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Mahnmal für Opfer des Kommunismus in Estland
Auf der Suche nach einer europäischen Erinnerungskultur

In Tallinn soll ein neues Mahnmal die Opfer von Stalinismus und Kommunismus stärker in den Fokus rücken – nicht nur in Estland, sondern als Teil einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur. Dabei zeigt sich auch, dass die Erinnerung an die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa weiterhin geteilt ist.

Von Benedikt Schulz | 30.09.2018
    Auf zwei riesigen schwarzen Metallwänden befinden sich die Namen von rund 22.000 Menschen, die in Estland seit 1940 Opfer des Kommunismus geworden sind.
    Das Eesti Kommunismiohvrite Memoriaal im Tallinner Stadteil Maarjamäe erinnert an die Opfer des Kommunismus. (imago stock&people / Sander Ilvest, Eesti Meedia Tallinn)
    Die Eröffnung des Eesti Kommunismiohvrite Memoriaal ist ein nationales Ereignis in Estland. Die estnische Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid hält die Eröffnungsrede – auch der Oberbefehlshaber der estnischen Streitkräfte Riho Terras spricht zur Einweihung des Mahnmals.
    "Mir erscheint dieses Mahnmal sehr bescheiden und in sich gekehrt." Andres Kasekamp ist einer der renommiertesten Historiker Estlands. Die Geschichte des Baltikums im 20. Jahrhundert ist sein Fachgebiet. Seine Geschichte der baltischen Staaten wurde in mehrere Sprachen übersetzt und gilt inzwischen als Standardwerk. "Mich erinnert es an das Vietnam Veterans Memorial in Washington, DC. Eine schwarze marmorne Wand mit den Namen der Opfer, eingesunken in den Untergrund."
    Das Mahnmal für die Opfer des Kommunismus beginnt direkt an der Ostsee, im Tallinner Stadtteil Maarjamäe im Nordosten der Stadt. Zwei riesige schwarze Metallwände bilden einen aufsteigenden Gang. Entlang den Wänden befinden sich rund 22.000 Namen – Menschen, die seit der Okkupation Estlands durch die Sowjetunion 1940 verschleppt, verhaftet, ermordet wurden – viele von ihnen fern der Heimat. Dieser Teil des Denkmals nennt sich Teekonna, die Reise – am Ende des Gangs betreten die Besucher einen idyllischen Park mit geschwungenen Wegen – den Koduaed, den Heimatgarten.
    Mahnmal an einem symbolträchtigen Ort
    Dort hält auch die Präsidentin ihre Rede – hinter ihr an der Wand steht ein Vers aus einem berühmten estnischen Gedicht "Ta lendab mesipu poole" – Die Biene fliegt zurück zum Bienenstock – ein Gedicht über die Rückkehr in die Heimat. Um die Verse herum wurden zahllose aus Metall gegossene kleine Bienen angebracht.
    "Ja langevad teele tuhanded
    veel koju jõuavad tuhanded
    ja viivad vaeva ja hoole
    ja lendavad mesipuu poole."
    "Obwohl tausende fallen entlang des Weges,
    Kommen tausende zurück nach Hause,
    Sie erdulden Schmerz und Sorgen,
    Und fliegen doch zurück zum Bienenstock."
    Der Standort des Mahnmals ist symbolträchtig. Dort wurde in den 60er-Jahren ein Obelisk errichtet – als Denkmal für gefallene sowjetische Soldaten. Der rechtskonservative Justizminister Estlands Urmas Reinsalu forderte zu Beginn des Jahres, dieses Denkmal abzureißen. Doch das ist in Estland ein heikles Thema. 2007 ließen estnische Behörden den Bronzesoldaten von Tallinn abbauen, ebenfalls ein sowjetisches Kriegsdenkmal – und verlegten es von der Innenstadt an den Stadtrand. Die Folge: zweitägige Demonstrationen und gewaltsame Ausschreitungen, vor allem von russischsprachigen Jugendlichen. Hinzu kamen wochenlang andauernde Cyberangriffe auf die schon damals weitgehend digitalisierte estnische Gesellschaft.
    "Ich glaube, dass diese Erfahrung, das Drama, dass das ausgelöst hat, dazu geführt hat, dass sich der Wunsch, weitere Denkmäler abzureißen, in sehr engen Grenzen hält in der Bevölkerung. Außerdem ist dieser Obelisk sehr abstrakt. Viele wissen nicht mal, wofür der wirklich steht. Der Bronzesoldat war dagegen ein sehr realistisches Porträt eines Soldaten der Roten Armee."
    Der Obelisk bleibt also – und das neue Mahnmal damit in unmittelbarer Nachbarschaft zum russisch-sowjetischen Narrativ. Für Andres Kasekamp kann das ein Vorteil sein. Außerdem:
    "Ein anderer interessanter Aspekt ist die Tatsache, dass es nicht nur ein sowjetisches Denkmal ist – es wurde nämlich errichtet direkt am Grab deutscher Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, es ist also auch ein Denkmal für sie. Es ist ein facettenreicher Ort mit unterschiedlichen Bedeutungen."
    Besucher des Mahmals stehen vor einer schwarzen Wand und lesen die Namen der Opfer.
    Besucher am Eesti Kommunismiohvrite Memoriaal in Tallinn. (imago stock&people / Sander Ilvest, Eesti Meedia Tallinn)
    Erinnerung an die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist vielschichtig
    Die Vielschichtigkeit der Erinnerung – auch dafür steht das neue Mahnmal. Denn wenn es um die Erinnerung an die Geschichte des 20. Jahrhunderts geht, ist Europa weiterhin geteilt. Ein Beispiel: Die Bedeutung des 23. August 1939 ist in Westeuropa kaum jemandem bekannt, doch im Baltikum bedeutete die Unterzeichnung des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes an diesem Tag das faktische Ende der Eigenstaatlichkeit und den Beginn von fünf Jahrzehnten sowjetischer Unterdrückung.
    "Viele Menschen in Estland, überhaupt in Osteuropa haben das Gefühl – ob zu Recht oder zu Unrecht – dass ihr Leid, das sie unter der kommunistischen Herrschaft erlitten haben, keine Beachtung gefunden hat. Und sie wollen, dass diese Perspektive stärker aufgenommen wird in eine Art europäischer Erinnerungskultur."
    Gesamteuropäische Erinnerungskultur
    In einer solchen gesamteuropäischen Erinnerungskultur, wie Andres Kasekamp sie skizziert, käme Estland eine Schlüsselrolle zu – aufgrund von Geographie, aber auch aufgrund der Tatsache, dass viele russischsprachige Menschen im Land leben.
    "Russland ist unser unmittelbarer Nachbar, wir bekommen es hier unmittelbar zu spüren, dass die Erinnerung an die Verbrechen des Stalinismus nicht nur einfach ignoriert wird in Russland, sondern sogar bewusst ausgelöscht. Dem müssen wir uns entgegenstellen und dafür sorgen, dass die Verbrechen anderswo im Gedächtnis bleiben. Dass das in Russland passiert, das wird unter der amtierenden Regierung mit jedem weiteren Tag unwahrscheinlicher."
    Doch ein solcher Ansatz birgt natürlich Gefahren, gerade in Zeiten, in denen in vielen europäischen Ländern die Demokratie eher von rechts bedroht wird. Die Opfer des Kommunismus mit den Opfern des Holocaust in einem gesamteuropäischen Gedenken zusammenzuführen – bereitet dies den Weg zu einer Relativierung des Holocaust?
    "Ja, diese Gefahr gibt es. Natürlich ist das problematisch, wenn ein veränderter Fokus dazu führt, dass man die Erinnerung an den Holocaust vernachlässigt. Aber das ist nicht der Fall. Ich finde, es darf eben keinen Wettbewerb geben, nach dem Motto: Wer hat am meisten gelitten? Und grundsätzlich bin ich der Ansicht, je mehr historisches Bewusstsein man schafft in der gesamten europäischen Bevölkerung, desto besser."