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Mahnmal und Touristen-Kulisse

Am 10. Juni 1944 wurden bei einem Einsatz der Waffen-SS fast alle Bewohner des Dorfes Oradour-sur-Glane ermordet. Das Dorf wurde komplett zerstört und nicht wieder aufgebaut. Die Ruinen des Märtyrerdorfs und das Gedenkzentrum erinnern als Mahnmal an die brutalen Morde.

Von Ursula Welter | 03.09.2013
    "Oradour-sur-Glane", das sind heute drei Stationen. Oben, am Hang, das neu errichtete Dorf, samt neuer Kirche.

    Weiter unten, im seitlichen Flusstal, die Ruinen des "Märtyrerdorfs". Gebäudereste, ausgebrannte Autos, die Kirche, in der mehr als 400 Frauen und Kinder qualvoll starben, aber keine historischen Erklärungen.

    Deshalb wurde 1999 der untere Eingang zum Dorf geschlossen und der Zugang umgeleitet, durch das neue Gedenkzentrum, das sich zurückhaltend in die Landschaft des Limousin duckt. "Nicht-Architektur", wie es in offiziellen Unterlagen des Département heißt, "eine Symbiose mit der Natur", "ein Gebäude, das die Gewalt des Massakers symbolisieren soll".

    "Das Ziel ist, zu erklären, was in Oradour am 10. Juni 1944 geschehen ist, aber auch, das Drama in seinen nationalen und internationalen Kontext zu stellen."

    Stéphanie Boutaud ist verantwortlich für die pädagogische Abteilung des "Centre de la Mémoire", des Gedenkzentrums. Sie führt durch abgedunkelte, langgezogene Räume, die den Weg skizzieren, der zum Massaker führte. Die Nazi-Ideologie, die Verführung der Jugend , die Waffen-SS :

    "Die Idee ist auch aufgekommen, weil die Ruinen zunehmend an Ausdruckskraft verloren haben. Die Leute, die in den 50er-Jahren hierherkamen, konnten noch einordnen, was passiert war. Aber es gibt immer weniger Zeitzeugen, die erzählen können."

    Charles de Gaulle hatte schon im März 1945 entschieden, dass die Ruinen erhalten werden sollten, als ewiges Mahnmal für das brutale Morden, den Tod von 642 Menschen, Frauen, Kindern, Männern.

    Stéphanie steht vor dem Filmdokument, das de Gaulle zeigt.

    "Er wollte das Dorf auch als Symbol für das unschuldige Frankreich erhalten, die Opferrolle damit hervorheben, die Barbarei der Nazis."

    Inzwischen ist die französische Geschichtsschreibung präziser. Die Kollaboration wird in der Gedenkstätte nicht ausgespart, es fehlt auch nicht der Hinweis, dass die französische Miliz den Schergen der Waffen-SS bei der Vorbereitung des Massakers nützliche Informationen lieferte.

    Die Gedenkstätte zeigt aber vor allem, wie die SS-Panzerdivision "Das Reich" ihre blutige Spur zog, wie sie schon im Osten die Blaupause für das Massaker von Oradour ablieferte – im tschechischen Lidice etwa. Wie sich die Einheit neu formiert, bevor sie in die Normandie geschickt wurde, wie zwangsrekrutierte Elsässer hinzukommen, wie Oradour zur "Feuertaufe" für viele der jungen Soldaten wird. Die Namen der Mitglieder der Einheit sind zu lesen.

    "Unter den Offizieren General Lammerding, der schon an der Ostfront eingesetzt war, und der Ähnliches dort schon angeordnet hatte."

    Lammerding, der niemals an Frankreich ausgeliefert wurde und 1971 in Deutschland starb. Auch der Name Heinz Barth steht dort, dem 1983 in der DDR der Prozess gemacht wurde.

    Oben im Märtyrerdorf setzt die Witterung den Ruinen zu. Hier ist der Staat, nicht das Département verantwortlich. Die Konservatoren tun, was sie können, versuchen die Kirche, die Reste der Straßenzüge, die Scheunen, in denen die Männer erschossen und ihre Leichen angezündet wurden, zu erhalten. Aber es wird von Jahr zu Jahr schwieriger.

    Zigtausend Schüler kommen nach Oradour, 130.000 Besucher jährlich. Stets schieben sich große Besuchergruppen durch die Gassen des Ruinendorfs. Kinder lärmen auf den Stufen vor der Kirche, Touristen stellen ihren Nachwuchs neben die ausgebrannten Autos auf dem Festplatz, schießen Fotos.

    "Wenn die Touristen dem Märtyrerdorf einen angemessen Besuch abstatten würden, würden sie sicher keine Fotos am Fuße der Ruinen machen."

    Klagt die Historikerin Bernadette Malinvaud. Aber nicht nur deshalb sei das Gedenkzentrum wichtig gewesen. Sehr, sehr wichtig, um das Massaker in den historischen Kontext zu stellen.

    "Denn es war kein isolierter Akt, das speiste sich aus einer Ideologie."

    Wichtig auch, weil weiter Revisionisten am Werk sind und mit den Jahren immer leichteres Spiel haben, sagt Stéphanie Boutaud:

    "Die Kenntnisse über das Massaker sind in der Öffentlichkeit immer noch gering. Viele Gerüchte kursieren. Vor allem jenes, wonach die Résistance das Massaker provoziert habe, wie die Nazis behaupteten."