Freitag, 19. April 2024

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Manuskript: Brillante Bilder, bunte Blasen

Ein paar bunte Flecken auf dem grauen Schattenriss eines Gehirns und schon ist die Geschichte fertig: Hier sitzt der Hass, dort die Liebe oder der Verstand. Kaum ein Artikel zum Thema Neurowissenschaft kommt ohne ein Bild aus dem Hirnscanner aus, jedes Ergebnis scheint durch sie verständlicher. Das aber ist ein Irrtum, monieren Kritiker der Bildgebung.

Von Volkart Wildermuth | 25.08.2013
    "Ladies and Gentlemen and citizens of the universe welcome to the 22nd first annual Ig-Nobel prize ceremony."

    Boston im Oktober. Im Sanders-Theater werden die Ig-Nobel-Prizes verliehen. Mark Abrahams zeichnet Studien aus, die einen erst zum Lachen bringen und dann zum Nachdenken.

    "Der Ig-Nobelprize für Hirnforschung geht an Craig Bennett, Abigail Baird, Michael Miller und George Wolford: Sie haben gezeigt, dass Neurowissenschaftler mit komplizierten Geräten und simpler Statistik Hirnaktivität sogar in einem toten Lachs nachweisen können."

    Hier sitzt das Böse! Die dunkle Stelle im Gehirn ist bei einem Verbrecher gut zu erkennen
    Bild Bremen.

    Hirnbilder machen Schlagzeilen.

    Gehirn-Scan zeigt erstmals Orgasmus der Frau.
    Focus.

    Medien und Öffentlichkeit können gar nicht genug bekommen.

    Zeig mir Dein Gehirn, und ich sage Dir, wer Du bist
    Süddeutsche Zeitung.

    Ein paar bunte Flecken auf dem grauen Schattenriss eines Gehirns und schon ist die Geschichte fertig. Hier ist die Liebe, da der Hass oder der Verstand. Längst legen nicht nur Spezialisten Versuchspersonen in den Tomographen, auch Psychologen, Philosophen, Marketingforscher wollen wissen, was das Gehirn so alles macht.

    Hannah Fitsch: "Da spielt sozusagen dieses Bild eine Rolle einer fotografischen Darstellung von dem, was im Gehirn passiert. Und damit scheinen sie auch sehr verständlich. Was sie aber nicht sind."

    Schritt eins. Vom Nervenimpuls zum Pixel.

    "OK, das Experiment kann jetzt beginnen, Sie bekommen jetzt auf dem Bildschirm einige Symbole dargeboten. Ich bitte Sie, sie aufmerksam zu betrachten. Wichtig ist dabei, dass Sie ihren Kopf so ruhig wie möglich halten. Alles klar."

    Per Mikrophon spricht der Psychologe Tobias Winkelmann zu der Versuchsperson einen Raum weiter. Die steckt in der engen Röhre eines funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographen (fMRI). Das laute Klacken kommt von den Magnetspulen. Je nach Symbol auf dem Bildschirm soll der Proband einen Knopf drücken. Tobias Winkelmann will herausfinden, wie das Gehirn dabei Informationen verarbeitet.

    "Der Ursprung des Signals, das wir aufnehmen, ist die Hirndurchblutung. Wird ein bestimmtes Hirnareal beansprucht, braucht es mehr Durchblutung und diese Durchblutung können wir quasi in der funktionellen MRT Abbildung abbilden."

    Alle zwei Sekunden produziert der Scanner ein neues Bild. Winkelmann:

    "Man sieht halt quasi das ganze Gehirn in horizontale Schnitte aufgeteilt, wie dünne Scheiben von oben nach unten. Was man vor allem sieht, sind die starken Aktivierungen an der Rückseite des Gehirns. Wenn Sie genau beobachten, können Sie ganz leichte Veränderungen sehen, dass es mal heller wird."

    Einen Gedanken kann Tobias Winkelmann daran noch nicht ablesen, dazu muss er erst viele, viele Scans sammeln, von diesem Probanden, von anderen und dann alle gemeinsam analysieren.

    "OK, wunderbar, das Experiment ist jetzt vorbei, wir kommen jetzt rein und holen Sie aus der Röhre raus."

    Ein Magnet-Resonanz-Tomograph ist eine beeindruckende Maschine. Große supraleitende Spulen erzeugen ein Magnetfeld drei oder gar siebenmal so stark wie das der Erde. Kleinere Spulen variieren unter lautem Klacken das Feld in der Röhre. Radiospulen lauschen auf das Echo ultrakurzer Energieimpulse. Der ganze Aufwand, um Quanteneigenschaften der Wassermoleküle des Körpers zu vermessen, die auf den Sauerstoffgehalt des Blutes reagieren. Der Sauerstoffgehalt des Blutes wiederum schwankt im Gleichtakt mit der Nervenaktivität. Ein ausgesprochen indirektes Verfahren, das Gehirn beim Denken zu beobachten, gesteht auch der Bildgebungsexperte John-Dylan Haynes von der Berliner Charité zu.

    "Was wir nicht wissen, ist, ob dann an der Stelle im Gehirn die Nervenzellen besonders viel gefeuert haben oder ob am Eingangsbereich der Nervenzellen besonders viele Informationen angekommen sind, es gibt also da eine Reihe von Unklarheiten. Man weiß aber nach dem derzeitigen Stand der Forschung grob, dass da etwas an dieser Stelle im Gehirn passiert."

    Diese Stelle, das ist ein etwa drei Millimeter großer Würfel, der etwa eine Million Nervenzellen enthält. Voxel nennt man diese kleinen Einheiten des dreidimensionalen Bildes, vergleichbar den Pixeln in der Fotographie. Kein Voxel eines fMRI-Scans ist je wirklich schwarz, abgesehen vom Hirnwasser. Wenn man genau ist, passiert überall etwas im Gehirn und zwar ständig. Entscheidend sind subtile Veränderungen in den Grauwerten, die gerade einmal wenige Prozent der Grundaktivität des Gehirns ausmachen.

    Beim Rappen stört das Gehirn. Die Welt.

    "I need to rhyme but I actually suck compared to Open Mike Eagel / and the free style fellowship People / I aint seeing nothing except church steeples / around Germany. The last time I visited Munich / Octoberfest / What was happening I wasn’t walking around in a tunic / it was jeans and a vest."

    Diese Zeilen reimt Daniel Rizik-Bear spontan im Interview. Der Rapper aus Los Angeles improvisiert auf den Beat. Normalerweise auf der Bühne, aber einmal auch im Hirnscanner des amerikanischen Nationalen Instituts für Taubheit. Dort ließ Allen Brown Rapper erst improvisieren und später auswendig gelernte Reime vortragen. So wollte er die biologischen Wurzeln der Kreativität aufspüren. Entscheidend ist: Improvisation und Vortrag sind sehr ähnlich. Das Gehirn muss dabei wie immer vielfältige Körperfunktionen steuern, zusätzlich organisieren Sprachzentren die Grammatik, Motorregionen die Mundbewegung. Über den Vergleich der Hirnaufnahmen lassen sich all diese Aktivitäten herausfiltern. Übrig bleibt, was die beiden Aufgaben unterscheidet: die sprachliche Kreativität. Am Ende erwies sich eine Hirnregion als besonders rege, die an Motivation und Multitasking beteiligt ist. Gleichzeitig wurden Zentren der Selbstbeobachtung und Planung quasi heruntergefahren.

    "Das heißt, Motivation ohne Selbstkontrolle. Aufmerksamkeit ohne Selbstzensur ermöglicht einen geistigen Zustand, in dem es zum Fluss der Gedanken kommt."

    So fasst Allen Brown die Ergebnisse zusammen. Der objektive Blick des Hirnforschers passt auch gut zum subjektiven Erleben von Daniel Rizik-Bear

    "Irgendwann fühlt es sich so an, als rappe ich schneller als meine Gedanken. Ich reime Sachen, die mich selbst überraschen."

    Bleibt die Frage, braucht es wirklich eine fMRI-Studie, um zu erkennen, dass Kreativität etwas mit Motivation und einem freieren Schweifen der Gedanken zu tun hat? John-Dylan Haynes:

    "Das ist eine ganz wichtige Frage: Was fügt die Hirnforschung eigentlich der Psychologie hinzu? Und die erste Antwort darauf ist: die Hirnforschung sagt uns, wo und wie das Gehirn bestimmte geistige Funktionen realisiert. Für die meisten praktischen Anwendungen ist die Psychologie vollkommen ausreichend. Aber wenn wir wissen wollen, wie das Gehirn das realisiert, dann müssen wir auch im Gehirn nachschauen."

    In jedem Fall belegt die Rap-Studie: auch komplexe geistige Leistungen lassen sich mit dem Hirnscanner analysieren. Die Forscher müssen nur ihrerseits kreativ sein, clevere Wege finden, die Probleme auf die Ebene des Scanners herunterzubrechen. Genau da sieht der Neurokritiker Dr. Felix Hasler ein Problem.

    "Das absolut Schwierigste bei diesen ganzen Studien ist eben noch nicht mal das Beherrschen des Technologischen oder der Statistik sondern ein wirklich gutes Studiendesign überhaupt zu produzieren. Weil man ist da ja auch sehr eingeschränkt, was man mit so einem Probanden überhaupt machen kann im Scanner."

    Ganz egal ob es um die Liebe geht, um Verbrechen oder die Willensfreiheit, meist sehen sich die Versuchsteilnehmer nur Bilder an und reagieren per Knopfdruck. Die enge Welt des Experiments und das weite Feld der darauf gestützten Aussagen scheinen oft nicht recht zusammenzupassen. Felix Hasler arbeitet an der Berlin School of Mind and Brain, nur wenige Häuser entfernt vom Bernstein Center for Computational Neuroscience. Dort betont John-Dylan Haynes: Hirnforschung agiert nicht im luftleeren Raum, sie stützt sich auf viele Jahrzehnte psychologischer Forschung. Und die kennt Wege, auch komplexe Denkvorgänge in kleinen Schritten zu analysieren.

    "Höhere geistige Eigenschaften sind manchmal schwer zu greifen, sowohl für die Hirnforschung als auch für die Psychologie: aber generell kann man, glaube ich, sagen, dass immer dann, wenn man mit der Psychologie gut ein Phänomen beschreiben kann, dass man dann auch in der Bildgebung eine Chance hat, dieses Phänomen zu greifen."

    Auch John Dylan Hynes arbeitet an großen Fragen, versucht die Willensbildung im Gehirn zu verfolgen. Das gelingt im Scanner aber nur an kleinsten Problemen. Konkret versucht Haynes zu erahnen, ob seine Probanden gleich zwei Zahlen addieren oder voneinander abziehen wollen. Für diese bescheidende Realität der Experimente ist in Schlagzeilen kein Platz.

    Gedankenlesen. Forscher treiben Spionage in Gehirnwindungen.
    Die Welt.

    Schritt zwei. Von den Pixeln zum Bild

    "The Neuroscience Prize!"

    Vor jedem Experiment muss das fMRI-Gerät kalibriert werden. Normalerweise nimmt man dafür eine Kugel voller Flüssigkeit. Craig Bennett war das zu langweilig. Er schaute sich erst einen Kürbis an, dann ein Hühnchen und am Ende eben einen ganzen Lachs.

    "Der hat Fett und Muskeln, der sollte prima aussehen. Also haben wir den Lachs in den Scanner gelegt und einen Probedurchlauf des Experiments gemacht. Später habe ich die Daten analysiert. Wenn man dabei eine statistische Korrektur vergisst, dann kann man nachweisen, dass auch das Gehirn eines toten Lachses Aktivität zeigt."

    Ein fMRI-Scan unterteilt das Gehirn in mehrere zehntausend Voxel. Bei jedem einzelnen wird gerechnet: War die Aktivität im Experiment größer als in der Kontrollbedingung oder nicht. Dieses Konzept klingt simpel, aber leider hat jedes Messgerät ein Rauschen, produziert Fehler. Bei zehntausend Messpunkten werden zwangsläufig einige rein zufällig aktiv wirken. Solche Geistersignale lassen sich statistisch korrigieren. Aber in bis zu 40 Prozent der Artikel des Jahres 2008 wurde dieser wichtige Schritt vergessen, inzwischen wird die Korrektur fast immer angewandt. Bennett:

    "Wir wollten sehen, ob man mit Humor die richtigen statistischen Methoden verbreiten kann und es hat funktioniert. Der Ig-Nobelpreis feiert diesen Erfolg."

    Es gibt aber nach wie vor aktuelle statistische Fallstricke in der Bildgebung.

    Voodoo-Korrelationen. Sie entstehen, wenn die Bilder doppelt analysiert werden. Einmal um zu gucken, wo im Gehirn eine Reaktion erfolgt und dann noch einmal, um dort die Stärke der Aktivierung zu bestimmen. Dabei wird die Bedeutung der Signale hochgespielt.

    Powerfailure. Könnte man in diesem Fall mit Studienschwäche übersetzen. Gerade in der Hirnforschung werden weitreichende Folgerungen oft nur auf die Analyse weniger Probanden gestützt. Statistisch ein Unding. Eine aktuelle Studie hat eine der verwendeten Methoden an 200 gesunden Probanden überprüft: Bei fast allen fanden sich subtile Abweichungen zum vermeintlichen Normalgehirn. Offenbar variieren Gehirne stärker als gedacht, Aussagen über Individuen sind damit problematisch. Dem inzwischen berühmten Lachs ist das egal. Er wurde nach dem Experiment verspeist. Craig Bennett:

    "Wir haben ihn raus in den Schnee gelegt und ihn am Abend mit saurer Sahne im Ofen zubereitet."

    Die ersten Bilder aus dem Gehirn haben Begeisterung ausgelöst und zu einer Art naivem Goldrausch am Scanner geführt. Wie reagiert das Gehirn auf Kunst, wie auf Gefühle, wie auf moralische Dilemmata? Egal wie aussagekräftig ein Experiment ist, am Ende liefern die Scanner ein Bild. Und diese Bilder faszinieren nicht nur Laien, sondern auch Forscher. Wenn auch auf ihre eigene Art und Weise.

    "Der Umgang mit Bildern ist ein sehr liebevoller, muss ich sagen, weil sozusagen, das letztendliche Bild, das wir sehen in einer Studie oder einem populärwissenschaftlichen Magazin ist ja ein unglaublicher Aufwand. Es dauert ja ewig, bis dieses eine Bild entsteht, und da wird viel, viel Zeit und Energie reininvestiert, um diese Bilder zu erstellen."

    Die Soziologin Dr. Hannah Fitsch von der Technischen Universität Berlin hat sich in den Laboren der Hirnforscher genau angesehen, wie die bunten Bilder eigentlich entstehen. Wobei das Bunte schon an sich erstaunlich ist, der Scanner liefert ja nur Grauwerte. Farben entstehen erst, wenn die Forscher die Veränderung in der Hirnaktivität bei bestimmten Denkaufgaben hervorheben wollen.

    "Was dann natürlich mit den Farben rot, gelb, orange irgendwie markiert ist an der Stelle, das heißt, das sind besonders hohe Aktivitäten die da gefunden wurden, da brennt das Gehirn. Die Metaphern zeigen das auch schon, dass da sehr stark auf ästhetische Perspektive zurückgegriffen wird."

    Scanner liefern Unmengen an Daten, die sich auf vielfältige Weise analysieren lassen. In die Konstruktion der Bilder fließen viele Faktoren ein, in erster Linie natürlich die Daten, aber dann auch die verschiedenen Möglichkeiten der statistischen Analyse und am Ende sogar ästhetische Vorlieben. In wissenschaftlichen Artikeln lässt sich dieser Entstehungsprozess nachvollziehen, den Bildern selbst ist er nicht anzusehen. Hannah Fitsch:

    "Sie wirken vor allen Dingen objektiv, weil sie den Herstellungsvorgang unsichtbar machen."

    Viele Studien aus der Frühzeit der fMRI-Forschung haben eher die Möglichkeiten der neuen Technik ausgelotet als haltbare Fakten über die Arbeitsweise des Gehirns zu liefern. Kritiker erklärten daraufhin gleich den ganzen Ansatz der Bildgebung für problematisch. Inzwischen sind viele Probleme bekannt, setzten sich Standards in der Auswertung durch. In der Arbeitsgruppe von John-Dylan Haynes etwa gehen die Forscher schablonenhaft nach vorab festgelegten Regeln vor. So geraten sie erst gar nicht in Versuchung, sich die Daten zurechtzurechnen. Am Ende zählt in der Bildgebung wie in jeder anderen Naturwissenschaft vor allem eines: die Wiederholbarkeit der Ergebnisse.

    "Das heißt, dass man nachdem zehn, zwanzig Studien in einem Bereich gemacht worden sind, schaut: Was ist denn da im Schnitt eigentlich drin? Und da gibt es doch inzwischen eine ganze Reihe von Metaanalysen, die auch die Stabilität der Bildgebungsanalysen zeigen."

    Schritt drei: Vom Bild zur Geschichte.

    Die Sektion für Sexualmedizin der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ist eine der wenigen Anlaufstellen für Männer, die über ihr eigenes sexuelles Interesse an Kindern erschrecken und Hilfe suchen. Das Team um Professor Hartmut Bosinski bietet ihnen anonyme Therapien an und versucht parallel die Ursachen der Pädophilie zu verstehen. In einer fMRI-Studie haben sie 24 pädophilen Männern und 36 Kontrollpersonen Bilder von nackten Männern und Frauen, Jungen und Mädchen gezeigt.

    "Pädophile Männer haben mit den annähernd gleichen Hirnreaktionen in der gleichen Weise reagiert wie homo- oder heterosexuelle Männer, nur eben auf andere Bilder. Was wir sicher sagen können ist, dass die sexuelle Orientierung genauso im Gehirn verdrahtet ist und mutmaßlich sogar in den gleichen Regionen verdrahtet ist, wie eine normale homosexuelle oder heterosexuelle Orientierung. Das ist schon mal ein wichtiger Befund."

    In dem wissenschaftlichen Artikel von Hartmut Bosinski werden auch Bilder der Gehirnaktivität präsentiert. Gefährlich rot leuchten weite Bereiche des Gehirns auf.

    So wird jetzt das pädophile Gehirn entlarvt. Die Welt. Wirklich? Die roten Flecken stellen den Vergleich von nicht nur zwei, sondern in diesem Fall sogar vier Gruppen von Hirnscans dar. Was eigentlich zu sehen ist, können wohl nur Spezialisten einschätzen. Hartmut Bosinski:

    "Es gibt einige Hinweise, dass einige Hirnregionen anders bei Pädophilen reagieren, stärker reagieren, so dass man den Eindruck hat, dass die sexuelle Hemmung oder Kontrolle bei diesen Männern herabgesetzt ist."

    Diese Aussage ist interessant, schließt sie doch von einer Reaktion des Gehirns auf das Verhalten. Dabei lassen sich Probleme mit der Handlungskontrolle viel verlässlicher mit psychologischen Tests abprüfen als mit dem Hirnscanner. Außerdem sind auf den Hirnscans breit verteilte Veränderungen zu erkennen. Sie bieten die Möglichkeit zu vielfältigen Interpretationen, zu vielfältigen Geschichten. Die von der fehlenden Hemmung ist sicher nur eine davon.

    "In der fMRT wird der Wo-Frage nachgegangen. Die Wo-Frage schon in der Studie an den Anfang zu setzen, zu sagen, ich möchte jetzt rausfinden, wo im Gehirn wird zum Beispiel ein visueller Reiz verarbeitet, impliziert auch schon, dass hinten als Antwort sozusagen nur rauskommen kann: Wo wurde der Reiz verarbeitet."

    Und damit so Hannah Fitsch ähnelt die moderne Bildgebung der Phrenologie des 19. Jahrhunderts, die ebenfalls versuchte, geistige Leistungen zu verorten. Nur eben in Schädelwölbungen statt in Regionen im Inneren des Gehirns. John-Dylan Haynes

    "Die Frage ist, wenn man dabei stehen bleiben würde, einfach nur eine Karte des Gehirn zu zeigen und zu sagen, da ist die Liebe, da ist die Aufmerksamkeit, da ist die Vaterlandsliebe und so weiter, dann hätte man tatsächlich nicht viel mehr geleistet, als die Phrenologie. Man muss allerdings sagen, dass auch diese Information des Ortes, wo etwas im Gehirn verarbeitet wird, bereits sehr nützlich sein kann."

    Schließlich ist die Bildgebung kein isoliertes Feld, betont John-Dylan Haynes. Es gibt vielfältige Daten aus Tierversuchen und psychologischen Experimenten, die helfen eine Wo-Information in eine Wie-Information zu übersetzen. Das gesteht auch Felix Hasler zu. Aber die Aussagekraft der Daten ist seiner Meinung nach begrenzt. Es gibt im Gehirn einfach keine klar definierten Zuständigkeiten für Mathematik, oder Liebe, oder Moral. Hasler:

    "Da kann man bei ganz komplexen Dingen wie einer philosophischen Betrachtung oder eben diesen klassischen moralischen Entscheidungen im Scanner fast nur noch sagen: wir brauchen einfach das ganze Gehirn dazu. Und das ist natürlich erkenntnistheoretisch eine absolute Trivialität."

    Denkvorgänge lassen sich selten an einem Ort dingfest machen. Genau das legen die Bilder aus den Scannern aber nahe. Sie vermitteln der Öffentlichkeit ein statisches Bild vom Gehirn, das die Neurowissenschaften selbst längst aufgegeben haben. Besonders auffällig ist das für Hannah Fitsch bei Studien zu den Unterschieden zwischen den Geschlechtern.

    Bei drohender Gefahr: Männer reagieren schneller als Frauen. - Frauen: Mehr Hirn beim Sex. - Männer hören nur halb zu.

    Die Effekte sind meist klein, sagen nichts über einzelne Frauen und Männer aus. Aber es entsteht schnell der Eindruck: Wenn da etwas objektiv im Gehirn ist, dann muss es auch biologisch angeboren sein. Das stimmt so aber nicht. Das Gehirn ist der Ort, an dem sich Anlagen und Erfahrungen zu einer Persönlichkeit verbinden, Gene und gesellschaftliche Einflüsse und der eigene Lebensweg verschmelzen. - Die Bildgebung aber bleibt blind für diese individuelle Geschichte der Hirnaktivität. Fitsch:

    "Das heißt, diese ganzen Wechselwirkungen können mit der fMRT-Forschung nicht eingefangen werden, sie geben nur einen sehr kleinen, zeitlich sehr begrenzten Einblick auf ein bestimmtes sehr statisches Verhältnis im Gehirn."

    Schritt vier: von der Geschichte zur Anwendung

    Scanner Studien sind komplex, die bunten Flecken auf den Bildern aber wirken eindeutig. Wenn man den Finger so klar auf eine wunde Stelle legen kann, dann scheint der Schritt zur Anwendung nicht weit. Möchten Sie wissen, was ihre Kunden wirklich bereit wären zu bezahlen? Neuromarketing-Labs.

    Findige Unternehmer versprechen der Wirtschaft ihre Produkte auf die unbewussten Wünsche ihrer Kunden maßzuschneiden, mit den Daten aus den Hirnscannern.

    Die Technologie von No Lie MRI repräsentiert die erste und einzige direkte Messung für die Bestätigung der Wahrheit und Erkennung von Lügen in der menschlichen Geschichte!
    No Lies MRI

    In den USA bieten mehrere Firmen angeblich objektive Lügendetektoren an, die eine Unwahrheit am Ort ihrer Entstehung, im Gehirn erkennen sollen.

    Hirnscan zeigt an, wie gut ein Kind in Mathe wird
    Die Welt.

    Verschiedene Hirnforscher bieten konkrete Ratschläge für einen besseren Unterricht oder gar eine komplette Neugestaltung der Schule.

    Hirnforscher bestätigt Wirksamkeit der Psychoanalyse
    Gehirn und Geist.

    Auch der Psychoanalyse reicht es nicht mehr, wenn klinische Studien nachweisen, dass es den Patienten besser geht. Viel bedeutender ist offenbar nachzuweisen, dass die Amygdala nach einer Therapie nicht mehr so stark auf emotionale Reize reagiert.

    "Ich halte es für sehr problematisch, wenn man meint, sich als Hirnforscher sich zu allem und jedem äußern zu müssen und wir können als Hirnforscher zu vielen dieser Themen relativ wenig sagen."

    So viel Zurückhaltung wie John-Dylan Haynes erlegen sich nicht alle Hirnforscher auf. Viele wollen den Geist nicht nur erklären, sondern ihr Wissen auch anwenden. Dabei werden Studien an wenigen Studenten unter genau definierten Laborbedingungen schnell auf die viel komplexere Situation in der Gesellschaft übertragen. Das führt einerseits zu überzogenen Versprechungen, gleitet andererseits leicht ins Banale ab. Beispiel Schule. Felix Hasler:

    "Am Schluss heißt es, man muss möglichst früh, aufgrund der Plastizität des Gehirns möglichst früh anfangen, man muss möglichst viel wiederholen, man muss ein stimulierendes angenehmes Umfeld schaffen. Das sind alles didaktische Trivialitäten, die wahrscheinlich schon Herr Pestalozzi nicht anders formuliert hätte."

    Auch das Neuromarketing wird sich nach Ansicht von Felix Hasler vermutlich von selbst erledigen.

    "Wenn man für etwas viel Geld ausgibt und dann nach Jahren auch merkt, wir verkaufen auch nicht mehr von unserem Produkt trotz dieser vermeintlichen Erkenntnisse, dann wird wahrscheinlich dieser Geschäftszweig schlicht pleitegehen."

    Realistischer ist die Anwendung der fMRI Geräte im medizinischen Umfeld. In den USA hat der Direktor des Nationalen Instituts für Geistige Gesundheit angekündigt, unter anderem die Bildgebung massiv zu unterstützen, um die Psychiatrie wegzusteuern von der Beschreibung von Symptomen hin zu objektiven Tests. In diese Richtung zielt auch die Arbeit von Hartmut Bosinski, er möchte die Hirnreaktion zur Diagnose der Pädophilie einsetzen.

    "Für uns ist es besonders wichtig, vor Beginn einer Therapie festzustellen, ist dieser Mann ein pädophil veranlagter Mann, oder vergeht er sich aus anderen Gründen an Kindern. Denn diese Männer brauchen eine andere Therapie als Ersatz- oder Gelegenheitstäter."

    Die Studie aus Kiel legt nahe, dass ein Hirnscan bei dieser Unterscheidung helfen könnte. Allerdings, hier hat es sich um Männer gehandelt, die zugeben, von Kindern sexuell erregt zu werden. Im Grunde braucht man für deren Diagnose keinen Hirnscan, man kann sie schlicht fragen. Dennoch: Hartmut Bosinski glaubt, dass sich ein fMRT-Scan nicht täuschen lässt.

    "Das ist nicht sexuelle Erregung, die wir messen, sondern das ist gewissermaßen nur ein Erkenn-Effekt des Gehirns, ein unmittelbarer Effekt des Gehirns: passt zu mir, passt nicht zu mir. Und wir vermuten, dass das schwer zu fälschen ist. Das untersuchen wir gerade."

    Vor einem deutschen Gericht wäre ein wissenschaftliches Ausspähen verborgener Gedanken und Gelüste verboten. Doch wenn der Hirnscan letztlich nur eingesetzt werden kann, wenn der betreffende Mann zustimmt, was ist dann eigentlich gewonnen, fragt sich Felix Hasler.

    "In dieser Pädophiliestudie ist ja eigentlich weniger das Problem, dass der Mann pädophil ist, sondern, dass seine Pädophilie zu Straftaten führt, also, sei es Konsum von Kinderpornographie bis zum Extremfall zu einem Missbrauch eines Kindes. Aber genau dieser Schritt, aufgrund einer bestimmten Konfiguration des Gehirns zu sagen, das wird in einem Verbrechen enden, das ist völlig unmöglich."

    An diesem Punkt sind sich die Kritiker und die Verfechter der Bildgebung immerhin einig. Die erste fMRI-Studie wurde 1992 veröffentlicht. Seitdem haben die Scanner einen Siegeszug angetreten, wo immer möglich versuchen Forscher ihre Ergebnisse mit bunten Bildern aus dem Gehirn zu untermauern. Dabei ist zwischenzeitlich ein wenig aus dem Blick geraten, dass Scanner kein Selbstzweck sind, sondern schlicht eines von vielen Werkzeugen der Wissenschaft. Ein Werkzeug mit vielen Stärken, aber auch einigen Problemen. Die werden sich nur auf einem Weg beheben lassen, meint John-Dylan Haynes und zwar über mehr Daten, viel mehr Daten.

    "Wir müssen wissen: wie sieht die Hirnaktivität in der gesunden Bevölkerung aus, wie entwickelt die sich? Und wie entwickelt sie sich bei den Probanden, die dann später die Krankheit herausbilden. Und die Datenmengen, die wir heute haben, sind viel zu klein."

    Das Gehirn ist mit Sicherheit das individuellste Organ des Menschen, und die Neurowissenschaften haben gerade erst begonnen, die ganze Bandbreite der normalen Hirnaktivität abzubilden. Das könnte sich bald ändern.

    Milliarden für den Kopf. Obama fördert die Hirnforschung
    Süddeutsche Zeitung.

    Im April 2013 hat der amerikanische Präsident 100 Millionen Dollar für die Hirnforschung und innovative Neurotechnologien versprochen. Auch die Bildgebung wird davon profitieren und sicher neue faszinierende Einblicke in die Arbeitsweise des Gehirns und damit des Geistes liefern.

    "Weil jeder Gedanke, den man bisher im Kernspintomographen untersucht hat, ein Korrelat in den Aktivitäten gefunden hat, wissen wir, dass die Hirnaktivität und die Gedanken extrem eng zusammenhängen."

    Scanner sind ein Werkzeug der Erkenntnis, der Weg zu praktischen Anwendungen ist dagegen nach wie vor sehr weit. Felix Hasler:

    "Und das ist ja eigentlich das Erstaunliche, die enorme Diskrepanz zwischen diesem Ansehen und auch diesem Wow Effekt, den diese Hirnscans in der Öffentlichkeit haben, und dem, was dann praktisch für unser Leben herausschaut."