Freitag, 19. April 2024

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Manfred Osten über Goethe und die übereilte Moderne
Goethes Rezept für mehr Gelassenheit

Die Wende hin zur Maßlosigkeit seiner Epoche hat Goethe im "Faust" beschrieben. "Goethe kannte das Burnout-Syndrom und die Folgen der Selbstentfremdung", sagte der Kulturwissenschaftler Manfred Osten im Dlf. Das Rezept des Dichters für heute: Entschleunigung und Aufmerksamkeit.

Manfred Osten im Gespräch mit Michael Köhler | 31.07.2019
Die Vorstudie für das Gemälde 'Goethe in der Campagna' von 1787 von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein
Goethe empfahl Entschleunigung auch schon gegen den Geist der Zeit seiner eigenen Epoche (picture alliance / dpa / akg)
Die Französische Revolution, so Manfred Osten, war für Goethe der "Hauptquellgrund der Maßlosigkeit". Der Dichter brachte es auf die Formel: "Vor der Revolution war alles ein Streben, danach nur noch ein Fordern." Den Forderungen nach Freiheit oder Gleichheit habe weder ein Leistungs- noch ein Pflichtenbewusstsein entsprochen. Ein weiterer Quellgrund für das "ultra", für die Maßlosigkeit, bezeichnet Osten mit Goethe die industrielle Revolution: Den Menschen eröffnete sich damit zum ersten Mal die Möglichkeit einer vollständigen Ausbeutung der Erde. 1790 konnte Goethe das selbst als Bergbauminister in Schlesien beobachten, und vermutete schon damals, dass die Erde sich rächen würde für diese Art Ausplünderung. Manfred Osten zitiert Mephisto aus dem fünften Akt des Faust-Dramas mit "dem Satz des 21. Jahrhunderts":
'Mit deinen Dämmen, deinen Buhnen, bereitest du nur Neptunen, dem Wasserteufel, großen Schmaus. Auf jede Art seid ihr verloren, die Elemente sind mit uns verschworen - auf eure Vernichtung läuft's hinaus'.
Ein Porträt des Kulturwissenschaftlers Manfred Osten, Juli 2019
Der Kulturwissenschaftler Manfred Osten (Deutschlandradio / Michael Köhler)
Die Befreiung des Menschen aus den Fesseln der Fremdbestimmung mündet in die Zwänge der Entfesselung, die von Goethe etwa als Maßlosigkeit in der Produktion beschrieben wird, die der Dichter aber in allen Bereichen sieht, "vor allem auch in der Beschleunigung der Kommunikation", so Manfred Osten. Er sieht darin den Aufbruch in eine Grenzenlosigkeit, für die der Mensch nicht die neuronalen Voraussetzungen hat. "Wir sind ja, was die Empathie betrifft, begrenzt auf etwa 150 bis 200 Personen. Wir sind aber durch die Grenzenlosigkeit der Kommunikation in eine virtuelle Welt hin wieder bei Goethe, der sagt: 'Die Zunahme an Wissen ist immer auch eine Zunahme an Unruhe'. Wir kommen gerade in ein neurotisch aufgeregtes Zeitalter, in dem der Mensch das Abgleichen der Informationen mit der analogen Welt nicht mehr leistet."
Goethes Rettungsformel für die Moderne
Goethe biete aber nun auch die Wende weg von dieser übereilten Welt im "Faust" an: Dort gebe es Barbarei in jeder Hinsicht, dort seien die anthropologischen Folgen der Entgrenzung sichtbar, die totale Umwertung des Menschen. Goethe habe vor allem das Phänomen der Selbstentfremdung erkannt. "Wir definieren uns nicht mehr aus dem, was wir leisten, sondern über das, was wir uns leisten können." Der getriebene Mensch - wie Faust selbst - "verhungert in der Fülle", heißt es bei Goethe. Die Empfehlung des Dichters: Entschleunigung, zum Beispiel durch die Betrachtung der Natur. Goethe gebe in der Italienischen Reise "die zentrale Rettungsformel der Moderne: 'Aufmerksamkeit ist das Leben'. Das heißt, wir müssen wieder die Erkenntnisorgane des antiken Menschen mobilisieren, um Restbestände der analogen Welt zu retten."
Manfred Osten ist Kulturhistoriker und Publizist. Er war Diplomat und Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung. Osten ist Goethe-Kenner und liest ihn seit langem als modernen Klassiker für das 21. Jahrhundert, auch im Hinblick auf eine Ethik der Mäßigung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.