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Magisches Seelentheater

Der Norweger Stefan Herheim ist bekannt und beliebt für farbenfrohe Inszenierungen, in die er meist auch eigene, zusätzliche Bedeutungsebenen mit einflicht – so auch in seiner Inszenierung des "Eugen Onegin" für die Nederlandse Oper in Amsterdam.

Von Christoph Schmitz | 15.06.2011
    "Was für eine Überraschung! Wer hätte hier eine Militärkapelle erwartet! Vergnügen im Überfluss!"

    Bei allen Festen und auf allen Bällen ist Eugen Onegin ein Außenseiter. Er steht am Rand oder macht widerwillig mit. Langeweile, Abscheu, Ekel, Überdruss. Onegin ist ein arroganter Typ. Mit blasierter Miene hat er das Mädchen vom Land abgewimmelt, mit Tatjanas Liebe kann er nichts anfangen, für eine Beziehung hält er sich nicht geeignet.

    Woher aber kommen Abwehr und Überdruss? Tschaikowskis Libretto und Musik schweigen sich darüber weitestgehend aus. Manche Regisseure füllen die Leerstelle mit Verweisen auf die Homosexualität des Komponisten und sein Trauma einer Ehe, die mit einem Nervenzusammenbruch des Musikers endete. Tschaikowskis Alter Ego ist dann Onegin, der seinen Freund Lenski im Duell aus Eifersucht tötet.

    Regisseur Stefan Herheim sucht in Amsterdam nach anderen Motiven und Umständen und verwendet dazu einen einfachen Trick, der aber fabelhaft funktioniert: Er inszeniert die Oper von ihrem Ende her, wenn Lenski schon lange tot ist und Onegin die verheiratete Tatjana auf einem Fest wiedersieht. Onegin betritt die Lobby eines Luxushotels: hochglanzpolierte Vertäfelung in grünem Stein, schellackpolierte Holzverkleidung der Aufzüge links, rechts ein Durchgang zu weiteren Sälen, bewacht von Bodyguards, in der Mitte eine gläserner Kubus, der Wintergarten des Hotels.

    Während der Orchestereinleitung friert die Szene der einziehenden Gäste ein, der Glaskubus leuchtet auf, die gläsernen Wände öffnen sich, und was Onegin nun sieht, ist das erste Bild der Oper: Tatjana und ihre Schwester Olga schwärmen im Hintergrund von der Liebe, die Mutter und die Kinderfrau in Kleidern des frühen 19. Jahrhunderts kochen vorne Marmelade und klagen über das Elend der Ehe, wie Gewöhnung das Glück ersetzt. Onegin kann diese Einblicke in die qualvollen Schichten des Familiensystems kaum ertragen. Warum er diese Lebensform ablehnt, wird damit deutlich.

    Der Glaskubus verwandelt sich auf diese Weise immer wieder in einen Imaginationsraum. Vergangenheit und Gegenwart vernetzen sich darin. Es entsteht ein ebenso analytischer wie poetischer Bühnenraum, der einen starken Sog entwickelt. Auch die reife, verheiratete Tatjana wirkt daran mit. In der Amsterdamer Inszenierung erinnert sie in ihrer Hotelsuite die Nacht ihrer Jugend, als sie ihren Liebesbrief an Onegin schrieb. Mit geheimen Kräften zieht sie dabei den Angebeteten in ihren Bann, dass der selbst die von ihr diktierten Zeilen schreibt.

    Stefan Herheim enthüllt die Innenwelt der Außenwelt und zeigt ein magisches Seelentheater, in dem zugleich Szenen der russischen Geschichte aufscheinen, vom Zarenreich über diverse Revolutionen, die Sowjetunion bis zur Oligarchie der Gegenwart. Und das nie gegen, sondern immer mit und aus dem Geist der Musik.

    Tatjana: "Nicht wahr? Ich habe dich gehört! Hast du nicht im Schweigen zu mir gesprochen, als ich zu den Armen ging oder im Gebet Trost suchte für meine Seelenqualen?"

    Krassimira Stoyanova aus Bulgarien sang die Tatjana gestern bei der Premiere mit geschmeidigem, bronze schillerndem Sopran. Überhaupt waren die Rollen stark besetzt. Elena Maximova zeigte eine jugendlich-lebendige Olga, Andrej Dunaev einen sensiblen Lenski und Bo Skovhus einen kräftigen, fast rauen und zerrissenen Onegin.

    Mariss Jansons am Pult dirigierte einen farbenreichen, beschwingten, schwelgenden, aber nie überdrehenden Tschaikowski und machte aus dieser Komposition ein lyrisches Poem der Erinnerungen. Und selten hört man ein so ausgewogenes Verhältnis von Orchester- und Sängerklang. Musikalische und szenische Deutung fanden aufs Schönste zusammen.

    Onegin: "Nein! Sie jeden Augenblick zu sehen, auf Ihrer Schwelle zu liegen, Ihrem Lächeln, Ihren Schritten, Ihren Blicken mit liebenden Augen zu folgen - das ist das Glück."