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"Man sollte sich nicht nur auf das konzentrieren, was nicht läuft"

"Die Aufgabe ist nicht nur wegen des Erdbebens, sondern wegen der strukturellen Probleme in Haiti, einfach gigantisch", umreißt Peter Zangl, Leiter des EU-Amtes für humanitäre Hilfe (ECHO), die Lage. Jetzt profitierer man aber davon, dass nach dem Tsunami 2004 das Hilfssystem weltweit reorganisiert und umstrukturiert worden sei.

Peter Zangl im Gespräch mit Silvia Engels | 20.01.2010
    Silvia Engels: Gut eine Woche nach dem Erdbeben in Haiti läuft die Hilfe für die überlebenden Opfer, aber sie läuft an vielen Stellen weiterhin stockend. Ein Grund dafür ist, dass die haitianische Regierung und auch die UNO-Vertretung von dem Beben so stark getroffen wurden, dass sie selbst kaum in der Lage waren zu helfen. Infolgedessen übernahm die USA die Hauptkoordination der Hilfe. Nun haben UNO und UN entschieden, die Truppenkontingente gemeinsam auf insgesamt 50.000 Mann aufzustocken. So soll die Versorgung und die Sicherheit in Haiti besser werden. Daneben gehen die Such- und Bergungsarbeiten weiter.

    Nach den unmittelbaren Bergungsarbeiten stellen sich in den nächsten Tagen Fragen der Versorgung der Menschen für die nächsten Wochen und Monate. Die internationale Spendenbereitschaft ist groß. Daneben hat auch die EU 120 Millionen Euro Soforthilfe zugesagt. Mittelfristig sollen weitere 300 Millionen Euro für den Wiederaufbau fließen.

    Doch wie kann sie die Hilfe in die Region bringen? – Dafür zuständig ist das European Community Humanitarian Office, kurz ECHO. Das Amt gehört zur EU-Kommission, beschäftigt 500 Mitarbeiter und unterhält weltweit 30 Büros. Leiter ist Peter Zangl und wir erreichen ihn kurz vor dem Abflug in Richtung Haiti. Guten Morgen, Herr Zangl.

    Peter Zangl: Guten Morgen!

    Engels: Welches ist die wichtigste Aufgabe, sobald Sie in Haiti angekommen sind?

    Zangl: Die wichtigste Aufgabe ist für den Kommissar Karel De Gucht, der diese Mission leiten wird, ist, sich vor Ort eine konkretere Vorstellung zu machen, was nun wirklich notwendig ist. Natürlich wird er zunächst mal Mitgefühl und Solidarität nicht nur mit den Einwohnerinnen und Einwohnern von Haiti, sondern auch mit den zahlreichen Helfern von Hilfsorganisationen und UN-Agenturen aussprechen.

    Engels: Ihr Amt unterhält ja selbst ein Büro in Port-au-Prince. Ist das arbeitsfähig, oder zerstört?

    Zangl: Das Büro selbst ist wie die EU-Delegation in einem Gebäude, das nicht mehr benutzbar ist, und unser Büro arbeitet wie die meisten internationalen Organisationen in der Nähe des Flughafens unter Notbedingungen. Es arbeitet effizient und es arbeitet Dank der Proximität am Flughafen Hand in Hand mit allen anderen Organisationen und insbesondere mit der UN, und nicht nur da mit der integrierten Mission, sondern auch mit dem sogenannten OCHA, welches in der UN für humanitäre Hilfe zuständig ist.

    Engels: Herr Zangl, Sie haben ja den Überblick auch gerade aus eigenen Quellen, wo im Moment die größten Defizite der koordinierten Hilfe noch sind und wo es gut läuft. Was würden Sie da als Beispiele benennen?

    Zangl: Ich würde zuerst mal sagen, ich glaube, es gibt niemanden, der im Moment einen vollständigen Überblick hat. Jeder versucht, so gut es geht ein ausreichendes Bild sich zu machen.

    Ich glaube, wie Sie schon in Ihrem vorherigen Bericht angesprochen haben, fehlt es natürlich an Entscheidungsfähigkeit der Behörden und auch der UN, die ja besonders hart von dem Erdbeben auch in Personal und Leitungspersonal getroffen wurde. Es fehlen auch insbesondere die klassischen Mittel, Notunterkünfte, Nahrungsmittel, Trinkwasser und nicht zu vergessen Nicht-Nahrungsmittel. Vielleicht um mal konkret zu machen: Man sollte sich nicht nur auf das konzentrieren, was nicht läuft. Das sind natürlich die Sachen, die prioritären, die man herausfiltern muss. Aber um dies klar zu bekommen, muss man sich natürlich auch ein Bild dessen verschaffen, was läuft.

    Engels: Da sind wir genau beim Thema. Man denkt ja, wenn man vor dieser Aufgabe steht, wie kann man da überhaupt den Überblick behalten. Ihr Amt ist ja auch viel dabei, Geld nicht nur zu haben, sondern auch weiter zu verteilen: an das Rote Kreuz, an die Vereinten Nationen, aber auch an Organisationen, die konkret Hilfe leisten. Wie können Sie da denn dafür sorgen, dass wir nicht an einigen Stellen Doppelversorgung haben, auf den anderen Seiten möglicherweise Defizite, weil sich die Hilfe gegenseitig im Weg steht?

    Zangl: Ich gebe Ihnen vielleicht mal zwei konkrete Beispiele vorab zur Koordination. Das besondere der humanitären Hilfe ist, wie Sie zurecht gesagt haben, wir bezahlen und haben vertragliche Verbindungen mit den UN-Agenturen, mit der Rotkreuzfamilie und mit Nicht-Regierungsorganisationen, Caritas, Oxfam und ähnliche. Diese setzen dann die von uns in Auftrag gegebenen Maßnahmen um. Wir haben da ein gut eingespieltes System, das wir auch wissen, wie das funktioniert.


    Zu dem "nicht zweimal das gleiche" und so: Ich meine, es gibt überall immer Betriebsunfälle, besonders in so schwierigen Situationen wie jetzt in Haiti, aber die Familie der humanitären Hilfe ist eine gut eingespielte kleine Gemeinschaft, relativ kleine Gemeinschaft auf Weltebene, die in engem Kontakt miteinander steht. Wir stehen also, wie ich gesagt habe, nicht nur am Flughafen in Port-au-Prince, sondern auch mit OCHA in New York in ständigem Kontakt, um zu prüfen, dass nicht unnötig Maßnahmen durchgeführt werden.

    Um mal konkret zu sagen, was wir mit unserem Geld machen und was die EU macht, weil das ja auch für Ihre Zuhörer von Bedeutung ist. Zum Beispiel wird der europäische Zivilschutz hier von Brüssel aus koordiniert und es sind im Moment 16 europäische Zivilschützer vor Ort in Haiti tätig. Zum Beispiel das deutsche THW ist mit einer Wasseraufbereitungsanlage unter anderem vor Ort, die natürlich das stark benötigte Wasser liefert.

    Sie haben nach dem Geld gefragt. Das ist eine sogenannte In-Time-Hilfe in Leistung. Wir haben zum Beispiel von den 30 Millionen, die wir zur Verfügung haben, in einer Eilentscheidung drei Millionen frei gemacht. Damit leistet zum Beispiel das Deutsche Rote Kreuz vor Ort Maßnahmen für Notunterkünfte, oder dass wir auch Nicht-Nahrungsmittel-Produkte nennen wie zum Beispiel ganz wichtige Wasserfilter, um nur einmal zu sagen, was konkret läuft.

    Vielleicht noch ein Hintergrund, der wichtig ist. Es wird immer wieder viel auf die Lagerbestände am Flughafen von Port-au-Prince hingewiesen. Ich glaube, wichtig ist, sich vorzustellen, es reicht nicht, hin und wieder hier und dort Nahrungsmittel, Wasser und Zelte und Decken zu den Leuten zu bringen. Dies muss ein System sein, das kontinuierlich organisiert ist. Ein System, das ist wie eine Pipeline, die kontinuierlich funktioniert; dann müssen sie auch irgendwo ein Lager haben. Ich sage nicht, dass die Lager in Port-au-Prince alle notwendig und richtig sind, aber der Tatbestand, dass man irgendwo ein Lager sieht, ist an sich nichts besonderes. Wenn sie zum Beispiel nach Darfur fahren, um ein anderes Beispiel zu nehmen, das erste was sie neben dem Flughafen sehen ist immer der Lagerbestand mit den Nahrungsmitteln, weil das System sonst nicht funktionieren kann.

    Engels: Schauen wir noch einmal die Problematik an. Sie verfügen eben über staatliche Mittel der EU. Daneben laufen im Moment auch viele private Spenden ein. Beim Wiederaufbau nach dem Tsunami ergab sich ja zum Beispiel das Problem, dass viel privat gesammeltes Geld am Ende gar nicht mehr sinnvoll eingesetzt werden konnte. Droht so etwas auch im Fall Haiti? Man mag im Moment noch nicht darüber nachdenken, aber mittelfristig betrachtet.

    Zangl: Wie gesagt, ein Paradies gibt es hier auf Erden nicht. Seit dem Tsunami ist ja das System weltweit reorganisiert worden und umstrukturiert. Wir sind ja jetzt auch nicht mehr wie vor langen Jahren, auch vorm Tsunami, die ganzen insbesondere Nicht-Regierungsorganisationen sind ja heute hochspezialisierte und professionelle Organisationen, die jede genau wissen, was sie zu tun haben, wie auch das Rote Kreuz. Es funktioniert sowohl vor Ort wie in New York unter UN-Führung das sogenannte Cluster-System.

    Das heißt, wir haben in Haiti im Moment mindestens täglich oder alle zwei Tage eine Sitzung unter Federführung der UN, wo dann zum Beispiel für Wasser und Gesundheit alle Informationen zusammengebracht werden: von uns, von den unabhängigen Nicht-Regierungsorganisationen, von den nationalen Behörden, sofern sie vertretbar sind, die dann alle Informationen sammeln, was wird im Moment im Bereich Wasser und Gesundheit hier für Port-au-Prince geleistet, was haben wir gleichzeitig wahrgenommen und identifiziert an Bedürfnissen, die nicht gedeckt werden, und wer übernimmt welchen Teil dieser Aufgaben. Und dann, letzte Spalte: Was können wir im Moment nicht abdecken.

    Man muss einfach klar sehen: Die Aufgabe ist nicht nur wegen des Erdbebens, sondern wegen der strukturellen Probleme in Haiti, einfach gigantisch. Die Vorstellung, dass man nach sieben Tagen schon alles im Griff hätte, ist ein bisschen überzogen.

    Engels: Peter Zangl, Leiter des EU-Amtes für humanitäre Hilfe. Wir sprachen mit ihm kurz bevor er nach Haiti fliegt. Vielen Dank für Ihre Zeit.

    Zangl: Bitte. Auf Wiederhören!