Samstag, 20. April 2024

Archiv


Man wollte retten, was nicht mehr zu retten war

Ende Oktober wurde die Leistungssportförderung zunehmend öffentlich kritisiert. Eine wirklich harte Debatte aber begann erst später. Noch gab es Tabus wie etwa das Dopingsystem.

Von Jens Weinreich | 25.10.2009
    Die Erschütterungen waren allerdings spürbar. Eine Kleinigkeit nur: Die Mitgliederversammlung des DDR-NOK wurde kurzfristig abgesagt.

    27. Oktober 1989: Der Luckenwalder Freistilringer Heiko Balz holt in Ulan-Bator den letzten Weltmeistertitel des Jahres für die DDR. Noch funktioniert die Medaillenproduktion. Insgesamt gewinnen DDR-Sportler 1989 bei Welt- und Europameisterschaften 71 Gold-, 62 Silber- und 53 Bronzemedaillen. Erneut ist die DDR weltweit hinter der Sowjetunion zweitstärkste Sportnation.

    29. Oktober 1989: In Ost-Berlin kommt es vor dem Roten Rathaus zur ersten großen öffentlichen Diskussion der Partei- und Stadtführung mit dem Volk. Unter Druck stammelt Polizeipräsident Rausch eine Entschuldigung für die Verhaftungen und Übergriffe von Anfang Oktober.

    30. Oktober 1989: An einem Demo-Montag stellt sich ein Quartett der Sportführung in Leipzig Studenten der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK): DTSB-Präsident Klaus Eichler, Vizepräsident Voigt - sowie der für Sommersport verantwortliche Vizepräsident Horst Röder und Rudi Hellmann, Leiter der Sportabteilung des ZK der SED. Gemäß der Tageszeitung Deutsches Sportecho waren die Genossen mit dem Ziel angereist ...

    " ... den Willen der Studenten weiter zu stärken, mit aller Kraft für den Sport in der sozialistischen Gesellschaft und seine Aufgaben in den 90er-Jahren tätig zu werden"."

    Derlei Parolen zünden kaum noch.

    31. Oktober 1989: Das DTSB-Präsidium trifft sich in Berlin, verabschiedet die erste so genannte "Wende-Erklärung" und greift damit den von Egon Krenz geprägten Begriff "die Wende" auf. Gemeint war die angeblich "von der SED eingeleitete Wende". Im Volksmund hält sich die Vokabel "Wende" bis heute.

    Das DTSB-Präsidium beschließt, erfolgreiche Athleten in Propaganda-Maßnahmen einzubinden:

    ""Es gilt, sie weiter aktiv in das Leben der sozialistischen Sportorganisation einzubeziehen und ihnen in unserer Organisation eine gesellschaftliche Heimstatt zu geben. Ihre Ausstrahlung auf jetzige und künftige Sportlergenerationen ist kontinuierlich für die kommunistische Erziehung der jungen Generationen zu nutzen. Mit ihrem Einfühlungsvermögen und ihrer Vorbildrolle können sie eine bedeutsame politisch-erzieherische Wirkung erlangen."

    Man wollte retten, was nicht mehr zu retten war.

    31. Oktober 1989: Die so genannten Leiter-Informationen aus den Zentren des Hochleistungssports, in denen die "politisch-ideologische Situation" eingeschätzt wird, werden noch immer nach Berlin geschickt. So schreibt Prof. Schuster, Direktor des Forschungsinstitut FKS, eine Brutstätte des DDR-Dopings:
    "Unsere Mitarbeiter bekennen sich - bis auf wenige Ausnahmen - zu unserem Staat und zur weiteren Gestaltung des Sozialismus in unserem Lande. ( ... ) Die meisten Genossen erkennen in den Ausführungen des Genossen Krenz ( ... ) den Beginn einer grundsätzlichen Wende in der Politik der Partei. ( ... ) Die Genossen bringen ihre Besorgnis über den großen Vertrauensschwund der Partei bei unserer Bevölkerung zum Ausdruck. ( ... ) Die Hauptursachen werden in einer Atmosphäre der Schönfärberei, Selbstzufriedenheit, Kritiklosigkeit und Bürokratie gesehen."

    Gleichzeitig verspricht Schuster, alle Ziele des sozialistischen Wettbewerbs pflichtgemäß zu erfüllen. Was er nicht schreibt: Tag und Nacht arbeiten im FKS die Reißwölfe. Bergeweise Akten werden vernichtet. In den Dokumenten der Enquete-Kommission des Bundestages heißt es dazu:

    "Vernichtet wurden alle Dokumente, die Doping-Angelegenheiten betrafen; hierfür lagen Anweisungen von Dr. Höppner, dem Dopingbeauftragten von Manfred Ewald vor. Vernichtet wurden alle Unterlagen, die Stasi-Vorgänge betrafen ( ... ) Die lokale Verantwortung lag bei der Gruppe der leitenden Parteifunktionären am FKS."

    Die einen vernichteten Akten. Andere hatten bereits kapituliert: So war Karl-Eduard von Schnitzler, Chefpropagandist des DDR-Fernsehens, mit seiner Sendung "Der schwarze Kanal" an jenem Abend im Oktober 1989 abgetreten, als sich die DTSB-Führung in Leipzig mit DHfK-Studenten traf.