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Mangel an toten Mauleseln

Was macht die Literatur des amerikanischen Südens zur Literatur des amerikanischen Südens? Ein toter Maulesel. Zu diesem Schluss kam vor einigen Jahren der Autor eines Essays mit dem Titel "Das tote Maultier als Gattungsmerkmal der Literatur des amerikanischen Südens im 20. Jahrhundert" in der Zeitschrift "The Southern Literary Journal".

Von Sacha Verna | 09.04.2010
    Der Essay war als Parodie auf akademistisches Definitionsgeplänkel gedacht, dabei aber mit handfesten Beweisen unterfüttert. Wie der Autor Jerry Miller zeigte, ertrinken und ersticken die armen Tiere in rauen Mengen, sie werden überfahren, erstochen, erschossen und erhängt bei Schriftstellern von William Faulkner bis Allan Gurganus.

    Es mag am deutlichen Mangel an toten Mauleseln liegen, dass Eudora Welty im deutschen Sprachraum nicht so bekannt ist, wie sie es sein sollte. In den USA gelten die Romane und Kurzgeschichten der 1909 geborenen und 2001 verstorbenen Autorin längst als Klassiker der Südstaatenliteratur. Eudora Welty vereint in ihren Werken alle Themen, Motive und Eigenschaften, die man abgesehen von toten Mauleseln gemeinhin mit Literatur aus Alabama und Mississippi, aus Tennessee und Virginia verbindet: die Bedeutung von Familie, Religion und Gemeinschaft für das Individuum, den Einfluss der Natur und der Landschaft auf den Alltag und das Wesen der Menschen und die Sprache, die verschliffene Diktion des Südens, die Leerstellen, die oft vielsagender sind als zwei Dutzend neuenglische Sermone zusammen.

    Zunächst zur Sprache. Wie viel davon lässt sich ins Deutsche hinüberretten? Nicht alles, aber viel. Almuth Carstens hat zwei, Katrine von Hutten die übrigen 18 der Erzählungen übersetzt, die nun von Eudora Welty in dem schönen Band "Ein Vorhang aus Grün" beim Verlag Kein & Aber erschienen sind. Die beiden Übersetzerinnen treffen stets den Geist der Originale und den Ton wo immer möglich. Besonders aus den Dialogen meint man den Singsang herauszuhören, der für den Dialekt der Südstaaten so charakteristisch ist. So in der Geschichte "Der versteinerte Mann", die praktisch vollständig aus Unterhaltungen zwischen der Friseuse Leota und ihrer Kundin Mrs. Fletcher besteht. Es geht darin besonders um eine gewisse Mrs. Pike, die innerhalb einer Woche von Leotas Untermieterin und neuen besten Freundin zur persona non grata absteigt.

    In vielen anderen Erzählungen wird fast gar nicht geredet. In "Die Sirene" heult nur ... eben die Sirene, die die Farmer nachts dazu aufruft, ihre Tomaten vor einem drohenden Kälteeinbruch zu schützen. Damit auch kein einziges verlorenes Exemplar die nächste Ernte des Großgrundbesitzers und Tomatenkönigs Mr. Perkins schmälere. In wieder anderen Geschichten reden die Figuren aneinander vorbei. Und häufig sind die Gedankengänge jener, die reden, so schwer nachzuvollziehen, dass man plötzlich nicht mehr weiß, wer von ihnen verrückt ist, und ob man nicht vielleicht selber etwas Wesentliches verpasst hat, weil man mit einem bestimmten Code nicht vertraut ist.

    Die besten Erzählungen von Eudora Welty handeln in der Tat von Verrückten. Nicht immer von echten Spinnern, aber von Menschen, die aus irgendeinem Grund irgendwann in eine Ecke der Gesellschaft gerückt sind oder verrückt worden sind. "Warum ich auf dem Postamt wohne" ist ein glänzendes Beispiel dafür. Darin erklärt die Ich-Erzählerin, weshalb sie aus Protest gegen die Intrigen ihrer Schwester ins Postamt gezogen ist und dabei Radio, Nähmaschine und Bügelbrett gleich mitgenommen hat. Dieses Drama ist an Komik kaum zu übertreffen.

    Beklemmend ist hingegen das Schicksal von Clytie, der Protagonistin der gleichnamigen Geschichte. Sie hastet Nachmittag für Nachmittag ziellos durch die Stadt, um dann pünktlich zur Zubereitung des Abendessen wieder in dem düsteren Herrenhaus zu verschwinden, wo ihre Sippschaft sie buchstäblich zu Tode tyrannisiert. Andererseits: Ist Clyties Schicksal wirklich beklemmender als das von Lily, die in ein Behindertenheim abgeschoben werden soll, obschon sie steif und fest behauptet, sie habe einen Verlobten, der sie demnächst abholen und heiraten werde? Oder das des taubstummen Ehepaares, das in einem trostlosen Wartesaal den Zug für eine lang geplante Reise zu den Niagarafällen nicht hört und deshalb verpasst? Oft ist der Tod hier einfach der befreiendste Weg aus dem Wartesaal des Lebens.

    Nicht dass in "Ein Vorhang aus Grün" der Katzenjammer vorherrscht. Wenn die Regenmacherin Miss Hattie auch Unwillige unter ihren gigantischen Schirm zitiert, um sie sicher und trocken nach Hause zu bringen, dann gibt dies doch ein höchst kurioses Bild ab. Dabei steckt die Geschichte an sich, "Damen im Frühling", voll unheimlicher Erscheinungen und ominöser Andeutungen. Es ist eben diese Mischung aus präzisen Bildern, aus präzisen Sittenbildern und Geheimnissen, die den Reiz von Euodra Weltys Erzählungen ausmacht. Stets ist da mehr, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Bloß mit toten Mauleseln geht diese große Autorin des amerikanischen Südens wie gesagt äußerst sparsam um.

    Eudora Welty: "Ein Vorhang aus Grün". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Katrine von Hutten und Almuth Carstens. Kein & Aber Verag, Zürich 2009. 370 Seiten. 19.90 Euro/31.90 Franken.