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"Man hat im Moment andere Sorgen"

In Japan stehen die Versorgungslage und der Wiederaufbau der Infrastruktur eher im Fokus des öffentlichen Interesses, als die Situation in den Atomkraftwerken, sagt die Geschäftsführerin der deutsch-japanischen Gesellschaft in Düsseldorf, Pia Tomoko Meid.

Pia Tomoko Meid im Gespräch mit Silvia Engels | 16.03.2011
    Silvia Engels: In Japan ist die Region um Tokyo von einem weiteren schweren Nachbeben der Stärke 6,0 getroffen worden. Größere Schäden werden bislang nicht gemeldet, auch die Aufräumarbeiten im Tsunami-Gebiet gehen offenbar weiter. 3.300 Tote sind offiziell gemeldet, die Zahl der tatsächlichen Toten wird wohl höher liegen. Einmal mehr ist auch heute die Situation im Atomkraftwerk Fukushima unklar.
    Pia Tomoko Meid ist Geschäftsführerin der deutsch-japanischen Gesellschaft in Düsseldorf. Sie hat eine japanische Mutter und einen deutschen Vater, sie hat Volkswirtschaftslehre und Japanologie studiert und arbeitet als Unternehmensberaterin und Dolmetscherin, kennt beide Kulturen sehr gut. Wir erreichen sie in Düsseldorf. Guten Morgen, Frau Meid.

    Pia Tomoko Meid: Ja, guten Morgen!

    Engels: Sie sprechen in diesen Tagen regelmäßig mit Freunden und Verwandten in Japan. Welches sind denn die Hauptsorgen, die die Menschen dort vor allem bewegen?

    Meid: Also im Moment eigentlich eher die Problematik mit dem Strom. Das heißt, die Leute, die nicht direkt in dem Katastrophengebiet oder am Katastrophengebiet sind, überlegen natürlich, wie sie mit zwei, drei Stunden ohne Strom, der immer wieder mal abgeschaltet wird, umgehen können.

    Engels: Der Strom sorgt für Sorgen. Wie steht es denn um diese nukleare Bedrohung, die ja gerade hier in den westlichen Medien eigentlich das Top-Thema einnimmt?

    Meid: Ja. Es ist den Japanern bewusst. Sie fragen mich, weil ich ja hier in Deutschland sitze, warum denn die westlichen Medien so anders reagieren, obwohl sie doch eigentlich dieselben Informationen haben, beziehungsweise genauso wenig Informationen haben, ist eigentlich die Aussage, und dann muss ich ihnen dann immer erklären, dass wir ein bisschen vielleicht panischer reagieren, wenn wir "Atom" hören.

    Engels: Für viele Deutsche ist ja genau diese Gelassenheit der Japaner im Umgang mit der Katastrophe, auch dieser nuklearen Bedrohung einerseits bewundernswert, andererseits unverständlich. Wie ordnen Sie das ein, wie kommt es da hin?

    Meid: Also zum einen ist es ja so, dass den Japanern schon immer bewusst war, dass sie da ein bestimmtes Risiko auch eingehen. Das heißt, auch die Leute, die in dem Gebiet wohnen, die haben ja nicht erst jetzt entdeckt, dass da plötzlich ein Atomkraftwerk steht. Das ist das eine. Das andere ist, dass man auch mit einer Naturkatastrophe als solche anders umgeht, weil auch das täglich eine Bedrohung ist, die man ja immer schon gespürt hat, und sie können nicht immer Panik haben. Der Mensch muss ja normal weiterleben können. Das ist also auch so eine Grundeinstellung. Und man hat im Moment andere Sorgen. Das heißt, man sorgt sich mehr um die Leute, die man noch nicht gefunden hat. Man hat immer in der Familie irgendwo irgendjemanden, der vielleicht noch jemand vermisst, oder Freunde vermisst. Und Japan selbst kümmert sich eigentlich im Moment mehr um das Problem, wie kriegen wir Lebensmittel vom Süden in den Norden und wie bauen wir die Infrastruktur dort wieder auf.

    Engels: Haben Sie denn in Ihren Gesprächen mit Freunden und Verwandten auch Stimmen gehört, dass einige überlegen, das Land zu verlassen, oder zumindest die Kinder in Sicherheit vor möglicher nuklearer Gefahr zu bringen?

    Meid: Nein. Also es ist wirklich so, wir kriegen im Moment mit, dass die Deutschen sehr hilfsbereit versuchen, uns ihre Häuser anzubieten und sagen, die werden doch bestimmt ihre Kinder jetzt alle rausschicken. Genau das Gegenteil ist der Fall. Ich kriege oder ich habe jetzt ganz aktuell gestern Abend mit einer Familie gesprochen, wo die Töchter hier in Deutschland sind und eine Tochter mit den Eltern noch in Japan, und die haben jetzt gesagt, wenn ihr uns nur anrufen wollt, um uns zu sagen, dass wir hier rausfliegen sollen, dann hört endlich auf mit diesen blöden Telefonanrufen, wir haben gerade andere Sorgen und wir werden nicht ausreisen.

    Engels: Etwas was die Menschen hierzulande auch verwundert ist, dass Japan bisher nicht eine breit angelegte Spendenaktion eingefordert hat. Punktuell wird Hilfe angefordert, gerade bei der Bewältigung der nuklearen Zwischenfälle, aber breit angelegt wird das nicht verlangt. Können Sie das erklären? Warum ist das so?

    Meid: Ja. Man ist noch nicht so weit. Im Moment hat man andere Dinge, um die man sich kümmern muss und vor allen Dingen auch kümmern kann. Das heißt, sie brauchen im Moment nicht akut irgendetwas, um jetzt sofort reagieren zu können, das schafft man selber, aber es ist natürlich klar, dass die Leute, die betroffen sind, deren Häuser weggeschwommen sind, die im Moment wirklich gar nichts mehr haben, dass die nachher Unterstützung brauchen. Das heißt, die Japaner hier haben angefangen, hier Konten einzurichten, hier zu überlegen, wohin soll gespendet werden, und überlegen schon, Veranstaltungen zu machen, wo man auch aufruft nach Spenden, und dann, wenn Japan gesagt hat, wo es das dann konkret braucht, dann das dort hinzuschicken.

    Engels: Das heißt, dass diese großen Spendenaufrufe nicht kommen, hängt auch damit zusammen, dass es noch nicht so dringend nötig ist, oder nur, weil man es noch nicht so richtig einzuordnen weiß?

    Meid: Weil man es im Moment noch nicht vernünftig an die richtige Stelle bringen kann. Das heißt, man muss sich immer wieder vor Augen führen, das ist eine Industrienation. Also wir haben kein Entwicklungsland, wo man jetzt erst mal mit null anfangen muss und Infrastruktur aufbauen und Logistik aufbauen muss, die haben die selber und die haben selbst noch keinen Überblick. Es gibt Gebiete in dem überschwemmten Teil, da ist man noch gar nicht hingekommen. Man arbeitet sich langsam stückchenweise vorwärts, um zu schauen, was brauchen wir konkret, und das versucht man erst mal intern. Da wo man Hilfe braucht, holen die Japaner ja auch aus dem Ausland Hilfe. Und die Spendenaktion ist sozusagen das, da kann man sich später drum kümmern. Man hat wirklich momentan akut andere Sorgen.

    Engels: Schauen wir noch einmal auf das Vertrauen, was in die japanische Regierung gesteckt wird, denn da war ja die Informationspolitik, sowohl was das Nukleare angeht, als auch möglicherweise die Hilfsmöglichkeiten, nicht immer optimal. Haben Sie eine Erklärung, warum die Geduld der Japaner mit der eigenen Regierung zumindest nach der Betrachtung von hier aus noch relativ hoch zu sein scheint?

    Meid: Ja. Was die Regierung selbst anbetrifft, ich sage jetzt mal pauschal "die Politiker", da geht man sowieso davon aus, dass die genauso wenig wissen wie man selbst. Sie können ja auch nicht in ein Kraftwerk sozusagen steigen und gucken, was da unten los ist. Das heißt, man geht davon aus, dass die sich erst mal um die Sachen kümmern, die akut wichtig sind. Man sieht das ja auch. Sowohl Tokio nach dem Beben ist wieder aufgeräumt, als auch in den Flutkatastrophen-Gebieten arbeitet man sich langsam vorwärts. Das heißt, man bekommt mit, da geschieht was, und hofft natürlich, die werden sich natürlich darum kümmern, das ist ja deren Aufgabe. Das hat weniger mit Vertrauen zu tun, als mit dem Selbstverständnis, dass jemand, der eine Aufgabe hat, auch diese erfüllen wird.

    Engels: Heißt unter dem Strich, Sie rechnen nicht mit einer Fluchtbewegung flächendeckend Richtung Süden des Landes?

    Meid: Nein, ganz eindeutig. – Ja doch, in Richtung Süden vielleicht, aber auch Flucht aus anderen Gründen, weil es eben keinen Strom gibt etc. Deswegen sind einige zum Teil mit ihren kleinen Kindern dann in den Süden gefahren. Aber es wird keine Fluchtwelle panikartig geben, weil man plötzlich feststellt, man hat eine nukleare Katastrophe vor Augen.

    Engels: Informationen und Einschätzungen von Pia Tomoko Meid. Sie ist Geschäftsführerin der deutsch-japanischen Gesellschaft in Düsseldorf. Vielen Dank für Ihre Zeit heute früh.

    Meid: Danke schön.