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"Man orientiert sich an den Bedürfnissen der Kinder"

Es gibt keine klassischen Fächer, keine Klassenstufen oder -Räume: An weltweit rund 30 sogenannten Sudbury-Schulen steht die Autonomie des Kindes ganz im Vordergrund. Nun gibt es die erste Filiale in Deutschland. Für den Leipziger Bildungsforscher Ulrich Klemm entspricht diese Form des Lernens neuesten Erkennissen der Forschung.

Ulrich Klemm im Gespräch mit Kate Maleike | 30.08.2012
    Kate Maleike: Respekt, Demokratie, Freiheit und Vertrauen – auf diesen vier Säulen stehen demokratische Schulen, die nach dem sogenannten Sudbury-Modell arbeiten, das aus den USA stammt. In diesen Schulen ist man überzeugt, dass Kinder und Jugendliche am effektivsten Lernen, wenn sie über ihr Lernen vollständig selbst bestimmen können. Von diesen Sudbury-Schulen gibt es weltweit über 30 und demnächst wird die erste auch in Deutschland an den Start gehen, und zwar in München. Nach sieben Jahren Kampf kam jetzt die offizielle Genehmigung, zunächst für zwei Jahre. Demokratische Grundsätze, danach, sagt man vielleicht, sollten sich doch eigentlich alle Schulen in Deutschland ausrichten? Aber weit gefehlt! – Sagt Ulrich Klemm, er ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Uni in Leipzig und er begleitet die neue Sudbury-Schule in München wissenschaftlich. Guten Tag, Herr Klemm!

    Ulrich Klemm: Guten Tag, Frau Maleike!

    Maleike: Was vermissen Sie denn in puncto Demokratie an deutschen Schulen generell?

    Klemm: Ja, also, es sind vor allem zwei Aspekte, die deutsche Schulen von demokratischen Schulen unterscheiden. Das ist einmal der Beteiligungsaspekt beziehungsweise die Beteiligungsrechte von Kindern, aber auch von Eltern und von Lehrern. Und der zweite Aspekt ist das Bild vom Kind, also, wie wir so schön sagen, die Anthropologie des Kindes. Das Kind ist ein autonomes, selbstbewusstes Wesen, das ist eigentlich die Präambel auch der demokratischen Schulen. Und dieser Blick auf das Kind, der fehlt oftmals, sage ich, an deutschen Schulen.

    Maleike: Aber es tut sich doch was! Man kann doch sagen, es gibt viele Ansätze, Schule vom Kind aus zu denken, und es gibt auch Schülermitbestimmungen, es gibt viele Schulen ohne Rassismus zum Beispiel, da haben wir über 1000 im Land, es gibt Buddy- und Streitschlichtungsprogramme, Schülerparlamente. Warum muss es gleich immer ein ganz anderes Schulsystem, ein neues Konzept sein?

    Klemm: Weil, es geht um Demokratie leben, nicht nur Demokratie lernen, sondern es geht um demokratische Strukturen. Das ist der zentrale Unterschied. Sie haben eine ganze Reihe von Initiativen aufgezählt, die sind wichtig und die sind gut, die müssen sich auch verbreiten. Aber es geht um mehr als um diese methodisch-didaktischen Initiativen, es geht um die demokratische Schulstruktur. Das heißt, diejenigen, die Schule, die Bildung verantworten, die müssen auch darüber bestimmen. Und das ist ein zentrales Element, bei uns ist die Schulverwaltung, das Kultusministerium ist sozusagen Herr des Verfahrens, und nicht die Betroffenen. Die Betroffenen, also die Eltern, die Lehrer und die Schüler.

    Maleike: Das ist auch dann der Grund dafür, warum das sieben Jahre in München gedauert hat?

    Klemm: Ja, also, es spricht erst mal für München, es spricht für das Kultusministerium München, das muss man eindeutig sagen. Nämlich nach sieben Jahren Kampf sozusagen und Engagement lässt sich der bayerische Staat auf eine demokratische Schule ein. Und da ist Bayern das erste Bundesland, das eine demokratische Schule akzeptiert beziehungsweise erst mal für zwei Jahre auch unterstützt und auch genehmigt. Was nach den zwei Jahren ist, da muss man dann weiterschauen. Aber das muss man eindeutig sagen: Die Münchener Sudbury-Schule wird die erste offiziell Sudbury-, demokratische Schule in der Bundesrepublik sein.

    Maleike: Jetzt wollen wir doch mal ein bisschen näher hören, wie dieser Unterricht, wie diese Schule eigentlich aussieht. Wie unterscheidet die sich von der normalen Schule?

    Klemm: Ja, Unterricht im klassischen Sinne gibt es gar nicht. Auf der Basis der Bildungsselbstbestimmung bestimmen die Schüler, die Kinder – Schüler sind es ja auch keine im klassischen Sinne –, bestimmen selber, was sie selber, wie sie lernen und auch wann sie lernen, und mit wem, ganz entscheidend! Das heißt, wir müssen uns so eine Sudbury-Schule nicht vorstellen wie eine klassische Schule, da gibt es Bänke, da gibt es Klassenzimmer, da gibt es verschiedene Klassenstufen, sondern in diesen Sudbury-Schulen, da sind siebenjährige Kinder zusammen mit 14-, 15-jährigen Jugendlichen zusammen und lernen auch gemeinsam an einem Thema. Die finden sich zusammen oder sie lernen alleine. Man geht davon aus, dass die Kinder einen hohen Grad an Autonomie auch besitzen und wissen, was sie wollen und was sie nicht wollen. Da gehen sie auf die Erwachsenen entsprechend auch zu und sagen, ich brauche da deine Unterstützung. Da gibt es nicht diesen klassischen Lehrer, der reinkommt, eine Dreiviertelstunde Unterricht macht, dann Pause und dann kommt der nächste Lehrer.

    Maleike: Also eine Lernpartnerschaft zwischen den Erwachsenen und den Schülern.

    Klemm: Eindeutig.

    Maleike: Und wer hat dann sozusagen das Curriculum in der Hand, also, an was orientiert man sich?

    Klemm: Man orientiert sich an den Bedürfnissen der Kinder und an den Möglichkeiten auch der Lehrkräfte, der Betreuung.

    Maleike: Also, es gibt dann auch keine Fächer mehr?

    Klemm: Es gibt keine klassischen Fächer. Die Schüler, die Kinder, die suchen sich das Thema selber raus und machen aus, bestimmen, sie möchten die nächsten drei Wochen dieses und jenes lernen. Dann suchen sie sich Lernpartner, Erwachsene genau so wie andere Schüler, und gehen an dieses Thema ran. Also, wir machen die Erfahrung, Sie haben vorhin richtig gesagt, dass ja, Sudbury-Schulen ist keine neue Erfindung, sondern es gibt etwa 30 Sudbury-Schulen weltweit, und dass wir keinen Fall von Analphabetismus haben – weil, so etwas haben wir natürlich gleich in der Fantasie, dass wir sagen, wenn wir den Kindern das überlassen, dann wollen die doch nicht Lesen lernen, nicht Schreiben lernen, nicht Rechnen lernen –, nein, die lernen das, aber mit einem eigenen Rhythmus zum eigenen Zeitpunkt.

    Klemm: Herr Klemm, ganz offen: Das klingt sehr frei, aber auch ein Stück weit abenteuerlich. Aber Sie werden das ja als Erziehungswissenschaftler begleiten! Was macht Sie frohen Mutes, dass dieses Projekt sich in Deutschland etablieren kann?

    Maleike: Wir brauchen vielleicht etwas länger. Das sind ja keine neuen Erkenntnisse, die wir haben. Diese Reformpädagogik, diese Alternativschulen, diese Alternativen zum Lernen, zum schulischen Lernen, das ist ja nichts Neues. Das kennen wir seit 150 Jahren aus der Reformpädagogik. Und wenn wir heute einen Blick in die aktuelle Wissenschaft auch mal über den Tellerrand der Pädagogik hinauswerfen, beispielsweise die Gehirnforschung, da erleben wir Erkenntnisse, die bestätigen genau so ein Lernen. Die Gehirnforschung sagt uns im Moment sehr genau und bestätigt auch alte reformpädagogische Konzepte, wie wir in der Schule lernen sollten und was wir vermeiden sollten!

    Klemm: In München gibt es demnächst eine erste behördlich genehmigte demokratische Sudbury-Schule. Und wir haben darüber gesprochen mit dem Mann, der dies als Wissenschaftler begleitet, dem Erziehungswissenschaftler Professor Ulrich Klemm von der Uni Leipzig! Herzlichen Dank für das Gespräch!

    Maleike: Ich danke auch, Frau Maleike!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Der Verein Sudbury München e.V. (Homepage)