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"Mama, die Blätter sind so schön"

Autismus ist ein kein einheitliches Syndrom. Während manche betroffenen Kinder irgendwann erfolgreich Abitur machen und ins Berufsleben einsteigen, ist bei anderen wiederum die Ausprägung der Störung so stark, dass an ein fast normales Leben nicht zu denken ist. So wie bei der 11-jährigen Julia. Thomas Liesen hat die Mutter besucht.

Von Thomas Liesen | 01.10.2013
    Julia ist in der Schule. Wir werfen einen Blick in ihr Zimmer: die Ordnung pur. Alle Bücher in Reih und Glied. Nichts liegt herum. An der Wand fallen sechs große Kisten auf, jede randvoll mit kleinen Puppen, Puppenkleidern, Plastikteilen von Puppen, es müssen mehrere Hundert Einzelteile sein. So schön die Ordnung ist, Julias Mutter, Andrea Rohlfs würde gerne ab und zu einen Teil dieser Unmengen an Krams entsorgen. Doch das geht nicht.

    "Würde ich jetzt ein Kleid entfernen oder so eine Figur, würde sie das innerhalb von Minuten bemerken. Hier ist zum Beispiel so ein Teil von Playmobil. Ich kann ihnen gar nicht genau sagen, was das ist, aber die Julia weiß es. Wenn ich das wegwerfe, wird sie es merken, wenn sie in dieser Spielecke spielt."

    Sie bemerkt auch sofort, wenn auch nur eines ihrer geschätzt drei- bis vierhundert Winni-Puh-Hefte fehlt. Julias übliche Reaktion: ein Schreianfall. Einen davon hat Andrea Rohlfs kürzlich aufgezeichnet.

    "Was letztlich der Auslöser war – vielleicht ein falsches Wort, Sie sagen irgendein Wort, was sie nicht erträgt, Sie sind nicht darauf vorbereitet."

    Schon als Baby hat sie auf Berührungen mit Schreien reagiert. Mit zweieinhalb erfuhren die Eltern die Diagnose Autismus. Die Auswirkungen auf den Alltag sind vielfältig. Julia ist kontaktscheu, spricht nur kurze Sätze – und hat eben häufig diese Schreiattacken, wenn irgendetwas ihre innere Vorstellung vom Ablauf der Dinge stört - ob ein Krümel auf der Tischdecke oder ein anstrengender Tag in der Förderschule. Dabei sieht Julia ganz normal aus, sie ist sogar ein hübsches 11-jähriges Mädchen mit langen, braunen Haaren. Das stellt ihre Mutter fast mit Bedauern fest. Denn oft wäre es einfacher, man würde ihrer Tochter ansehen, dass etwas nicht stimmt.

    "Ich werde auch oft angeschrien von Menschen, auch von anderen Eltern, ich hätte mein Kind nicht im Griff, jetzt tun sie doch mal was, damals, als Julia kleiner war: Nehmen sie doch mal das Kind auf den Arm. Dann wird aber nur noch alles schlimmer, wenn man Julia anfasst – man braucht Nerven."

    Besonders schwer zu verarbeiten ist ein Wesenszug ihrer Tochter:

    "Wenn ich weine, weil ein Verwandter gestorben ist, wenn ich traurig bin und dann sage: Julia, die Mama ist traurig, dann freut sie sich, weil sie erkennt, dass ich traurig bin, aber sie empfindet nicht mit."

    Andrea Rohlfs weiß, dass sie noch lange für ihre Tochter da sein muss, dass sie noch lange ihr eigenes Leben wird zurückstellen müssen. Aber, sagt sie, dafür kann sie sich über Dinge freuen, die für andere das Normalste von der Welt sind.

    "Wenn wir in den Wald gehen und ja, sie dann eben sagt: Mama, die Blätter sind so schön, Papa, wo ist Sonne? Ist die hinter den Wolken? Also, das sind schon schöne Sachen, wo wir auch sehr, sehr gerührt sind. Also, diese kleinen Fortschritte, die sie macht, die hauen uns auch schon immer um. Das ist dann schon immer wie Ostern und Weihnachten zusammen."