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Maggie Nelson: "Bluets"
Seelenbeichte in Blau

Die US-amerikanische Autorin Maggie Nelson ist mit ihrem autobiografischen Buch „Die Argonauten“ auch hierzulande bekannt geworden. Jetzt erscheint ihr Vorgänger auf Deutsch. „Bluets“ umkreist die ungewöhnliche Sehnsucht der Autorin nach der Farbe Blau und die damit assoziierten Stimmungslagen.

Von Julia Schröder | 02.01.2019
    Buchcover Maggie Nelson: "Bluets"
    Liebeskummer trägt die Farbe blau, schreibt Maggie Nelson (Hanser / Bildagentur-online)
    Was ist das für ein Buch? Es ist schmal, es ist blau, es trägt die Farbe blau nicht nur auf dem Umschlag, sondern auch im Titel, auf eine ganz spezifische Weise: "Bluets". Ja, es ist ein Buch über die Farbe Blau.
    "Angenommen, ich würde beginnen, indem ich sagte, ich hätte mich in eine Farbe verliebt. Angenommen, ich würde es sagen, als wäre es eine Beichte; angenommen, ich würde meine Serviette zerfetzen, während wir uns unterhielten."
    So beginnt der erste von insgesamt 240 durchnummerierten Absätzen in Maggie Nelsons Buch "Bluets", und der zweite setzt diesen Anfang fort:
    "Und so verliebte ich mich in eine Farbe – in diesem Fall in die Farbe Blau -, wie durch eine Verzauberung, eine Verzauberung, die ich verteidigte und gegen die ich mich wehrte – immer im Wechsel."
    Blau ist nicht nur einfach eine Farbe
    Die US-Amerikanerin Maggie Nelson, Jahrgang 1973, wurde 2017 auch den deutschen Lesern bekannt mit ihrem autobiografischen Text "Die Argonauten", der schnell zum Klassiker queeren Schreibens, zum Kultbuch erklärt wurde. Geht es darin um Nelsons Zusammen- und Familienleben mit Harry, einer Künstlerfigur fluider Geschlechtsidentität, in Kalifornien, ist "Bluets" das New Yorker Gegenstück, auch die Geschichte dessen, "was zuvor geschah". Angesichts des Erfolgs der "Argonauten" lag es nahe, "Bluets", das im Original bereits 2009 erschien, nun auch auf Deutsch verfügbar zu machen.

    Nelson ist Essayistin, Kritikerin, Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin, und all das merkt man ihren Texten an. "Bluets", deutlich feiner gesponnen und auf seine Weise dichter als "Argonauten", erkundet wie dieses – mit Wittgenstein im Rücken, versteht sich – die Grenzen des Sagbaren. Aber noch geht es nicht um die queere Existenz an sich. Vielmehr lässt Nelson eine idealtypisch scheiternde Liebe zu einem offenkundig nicht mehr erreichbaren oder von ihr selbst fortgeschickten Mann in diesen 240 kurzen bis sehr kurzen Passagen erstehen, die sie als "Propositionen" bezeichnet. Die Liebe zu diesem Mann, dem "Prinzen des Blauen", ist untrennbar mit der Liebe zur Farbe Blau verbunden, und sie ist untrennbar mit Schmerz verbunden. Da ist einmal der äußere Schmerz, wie ihn die dritte Person in diesem schmalen Buch durchlebt und durchleidet: eine Freundin der Erzählerin, die seit einem schweren Unfall querschnittgelähmt ist und ganz neu zu leben lernen muss. Zum anderen wird der innere Schmerz von Depression und Trauer ausgelotet, das "Deepest Blue" als Folge der gescheiterten Liebe.
    Erkundungen des "Deepest Blue"
    "Ein warmer Nachmittag Anfang Frühling, New York City. Wir gingen ins Chelsea Hotel zum Ficken. Hinterher beobachtete ich vom Fenster unseres Zimmers aus, wie auf dem Dach gegenüber eine blaue Plane im Wind flatterte. Du schliefst, also war es mein Geheimnis. Es war eine Spur im Alltäglichen, eine blendend blaue Flocke inmitten all der muffigen Fügung. Es war das einzige Mal, dass ich kam. Es war im Grunde genommen unser Leben. Es war erschütternd."
    Das Buch lebt von einzelnen Reminiszenzen wie diesen, aber auch von Referenzen und einer Fülle von Sammelobjekten, die fast feuilletonistisch aufgerufen werden. Neben Wittgensteins Sprachphilosophie spielt Goethes Farbenlehre eine wichtige Rolle als Versuch, weniger der Physik als dem Wesen der Farben auf die Spur zu kommen. Aber auch an Newton, Goethes Gegenspieler in Sachen Farbe, interessiert Maggie Nelson der irre Rest im Experiment, das Traktieren des Augapfels mit Eisenstangen, sein phantasmagorischer Assistent.
    Eine Meditation über Liebe und Schmerz
    Andere dieser "Propositionen" sind weiblichen Heiligenfiguren gewidmet, die auf alten Darstellungen ihre im Zuge des Martyriums verlorenen Augäpfel in einem Schälchen vor sich hertragen. Die Leser erfahren vom blauen Rausch in der großen afghanischen Lapislazuli-Mine Sar-e-Sang, von der Blaublindheit Azyanopsie und vom neuzeitlichen Blauwert-Messgerät Cyanometer.
    Ein fabelhaftes Sinnbild ist die Geschichte des Seidenlauben-Vogelmännchens, das seine Laube, sein "Liebesnest", mit allem möglichen blauen Flitter und Tand ausschmückt, auch mit den blauen Federchen kleinerer Vögel, die gemeuchelt werden, wenn’s sein muss.
    "69: Wenn ich Fotos von diesen blauen Laubenvögeln sehe, fühle ich so viel Verlangen, dass ich mich frage, ob ich vielleicht in die falsche Spezies hineingeboren wurde. 70: Versuche ich mit diesen ‚Propositionen‘ eine Art von Laube zu bauen? – Aber sicher wäre das ein Fehler. Für den Anfang, weil ein Wort dem, was es bezeichnet, nicht ähnlich ist (Maurice Merleau-Ponty)."
    Roland Barthes lässt grüßen
    Wenn es so ausführlich ums Begehren geht, lassen Roland Barthes und die Poststrukturalisten zwangsläufig grüßen, aber man kann die Exkurse zu Yves Kleins patentiertem Blau, zu trinkenden Künstlerinnen oder zur Wirkungsweise des Färbemittels Indigo durchaus genießen, ohne sich auf derselben Theoriehöhe wie die Autorin zu Hause zu fühlen. Jan Wilms elegante Übersetzung trägt das ihre dazu bei.
    Diese 240 kleinen, scheint’s willkürlich angeordneten Grübeleien, Szenen und Schlüssellochblicke erinnern an bestimmte feministische Blogs auf Tumblr, als diese Plattform noch vielversprechend war: alles ganz zauberhaft und überraschend, reflektiert, aufgeschlossen, schlau und offensiv narzisstisch. Da steht das wissenschaftsgeschichtliche Fundstück neben dem intimen Bekenntnis, der Essay en miniature – über die Natur des Weinens etwa – neben dem selbstironischen oder zutiefst sentimentalen Schlaglicht. Am Ende der Lektüre entsteht ein Bild mit vielschichtig-transparentem Farbauftrag. Oder besser: ist jede Leserin eingeladen, sich ihr eigenes Bild zu machen.
    Maggie Nelson: "Bluets"
    aus dem amerikanischen Englisch von Jan Wilms
    Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018. 111 Seiten, 17 Euro.