Freitag, 29. März 2024

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Maggie Nelson "Die Argonauten"
Liebe jenseits von Konventionen und Stereotypen

Hochzeit, Hauskauf, Kind: Ein Paar gründet eine eigentlich konventionell-bürgerliche Familie. Doch die beiden Liebenden verweigern sich den geltenden geschlechtlichen Normen: Die Begriffe "Mann" und "Frau" verlieren ihre Bedeutung und es entstehen neue Formen von Liebe, Freiheit und Familie.

Von Miriam Zeh | 10.11.2017
    Jason and the Argonauts sail through the Symplegades (Clashing Rocks). Engraving depicting Jason and the Argonuats from Tableaux du temple des muses (1655) by Michel de Marolles (1600 - 1681), known as the abbé de Marolles; a French churchman and translator. The Argonauts were a band of heroes in Greek mythology, who in the years before the Trojan War, around 1300 BC, accompanied Jason to Colchis in his quest to find the Golden Fleece PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY WorldxHistoryxArchive 917_05_WHA_093_0510006332 Jason and The Argonauts Sail Through The clashing Rocks Engraving depicting Jason and The from Tableaux you Temple the Muses 1655 by Michel de Marolles 1600 1681 known As The Fig de Marolles a French Churchmen and translator The Argonauts Were a Tie of Heroes in Greek Mythology Who in The Years Before The Trojan was Around 1300 BC accompanied Jason to Colchis in His Quest to find The Golden Fleece PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY WorldxHistoryxArchive 917_05_WHA_093_0510006332
    Maggie Nelson bezieht sich auf die griechische Mythologie, um der "Homonormativität einer assimilierten Queerness" eins auszuwischen: Historischer Kupferstich von Jason und die Argonauten (imago)
    Ein liebendes Subjekt sei vergleichbar mit dem Argonauten, schreibt Roland Barthes in seiner fiktiven Autobiographie "Über mich selbst". Denn so wie der Argonaut in der griechischen Mythologie die Einzelteile seines Schiffes nach und nach erneuert, ohne Namen oder Form des Schiffes zu ändern, so muss auch der oder die Liebende die Bedeutung der Worte "Ich liebe dich" mit jeder Verwendung erneuern. Die Arbeit der Liebe und die Arbeit der Sprache bestehen darin, dem gleichen Satz immer neue Inflexionen zu geben, so heißt es bei Barthes, und auf gleiche Weise ist es umgesetzt in Maggie Nelsons buchlangem Essay "Die Argonauten".
    Verweigerung der geschlechtlichen Binarität
    Der episodische Text changiert zwischen den Gattungen Memoir, Lyrik, Theorie und Kritik. Nelson erzählt achronologisch und bruchstückhaft. Trotzdem ist der prägnante Erzählstrang die Geschichte zweier Liebenden. Es ist Maggie Nelsons Liebe zu Harry Dodge. Die beiden entflammen füreinander, heiraten, kaufen ein Haus und bekommen ein Kind. Das Paar lebt also einerseits in bürgerlichen Strukturen. Andererseits erweitern Maggie und Harry die Konventionen des familiären Zusammenlebens unaufhörlich durch ihre fluiden Geschlechtsidentitäten.
    Beide Liebenden verweigern sich der geschlechtlichen Binarität. Maggie will sich weder als Homo- noch als Heterofrau bezeichnen. Und Harry, geboren als Frau, identifiziert sich weder mit dem männlichen noch mit dem weiblichen Geschlecht. Während Maggie durch eine künstliche Befruchtung schwanger wird, unterzieht sich Harry einer Hormontherapie und einer Oberkörperoperation. Wie das Argoschiff also, das seinen Namen behält, selbst wenn seine Teile ersetzt werden, durchlaufen die Körper beider Partner zeitgleich Transformationsprozesse, während sie einander doch dieselben bleiben.
    "Von außen betrachtet hätte man meinen können, dein Körper würde immer 'männlicher', meiner immer 'weiblicher'. Aber im Innern fühlte es sich so nicht an. Im Innern waren wir zwei menschliche Tiere, die miteinander Transformationen durchmachten und einander dabei ungebunden zuschauten. Mit anderen Worten, wir waren dabei zu altern."
    Rückbesinnung auf Widerstand und Andersartigkeit
    Die beiden Liebenden, die Maggie Nelson beschreibt, definieren ihr Begehren zuvorderst individuell, nicht kategorisch. Trotzdem reflektiert Nelson in "Die Argonauten" ihre Identität, ihre Beziehung und ihr Lebensmodell gleichermaßen vor persönlichem wie politischem Hintergrund. Die LGBTQ-Community, also die offene Gemeinschaft aller Menschen, die sich weder dem weiblichen noch männlichen Geschlecht zuordnen wollen, hat in den USA und auch in Deutschland in den letzten Jahren rasant an gesellschaftlicher Akzeptanz gewonnen. Doch die Öffnung der Ehe beispielsweise oder des Militärs für Schwule, Lesben und Transsexuelle wird in radikalen Flügeln der LGBTQ-Bewegung abgelehnt. Der Homonormativität einer assimilierten Queerness stellen solche radikalen Strömungen eine Rückbesinnung auf Widerstand und Andersartigkeit entgegen.
    Vor allem weibliche Reproduktion zur Erfüllung einer gesellschaftlichen Verantwortung wird verurteilt in dieser Argumentation, die Nelson als misogyn entlarvt. Ihr persönliches Bekenntnis dazu, ein Kind bekommen zu wollen, ihre Überlegungen zu Mutterschaft, Queerness und Häuslichkeit dürften auch identitätspolitische Debatten in Deutschland an einem kritischen Punkt erreichen. Doch auch das Verhältnis von US-amerikanischem Universitätswesen und weiblicher Reproduktion unterzieht Nelson einigen kritischen Beobachtungen.
    Hier scheint nämlich nicht weniger Misogynie am Werk, wenn Nelson als schwangere Universitätsprofessorin keinen Vortrag mehr halten kann, ohne auf ihren Körper angesprochen zu werden. Stets wird die Autorin dabei mit dem Verweis auf das vermeintliche Oxymoron einer denkenden, schwangeren Frau konfrontiert. Wie sie es bloß unter ihren Umständen geschafft habe, an einem so düsteren Gegenstand wie Sadismus, Grausamkeit und Gewalt zu arbeiten, will etwa ein bekannter Theaterautor in einer Fragerunde wissen. Nelsons eindrückliche, seitenlange Schilderung der Geburt ihres Sohnes wird vor diesem Hintergrund auch zur literarischen Sichtbarmachung von Mutterschaft.
    Ein intellektuell und atmosphärisch verdichteter Text
    Als ihre eigenen "vielgeschlechtlichen Mütter" bezeichnet Nelson die vielen Denkerinnen, mit denen sie ihren Text durchwebt. Philosophinnen wie Judith Butler und Julia Kristeva werden herangezogen, Philosophen wie Ludwig Wittgenstein und Gille Deleuze, aber auch Autorinnen wie Eileen Myles und der Kinderarzt Donald Winnicott, dessen Konzept einer Mutter, die "gut genug" ist, in aktuellen Debatten um Kindererziehung, besonders auf Mummy Blogs, gerade eine Renaissance erlebt.
    Nelson überprüft die theoretischen Positionen an ihrer eigenen Erfahrung, keineswegs jedoch in einem stringenten, wissenschaftlichen Verfahren. Als Lyrikerin kreiert Nelson einen intellektuell und atmosphärisch ungemein verdichteten Text. Die überwiegend kleinen Formen der einzelnen Textelemente eröffnen dem Leser dabei trotz ihrer Dichte einen Raum zum denken. Genau hierin liegt das kritische Potenzial dieses Textes. Poetologische Überlegungen zur Angemessenheit von Sprache, aber auch grammatikalische Fragen nach die Ansprache eines geliebten Menschen, der sich keinem Pronomen zuordnen will, geben Nelson dabei immer wieder Anlass zur Reflexion über Liebe, Freiheit und Formen des Zusammenlebens.
    "Sich fallenlassen in eine Orgie aus Präzision"
    "Ich habe die Vermeidung von Pronomen perfektioniert. Der Schlüssel liegt darin, sein Ohr daran zu gewöhnen, dass es den Namen eines Menschen wieder und wieder hört. Man muss lernen, sich in grammatikalischen Sackgassen zu verstecken, sich fallenzulassen in eine Orgie aus Präzision. Man muss lernen, etwas auszuhalten, was über die Vorstellung von zweien hinausgeht, und das gerade dann, wenn du versuchst, eine Partnerschaft darzustellen - sogar eine Vermählung. Vermählung ist das Gegenteil einer Paarbeziehung. Binäre Maschinen wie Frage - Antwort, männlich - weiblich, Mensch - Tier etc. haben hier ihren Sinn verloren. Das könnte eine Unterhaltung sein: Prozess und Verwirklichung eines Werdens."
    Maggie Nelson schreibt in "Die Argonauten" einen äußerst kunstvollen, gleichermaßen intellektuellen wie poetischen Text. Und Jan Wilm trifft in seiner fantastischen Übersetzung einen Ton, der sowohl Nelsons analytischen wie auch ihrem lyrischen Nuancen gerecht wird. Dabei mag man Nelson vorwerfen, dass sie keine politische Agenda verfolgt, dass sie unschlüssig ist, sprunghaft und subjektiv.
    All das stimmt und es ist großartig. Maggie Nelson will nichts einfacher oder eindeutiger machen, sie will verkomplizieren. Ihr gelingt eine Bekenntnisliteratur, die zu keinem Zeitpunkt beschämend ist, provozierend oder zornig. "Die Argonauten" eröffnet allen Menschen jenseits von Konventionen und Stereotypen neue Räume von Liebe, Begehren und Freiheit. Maggie Nelson hat dafür eine wunderbare eigene, kluge und vielschichtige Form gefunden.
    Maggie Nelson: "Die Argonauten"
    Aus dem Englischen von Jan Wilm. Hanser Berlin, 192 Seiten, 20 Euro