen zu wehren, weil sie nämlich garantiert den Kürzeren ziehen würden. Rocco dem Jüngeren macht das Älterwerden Sorgen - und die Zukunft seiner Kinder:

    " Gebe Gott, dass mir nichts Schlimmes passiert. Denn wenn ich krank würde - ich wüsste nicht, wie es dann weitergehen sollte. Aber wissen sie, was meine größte Sorge ist? Meine Kinder, die zukünftigen Generationen. Nichts kann ich denen hinterlassen, obwohl ich mich ein Leben lang für sie abgeschuftet habe."





    Nirgendwo hat die Mafia so eine lange Blutspur hinterlassen wie in Kalabrien. Auch die internen Auseinandersetzungen werden viel erbitterter ausgetragen als in Sizilien: Die Zahl der Toten beim Bandenkrieg der 'Ndrangheta Ende der achtziger Jahre lag bei über eintausend. Ein Mantel des Schweigens hat sich über all diese Verbrechen gelegt - das Syndikat hält dicht.

    Das hat eine lange Tradition, sagt der kalabresische Schriftsteller Corrado Alvaro. Mitte der fünfziger Jahre beschrieb er in der Zeitung Corriere de la Serra eine Begebenheit aus Jugendtagen.


    Ich weiß von der 'Ndrangheta, der ehrenwerten Gesellschaft, kurz: von der Mafia, seit ich denken kann. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal nach Hause kam, um dort meine Ferien zu verbringen. Meine Mutter rannte mir entgegen, um mich vorzuwarnen, dass mein Vater oben im Wohnzimmer sitze - mit "denen von der Gesellschaft", wie sie sagte. Ganz erfreut fragte ich zurück: "Ja, gibt es denn in diesem Dorf auch endlich eine Gesellschaft?" - denn als Student in den letzten Semestern hatte ich zunächst an eine Art Genossenschaft gedacht, die gegründet worden sei, um sich für die Gemeindeinteressen einzusetzen. Meine Mutter widersprach mir aber heftig: "Es ist die Gesellschaft der Verbrecher". Ich habe keine Ahnung, warum mein Vater sich mit ihnen einließ. Aber ehrlich gesagt: Überrascht hat es mich nicht. Niemand in dem ganzen Dorf glaubte, dass man "diese Gesellschaft" irgendwie verhindern könne - gar nicht mal aus Angst, sondern weil sie eine Art Oberschicht repräsentierte. Weil wir nur völlig konfuse Vorstellungen über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit oder Legalität und Illegalität hatten, und weil wir uns keinerlei Gedanken darüber machten, wie sie ihre Macht missbrauchten, fanden auch wir überhaupt nichts dabei, uns mit einem 'Ndranghitista einzulassen.

    Der 'Ndrangheta ist auch deshalb so schwer beizukommen, weil sie über raffinierte Führungs- und Organisationsstrukturen verfügt. Sie wird straff geführt - und lässt den einzelnen Familien und ihren Clans dennoch ein Maximum an Autonomie. Sie ist unterteilt in verschiedene Gruppen und Sektionen. Es gibt eine "obere Gesellschaft", bestehend aus einem dreiköpfigen Führungsgremium, dem Crimine. Hier werden wesentliche Entscheidungen getroffen und Konflikte beigelegt. Und es gibt eine untere Gesellschaft, die Klasse der Befehlsempfänger - eingeschworen auf absoluten Gehorsam. Diese Camorristi und Picciotti besorgen das eigentliche Schmutzgeschäft: Drogenschmuggel, Waffenhandel, Schutzgelderpressung, Raubüberfälle, Brandanschläge. Der Terror gehört zum Alltag in Kalabrien: 300 Attentate gab es im vergangenen Jahr auf Geschäfte, Fabriken, Restaurants, Rathäuser. Doch die Zahl derer wächst, die sich dem Terror nicht mehr beugen wollen.


    Das Schweigen brechen
    Eine Unternehmerin trotzt dem Terror und setzt ihm Widerstand entgegen
    Soriano liegt auf der dem tyrrhenischen Meer zugewandten Seite Kalabriens. Schon die Ortseinfahrt bietet einen trostlosen Anblick. Haufen von Müll, alte Autoreifen, aber auch halbfertige Häuser und Betonskelette, ungepflegte kleine Handwerksbetriebe. Etwa zweihundert Meter nach dem Ortsschild taucht linker Hand ein großes gelbes Tor auf, ein geteerter Parkplatz, halb überdacht, dahinter ein verschachteltes zweistöckiges Lagerhaus, in dem drei stämmige Arbeiter mit dem Abladen eines Lastwagens beschäftigt sind.

    Wer nach dem Chef fragt, steht unversehens einer zierlichen Person gegenüber, die wie ein Teenager wirkt, blonder Pagenkopf, schmale Figur, jugendliche Kleidung. Das vermeintliche Mädchen ist eine gestandene Frau, sie heißt Vladimira Pugliese Varì, ist gertenschlank, kaum einen Meter sechzig groß, ein Energiebündel. und die Chefin einer kleinen Firma, die seit vielen Jahren der 'Ndrangheta trotzt.

    " Seit 1998 sind 12 Anschläge auf uns verübt worden. Alles Mögliche haben sie Brand gesteckt, Lager, Möbel, Autos, Lieferwagen, sogar am helllichten Tag. Dann kamen anonyme Anrufe, vor der Wohnungstür und am Fabriktor standen immer wieder mit Benzin gefüllte Flaschen. Seit sieben Jahren Drohungen ohne Ende."

    Vladimiras Firma mit einem halben Dutzend Angestellten ist ein Familienbetrieb. Seit drei Generationen werden hier Körbe und Möbel aus Weidenruten geflochten. Dank der wesentlich billigeren Importware aus Fernost ist zwar die Eigenproduktion zurückgegangen, dafür hat Vladimira Vari den Handel mit Gartenmöbeln und Korbstühlen aber erfolgreich ausweiten können. Dumm nur, dass andere mitverdienen wollen. Die Anschläge nehmen kein Ende und lassen nur einen Schluss zu:

    " Das sind eindeutig Erpressungsversuche. Die anonymen Anrufer fordern uns immer wieder auf, Vorsorge zu tragen. Im Mafiajargon heißt das, wir sollten Kontakt aufnehmen mit diesem oder jenem, der uns dann mit den Hintermännern der Attentate zusammenbringen sollte, um uns mit ihnen zu einigen. Und eine monatliche Zahlung von Schutzgeld zu vereinbaren. Weil wir uns aber nie auf dieses Spiel eingelassen haben, gab es immer wieder neue Anschläge, im Schnitt zwei pro Jahr. Der letzte am 11. Juni letzten Jahres."

    Die zierliche Gestalt im pastellfarbenen Rollkragenpulli und in eng anliegender Hose reibt sich die Hände vor dem kleinen Elektroöfchen. In Kalabrien sind Heizungen auch heute nicht üblich. Doch es ist nicht nur die kalte Jahrszeit, die der jungen Frau zu schaffen macht. Sieben Jahre lang haben Valdimira und ihre Familie immer wieder Anzeige erstattet und gehofft, die Täter würden gefasst und vor Gericht gestellt. Doch die Polizei tappt im Dunkeln, und wenn sie ihre Streifenfahrten rund ums Firmengelände wieder einstellt, kommt das nächste Attentat. Der Sachschaden beträgt mittlerweile mehr als eine Million Euro. Der moralische Schaden lässt sich nicht beziffern, sondern nur beschreiben:

    " Wir leben in ständiger Angst, schrecken auf bei jedem verdächtigen Geräusch, am Tag wie in der Nacht, wir fürchten uns vor anonymen Anrufen. Und da fragen wir uns dann: ist das noch Leben oder grade mal Überleben. Und dann sagen wir uns: nein, es ist nicht richtig, nachzugeben oder gar aufzugeben. Denn wir sind ja die anständigen Bürger. Warum sollen wir uns der Kriminalität beugen? Und schließlich haben wir ein Kind. Können wir dem etwa ein Bild vermitteln von seinen Eltern und von einer ganzen Gesellschaft hier in Kalabrien, die sich in die Knie zwingen lassen?"

    Ihr Mut zur Anklage ist gleichzeitig auch ihre Lebensversicherung, meint Vladimira, während sie hinunter geht ins Lager, um das Tor zu schließen, denn die Arbeiter werden zur Mittagspause gleich nach Hause gehen. Die Mafiosi verunsichert das grelle Licht der Öffentlichkeit. Sie ist offensichtlich das beste Mittel, um sich vor ihnen zu schützen. Allgemeines Schweigen ist dagegen ein guter Nährboden für die 'Ndrangheta.

    " Die meisten Kalabresen halten den Mund, weil sie Angst haben. Nehmen wir zum Beispiel die Pentiti, geständige Mafiosi, wegen der Blutsbande eine ausgesprochene Seltenheit bei der 'Ndrangheta. Und die wenigen, die der Justiz all ihre Geheimnisse verraten haben, wurden dann einfach sich selbst überlassen. Ohne persönlichen Schutz und finanzielle Unterstützung. Ist doch klar, dass man unter solchen Umständen besser nichts mehr sagt."

    Vladimira hat noch ein Tabu gebrochen: sie will der Komplizenschaft zwischen Mafiosi und Politikern ein Ende setzen und ist deshalb selbst in die Lokalpolitik eingestiegen. Sie kämpft in den Reihen der demokratischen Linken für eine radikale Wende, um der Krake 'Ndrangheta die Tentakel abzuhacken, bevor sie alles verschlingt und auch mutige Frauen wie sie selbst am Ende zum Schweigen bringt. Sie verabschiedet sich kurz von ihren Mitarbeitern, dann kann ihr Vorarbeiter Luciano, bevor er durchs Tor geht, nicht mehr an sich halten: zwar findet er seine Chefin prima, aber Vertrauen in die Politik hat er nicht:

    " Die Mafia und die 'Ndrangheta werden erst verschwinden, wenn es keine Politiker mehr gibt. Und das ist die reine Wahrheit. Aber die Politiker werden nie aussterben."




    1992 ermordete die Cosa Nostra den prominenten Mafiajäger Giovanni Falcone, seine Frau und drei Leibwächter. Wenig später auch seinen Kollegen Paolo Borsellino. Die Folge war ein Aufschrei der Empörung in der italienischen Öffentlichkeit. Die Mafia war zu weit gegangen. Auf Sizilien formierte sich eine starke Anti-Mafia-Bewegung, die auch die Politik zu scharfen Gegenreaktionen zwang - die Kronzeugenregelung zeigte Wirkung, ein Zeugenschutzprogramm wurde aufgelegt. Es folgte eine Verhaftungswelle - und die Cosa Nostra stürzte in eine tiefe Krise.

    Davon profitierte die kalabresische 'Ndrangheta, die das Drogenkartell der Cosa Nostra übernahm und den gesamten Kokainimport von Lateinamerika nach Europa unter ihre Kontrolle brachte. Lange hielt die omertá, noch gab es keinen einzigen Kronzeugen aus dem Kreis der 'Ndrangheta. Bis der bayerischen Polizei im Mai 1998 Giorgio Basile im Bahnhof von Kempten ins Netz ging - und der packte aus: Nannte Namen und Verstecke, Hintermänner und Zeugen. Lieferte einen ganzen Familienclan der Justiz aus und mischte halb Kalabrien auf. Giorgio Basile steht heute auf der Todesliste. Der ehemalige Top-Mann der 'Ndrangheta, der Auftragskiller und Drogenboss, brach das Gesetz des Schweigens. Heute lebt er mit Frau und Tochter und neuer Identität irgendwo in Italien.


    I Cunfirenti - Die Verräter

    Du bist kein Mann. Du bist ein Nichts. Verkauftes Fleisch.
    Die Herzen vieler Leute hast Du verraten.
    Du bist ein Spitzel und ein Verräter
    Wer Fehler macht, bezahlt mit dem Leben
    Du bist es nicht wert zu leben
    Du hast das Seidentuch getragen
    Aber Du hattest keinen Respekt
    Jetzt brauchen wir Dein Blut, um es zu waschen.


    Die Festnahme Basiles war ein schwerer Schlag für die 'Ndrangheta - und seine Aussagen ein Schock für die Behörden: Plötzlich bekamen sie Einblicke in die internationalen Verflechtungen der kalabresischen Mafia, die zum global player des organisierten Verbrechens aufgestiegen war: Begünstigt durch die rasante Expansion im weltweiten Drogenhandel. Gefördert durch öffentliche Gelder, die eigentlich einer zurückgebliebenen Region zugute kommen sollten - sei es aus dem italienischen Staatshaushalt oder aus EU-Mitteln: allein aus dem Topf der Agenda 2000 flossen in den letzten sechs Jahren 5 Milliarden Euro nach Kalabrien, und die Subventionen sprudeln weiter. Ob im Baugeschäft, in der Müllabfuhr, im Tourismus - überall hat die ehrenwerte Gesellschaft ihre Finger im Spiel. Dirigiert wird das globale Schattenreich über Satellitenschüsseln, die überall in den verwinkelten Bergdörfern an schäbigen Hausfassaden zu sehen sind.

    Diese Fassaden der Armut sind bloße Tarnung, sagt ein mutiger Mann im Städtchen Locri - ausgerechnet dort, in der Hochburg der 'Ndrangheta, sagt er der Mafia den Kampf an.




    Der Reichtum aus dunklen Quellen
    Ein Anti-Mafia-Aktivist über das globale Wirtschaftsimperium der 'Ndrangheta
    Locri 9 Uhr morgens, die Bar an der Piazza Centrale. Enzo Ierace geht an den Tresen , höchste Zeit für den Morgenespresso.

    Nicht weit weg von hier wurde am 15. Oktober 2005 Franco Fortugno erschossen. Viele Bürger protestierten spontan, auch Enzo Ierace. Er kämpft seit seiner Jugendzeit, erst als Kommunist und später bei den Anarchisten gegen Korruption, Gewalt und die organisierte Kriminalität. Der kleine Mann mit dem dunklen Schnauzbart gilt als Außenseiter: Wer es mit der 'Ndrangheta aufnimmt, ist wie ein Ritter von der traurigen Gestalt, der gegen Windmühlen kämpft. Aber Enzo konnte sich bis heute nicht damit abfinden, dass ausgerechnet in seiner Heimat das Verbrechen so tiefe Wurzeln geschlagen hat. Und er fragt sich immer wieder: warum gerade in Kalabrien?

    " Würden wir Kalabresen uns mit derselben Hingabe nicht kriminellen, sondern legalen Geschäften widmen, dann wären wir heute die Kings in der Welt. Ich weiß auch nicht, was der Grund für den Hang zur organisierten Kriminalität ist. Dabei sind wir ausgesprochen gastfreundlich. Die Fremden, die zu uns kommen, werden von uns echt verwöhnt. Darauf kannst du dich verlassen. Aber die Kriminalität? - Vielleicht ist das unser griechisches Erbe. Das Wort 'Ndrangheta kommt ja auch möglicherweise aus dem Griechischen und könnte so etwas wie "Mann mit Tugenden" bedeuten. Das ist unser antikes Erbe, das gilt auch für die Familienfehden. Auch heute noch kommt es vor, das sich Clans bekriegen, wegen banaler Dinge."

    Was sie aber nicht davon abhält, gemeinsam weltweit Geschäfte zu betreiben. Längst ist Kalabrien - beinahe - überall. Mit Korruption hat sie es erreicht, auch in anderen Ländern Fuß zu fassen. Die 'Ndrangheta, weiß Enzo Ierace, hat alle Mittel, die sie benötigt.

    " Die 'Ndrangheta hat haufenweise Geld, das immer weiter investiert wird. Auch in Deutschland! Ihr Deutschen seid wahrlich nicht besser dran. Da herrscht eine unglaubliche Situation. Ganze Stadtviertel haben die Bosse in euren Städten aufgekauft. Und zusammen mit anderen Organisationen, wie der russischen und der kolumbianischen Mafia, kontrollieren sie den Rauschgifthandel. In Deutschland, in Holland, ja in ganz Europa hat es eine Invasion der 'Ndrangheta gegeben."

    Mollica, Di Giovine, Pelle, Romeo, Ietto, Longo, Piramalli - das sind nur einige wohlklingende Namen der etwa zwei Dutzend in Deutschland operierenden 'Ndrine, der einzelnen kalabresischen Mafiafamilien, von denen es insgesamt 155 gibt mit etwa 6000 bis 9000 Mitgliedern. Alle Angehörigen eines Clans sind miteinander verwandt, diese Blutsbande sind das Geheimnis des kriminellen Erfolges. Daran hat sich nichts geändert, ansonsten allerdings jede Menge: Die 'Ndrangheta wird deshalb immer gefährlicher, weil sie nach und nach in legale Wirtschaftsbereiche eindringt.

    " In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Welt mit Riesenschritten verändert, die 'Ndrangheta mit eingeschlossen. Auch sie schickt jetzt ihren Nachwuchs auf die Uni, lässt die Söhne auf teuersten Schulen im In- und Ausland zu Spezialisten ausbilden. Und deswegen weise ich immer wieder daraufhin, dass die 'Ndrangheta nicht nur eine Gefahr für Kalabrien darstellt, sondern für ganz Europa. Diese Mafia ist heute ein Staat im Staat. Europa muss vereint mit entsprechenden Gesetzen und Polizeieinheiten gegen dieses organisierte Verbrechen vorgehen. Diesen Kampf auf Kalabrien zu beschränken, hat überhaupt keinen Sinn."

    Gianni hat seinen Espresso macchiato getrunken und macht sich auf den Weg ins Büro. In seiner Freizeit organisiert er Sozialkooperativen, bestehend aus jungen Arbeitslosen, für die er Aufträge und Finanzmittel von der Gemeinde loszueisen versucht. Eine der wenigen Initiativen, mit denen junge Leute die Chance auf eine Zukunft bekommen sollen, die sie nicht in die Fänge der 'Ndrangheta treibt. Das wird solange gut gehen, bis auch die 'Ndrangheta auf die Idee kommt, ähnliche Kooperativen auf die Beine zu stellen. Am Zeitungsstand holt sich Gianni das Lokalblatt. Dass am Vortag ein Auto in Flammen aufging, ist den Zeitungsmachern nicht mal eine kleine Meldung wert.

    " Das ist das Hauptproblem, die Menschen hier haben sich an so etwas gewöhnt, am Ende wird sogar ein Mord als etwas ganz Normales empfunden. Wie der am Vizepräsidenten der Region, der doch ein klares Signal der Mafia an die Politiker war. Die neue linke Regionalregierung von Kalabrien will Veränderungen und das passt der 'Ndrangheta ganz und gar nicht in den Kram."




    Als Giorgio Basile Ende 1998 von seinem Richter gefragt wurde, warum er sich entschlossen hatte, zum Pentito, zum Kronzeugen zu werden, gab er zur Antwort: "Die Mafia ist eine Lüge. In Wirklichkeit gibt es gar keine Ehrenmänner".

    Basile sprach der 'Ndrangheta jegliche Legitimation ab. Und auch Mafiaexperten sehen die Organisation in einer schweren Identitätskrise. Das angebliche Wertesystem aus Ehre und Omertá sei als Popanz zum Nutzen der Bosse entlarvt worden, ihre Glaubwürdigkeit untergraben. Der unvorstellbare Reichtum habe blutige Bandenkriege provoziert, die den inneren Zusammenhalt der Organisation geschwächt hätten. Schließlich sei die internationale Konkurrenz noch brutaler, noch skrupelloser und so stark geworden, dass es der Mafia immer schwerer falle, sich zu behaupten. Der Überläufer Giorgio Basile sei ein Symbol - er stehe für einen schleichenden Erosionsprozess. Tatsächlich folgten mittlerweile 150 'Ndranghentisti seinem Beispiel und stellten sich als Kronzeugen zur Verfügung.


    Addiu 'Ndrangheta: Lebewohl Mafia

    Meine Nächte vergingen ohne Schlaf
    Um Dinge zu bedenken, die nur die Sterne kennen
    Endlose Berge um mich herum
    Und so erwachte der Morgen

    Lebewohl 'Ndrangheta, ich werde dorthin gehen
    Wo man Tag und Nacht spazieren gehen kann
    Die Gesetze habe ich alle im Kopf
    Ich bleibe verschlossen und mein Herz ist stark
    Die Kälte kriecht mir bis in die Knochen
    Und ich denke an Zuhause und die Kinder
    Eines Tages werde ich ein Loch reißen
    Um die alten Dinge zu begraben
    und etwas Neues anzufangen


    Doch trotz aller Krisensymptome ist die Mafia mächtiger denn je. Das Netz des organisierten Verbrechens wird immer raffinierter geknüpft. Die Familien der 'Ndrangheta halten entgegen dem vorsichtigen Optimismus der Ermittler nach wie vor zusammen wie Pech und Schwefel. Ihre Bande sind stärker als der Staat und das Rechtsempfinden. Die Verbindungen zur Politik sind diskret, aber unverändert eng. Das Schmiermittel der italienischen Politik - der Stimmenkauf - funktioniert immer noch und sichert der Mafia Macht und Einfluss. Erneut hat die Partei Silvio Berlusconis bei den anstehenden Neuwahlen gute Chancen, sich die meisten Direktmandate in Süditalien zu sichern. Und wer den Süden gewinnt, gewinnt Rom, heißt es. Die Politik Berlusconis hat der Mafia keinesfalls geschadet, sagen viele. Jedenfalls hat sein erbitterter Kleinkrieg gegen unabhängige Richter und kritische Staatsanwälte von den wahren Problemen der Justiz abgelenkt und das Vertrauen in den italienischen Rechtsstaat keinesfalls gestärkt.

    So setzt Mafia ihr zerstörerisches Werk fort und versucht immer offener, politischen Einfluss zu gewinnen. 32 Kommunalregierungen wurden in den letzten vier Jahren aufgelöst, weil sie von Mitgliedern der ehrenwerten Gesellschaft unterwandert waren. Zuletzt direkt vor den Toren Roms. Im kalabresischen Sinopoli war es genau anders herum. Da war die 'Ndrangheta stärker und setzte sich gegen den Bürgermeister durch.




    Einer gegen alle
    Ein ehemaliger Bürgermeister über seinen Kampf gegen die ehrenwerte Gesellschaft
    Domenico Luppino ist ein Padrone, wie aus einem Film. Knapp 1,80m groß und von beachtlichem Gewicht, ein stattlicher Kopf auf den breiten Schultern. Über seinen gewaltigen Leib spannt sich eine elegante Weste unter dem dunkelblauen Anzug mit silbernen Nadelstreifen. Mit kräftigen Armen rudert er durch die große Halle, die das Herzstück seines kleinen Reiches ist.

    Domenico Luppino ist Herr über 150 ha Land und etwa 15000 Olivenbäume. Vor ihm haben sie seinem Vater gehörten, davor dem Großvater und dem Urgroßvater. Ein Familienbetrieb. Bis vor kurzem war der 41 jährige Ölfabrikant auch Bürgermeister seines Heimatortes Sinopoli, drei Jahre lang, dann stellte ihn die 'Ndrangheta kalt. Domenico Luppino zündet sich eine Zigarette an, slimsize, der dünne weiße Stängel wirkt in seiner Pranke irgendwie fehl am Platze.

    " Ich habe die Wahl damals mit einem erheblichen Vorsprung vor meinem Gegenkandidaten gewonnen und ganz normal meine Amtsgeschäfte aufgenommen. Sinopoli ist eine kleine Gemeinde mit nur 2500 Einwohnern. Offiziell leben die meisten vom Olivenanbau. Daneben gibt's aber jede Menge kriminelle Aktivitäten. Vieler meiner Mitbürger geben als Beruf Erntehelfer an, fahren aber teure Autos Marke Mercedes oder BMW und haben luxuriös eingerichtete Häuser."

    Schnell wurde ihm klar, dass die Unterlagen und Projekte der Gemeinde hinten und vorne nicht stimmten. Eine Kläranlage, die auf einen Berg gebaut war und zu der bis heute die Zuleitungen fehlen. Eine weitere, die nur auf dem Papier existierte - kurz: Luppino entdeckte eine unhaltbare Misswirtschaft. Obwohl er seit seiner Geburt in Sinopoli lebt, hätte er sich das Ausmaß der Verschwendung von öffentlichen Geldern so niemals träumen lassen. Als er den Dingen auf den Grund gehen wollte, bekam er erste Warnhinweise.

    " Auf einen meiner Angestellten wurde wenige Monate nach meiner Amtsübernahme geschossen, von außen durchs Fenster eines Bauernhauses, außerhalb unseres Ortes. Es war reines Glück, dass er nicht getötet wurde. Daraufhin habe ich eine Gemeinderatssitzung einberufen mit dem klaren Ziel, die 'Ndrangheta öffentlich beim Namen zu nennen. In Sinopoli und vielen anderen vergleichbaren Orten in Kalabrien werden die Worte "'Ndrangheta" oder "Mafia" normalerweise vermieden. Ich habe mich hingestellt und gesagt: ‚Es ist meine Pflicht und Ehre, den Namen der 'Ndrangheta auszusprechen.' Einer musste das Tabu schließlich mal brechen."

    Mit erschreckender Ruhe erzählt Domencio Luppino von der Welle der Attentate, die seine mutige Haltung auslöste. Es wirkt in seinem Büro wie ein großer verwundeter Bär in einer Art Heiligtum. Neben ihm an der Wand das Foto seines erst jüngst verstorbenen Vaters, an der Rückwand Rosenkränze, Heiligenbilder, eine Figur des Wunderheilers Padre Pio, rechter Hand ein eingerahmtes Universitätsdiplom. Nur der wachsende Haufen der dünnen Zigarettenkippen im Aschenbecher verrät Luppinos innere Anspannung.

    " Sie haben mir die Olivenbäume angezündet und umgesägt. Und erst vor kurzem meinen deutschen Schäferhund umgebracht. Er wurde vergiftet. Da wurde die örtliche Presse aufmerksam und brach ein weiteres Tabu: die lokale 'Ndrangheta - Familie wurde beim Namen genannt. "

    Und wie lautet der?

    " Das kann ich hier nicht sagen und werde es auch nie wieder tun, es ist mir teuer zu stehen gekommen."

    Statt sich mit ihrem Bürgermeister solidarisch zu erklären, waren die Bürger, die ihn gewählt hatten, nun plötzlich gegen ihn, offenkundig aus Empörung, in Wirklichkeit aber aus Angst. Sie beschuldigten Luppino, Schande über Sinopoli gebracht zu haben und wandten sich ab. Die Gemeinderäte traten geschlossen aus Gesundheitsgründen zurück, die Volksvertretung wurde aufgelöst, Luppino hatte kein Amt mehr: die 'Ndrangheta hatten ihren Willen durchgesetzt. Er hat seinen aussichtlosen Kampf gegen die Mafia aber nicht bereut, sagt er. Zumindest einen moralischen Sieg hat er errungen. Aber er ist trotzdem tief enttäuscht und erschüttert. Hinter seiner augenscheinlichen Dickfelligkeit leidet Domenico Luppino wie ein Tier, denn auch sein eigenes familiäres Erbe lastet ihm schwer auf der Seele. Die Unbeugsamkeit und der Widerstandsgeist haben Tradition in seiner Familie.

    " Seit meiner Geburt 1964 erlebe ich nur Gewalt. Mal haben sie meinen Onkel in die Beine geschossen, mal auf meinen Vater gefeuert. Dann wieder haben sie eine Bombe vor unser Haus gelegt. Oder einen Verwandten entführt. Sogar mich wollten sie entführen, nach 40 Lebensjahren musste ich einfach mal das Schweigen durchbrechen. Die bittere Erkenntnis ist aber, dass solch ein Mut bei uns hier überhaupt nicht belohnt wird."

    Domenico Luppino drückt seine letzte dünne Zigarette aus und geht zu seinem Wagen. Er will zu seiner Familie fahren, die im 50 Kilometer entfernten Reggio di Calabria lebt, weil es dort sicherer ist. Als er durch das schwere eiserne Firmentor fährt, setzt sich ein schwarzer Wagen mit getönten Scheiben in Bewegung - eine Eskorte. Der Polizeipräfekt hat Luppino Personenschutz verordnet - sicherheitshalber.


    Literatur

    1.) Ndrangheta, Camurra e Mafia, aus: CD-Booklet La Musica della
    Mafia, Pias Recordings, Hbg. 2000. Übersetzer: Goffredo Plastino

    2.) Corrado Alvaro, aus: Letizia Paoli: Mafia Brotherhoods; Organized
    Crime, Italian Style. New York, 2003, S 183. Übersetzer: T. Kößler

    3.) I Cunfirenti, Die Verräter, aus: CD La Musica della Mafia, s.o.

    4.) Aadiu 'Ndrangheta, Lebewohl 'Ndranghetta, aus: CD La Musica della Mafia, s.o.