Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Manfred Flügge
"Stadt ohne Seele. Wien 1938"

Im März 1938 marschierten die Nationalsozialisten in Österreich ein und radikalisierten die dortige Gesellschaft innerhalb kürzester Zeit. In seinem Buch zeigt der Berliner Historiker Manfred Flügge die Vorgeschichte und die Folgen des sogenannten "Anschlusses" Österreichs an Nazi-Deutschland auf.

Von Ralph Gerstenberg | 12.03.2018
     Der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler (l) schaut mit Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels am 14. März 1938, einen Tag nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich, vom Balkon des Hotels Imperial in Wien am Schwarzenbergplatz auf die ihm
    In Wien wird Adolf Hitler von Hunderttausenden empfangen (picture alliance / dpa / apa Brandstätter-Verlag)
    Am 15. März 1938 verkündete Adolf Hitler unter dem Jubel der Massen auf dem Wiener Heldenplatz den "Anschluss" Österreichs an Deutschland:"Als Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reichs melde ich vor der deutschen Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich."
    Es schien, als läge die Wiener Bevölkerung dem Führer zu Füßen, als habe sie nur darauf gewartet, dass der gebürtige Österreicher seine ehemaligen Landsleute zu sich ins Reich holt.
    Doch dieser Eindruck trügt, erläutert Manfred Flügge, Autor des Buches "Stadt ohne Seele": "Da fallen wir auf die Nazipropaganda rein. Das sind die Bilder, die man sehen sollte. Die damals gewirkt haben und die auch international gewirkt haben, weil England, Frankreich den Eindruck hatten, die wollen das ja, da können wir nichts machen."
    Die Stadt zeigt ihre Fratze
    Eine Volksbefragung, die der österreichische Kanzler Schuschnigg kurz zuvor angesetzt hatte, wurde mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch im März 1938 verhindert. So weiß niemand, ob es für den sogenannten "Anschluss" Österreichs an Deutschland eine Mehrheit gegeben hätte.
    Ganz gewiss nicht unter der jüdischen Bevölkerung, die in dem als Austrofaschismus verschrienen österreichischen Ständestaat bis dahin die gleichen Rechte wie die übrige Bevölkerung genoss. Damit war es nun vorbei.
    Vierzehn Tage lang wurden in Wien jüdische Bewohner öffentlich gedemütigt, misshandelt und beraubt: "Die Stadt ohne Seele zeigte ihre Fratze. Juden wurden ‚auf den Straßen blutig geschlagen, angespuckt und beschimpft. Juden mit gebrochenen Rippen, blutigen Schädeln, ausgebrochenen Zähnen kamen in Massen in die Ambulanz des jüdischen Spitals. [...] Ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht [wurden Juden] zusammengetrieben und gezwungen Froschhüpfe zu machen und selbst zu rufen 'Juda verrecke' oder 'Ich bin ein Saujud'."
    Dazu erläutert der Autor Manfred Flügge: "Es ist eigentlich ein Pogrom, ein wildes Pogrom. Es zeigt sich eben, was dieses NS-Regime war. Es ist organisierter Jubel einerseits und schrankenlose Barbarei andererseits. In Wien zwei, drei Wochen lang spontan, dann wird das von oben abgedreht sozusagen und die Beraubung und Entrechtung der Juden geschieht dann nach Gesetz und Vorschrift und Bürokratie. Im Endeffekt ist es dasselbe."
    Kultureller Bruch
    Ausführlich beschreibt Manfred Flügge in seinem Buch den kulturellen Bruch, den die nationalsozialistische Machtübernahme herbeigeführt hat. Wien, das war die Stadt von Sigmund Freud, Robert Musil, Karl Kraus - eine Stadt der Wahrheitssuche, der Literatur und der Kunst.
    Freud, der wohl bedeutendste Erkunder der menschlichen Seele, dessen Bücher von den Nazis bereits öffentlich verbrannt worden waren, verlässt die Stadt ein Vierteljahr nach dem "Anschluss". Der Publizist und Schauspieler Egon Friedell entzieht sich seiner Verhaftung, indem er sich aus dem Fenster stürzt.
    Fritz Löhner-Beda, Librettist von Franz Lehár und Textdichter von Gassenhauern wie "Ausgerechnet Bananen" oder "Was machst du mit dem Knie, lieber Hans", wurde er als Zwangsarbeiter der IG Farben in Auschwitz ermordet:
    "Am 4. Dezember 1942 besichtigten fünf Direktoren der IG Farben die Produktionsstätte Buna. Die Namen der leitenden Herren sind bekannt. Zwei Häftlinge kommen ihnen entgegen, darunter Beda, der mühsam in Holzpantinen geht. Ein Manager sagt: 'Der Jude dort könnte auch etwas rascher arbeiten.' Das ist sein Todesurteil. Noch an diesem Abend schlägt ihn ein krimineller Kapo tot. Auch dessen Name ist bekannt. Den leitenden Herren von der IG Farben waren im Nachkriegsdeutschland großartige Karrieren gegönnt, sie lebten reich, geachtet und in Wohlstand. Nie hat jemand zu ihnen gesagt: Dieser Nazi könnte auch etwas rascher arbeiten."
    Manfred Flügge ist kein neutraler Erzähler. Immer wieder kommentiert er das Geschehen, als müsse er sich Luft machen, um das Unfassbare zu ertragen. Wie in einem Roman verknüpft er Einzelschicksale und Ereignisse zu einer vielschichtigen Erzählung.
    Doku-Drama ohne Effekthascherei
    Dabei bedient er sich durchaus literarischer Stilmittel, um den historischen Stoff für heutige Leser gut zugänglich zu machen. Essayistische Passagen wechseln mit biografischen, kulturhistorische Betrachtungen folgen auf dramatisierte Szenen.
    Die Grenze zur Fiktion wird jedoch nie überschritten: "Das ist für mich ein Tabu, ein absolutes Tabu. Ich erfinde keine Sätze. Die Sätze, die ich sagen lasse, sind belegt."
    "Stadt ohne Seele" ist eine Art literarisches Doku-Drama, das ganz ohne die Effekthaschereien und Simplifizierungen des äquivalenten Fernsehformates auskommt. Manfred Flügge setzt auf die Einheit von Ort und Zeit und die ungeheure Dynamik der Ereignisse.
    Er stellt überraschende Zusammenhänge her, zum Beispiel zwischen der Biografie von Sigmund Freud und der von Adolf Hitler. Beide, schreibt Flügge, verbinde nicht nur die Liebe zu Berchtesgaden, sondern auch ein starker Hang zum Mythos.
    Während Freud mit beinahe verbissener Hartnäckigkeit in seinem letzten Werk versuchte, den Mythos des biblischen Moses zu dekonstruieren, hat Hitler ebenso hartnäckig daran gearbeitet, sich selbst zum Mythos zu machen.
    Manfred Flügges detailreiches und klug konstruiertes Buch zeigt, wie ein Land unter dem Einfluss der Nationalsozialisten seinen Namen verlor - Österreich hieß nach dem "Anschluss" nur noch Ostmark -, und eine Stadt ihre Seele.
    Manfred Flügge: "Stadt ohne Seele. Wien 1938"
    Aufbau Verlag, 479 Seiten, 25 Euro.