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Manuskript: Contergan

Contergan steht für einen der größten Arzneimittelskandale der Geschichte. Bis 1962 kamen in Deutschland etwa 5000 Kinder mit schwersten Behinderungen zur Welt, weil ihre Mütter das Schlafmittel während der Schwangerschaft eingenommen hatten. Heute leben noch rund 2400 Contergan-Geschädigte in Deutschland. Sie haben früh akrobatische Bewegungsmuster eingeübt, um selbständig leben zu können. Doch jetzt machen sich die Folgen bemerkbar - Arthrosen, Bandscheibenvorfälle, Muskelschwäche. Viele Betroffene können deshalb nur noch halbtags arbeiten, etliche haben ihren Beruf sogar ganz aufgeben und hohe Rentenabschläge hinnehmen müssen. Gleichzeitig müssen sie medizinische Behandlungen und Hilfsmittel oft aus eigener Tasche zahlen. Vielen Contergan-Geschädigten droht die Altersarmut. Der Skandal erreicht die nächste Stufe.

Von Marieke Degen | 09.12.2012
    Neil Vargesson: "Thalidomid ist das berüchtigtste Medikament der Welt. Bei dem Wort Thalidomid zuckt erst einmal jeder zusammen. Jeder hat davon gehört. Egal, ob du alt oder jung bist – jeder kennt die Geschichte."

    Jürgen Graf: "Es ist schon erstaunlich, was der Mensch noch leisten kann, oft. Und ich glaube, dass die Probleme jetzt noch kommen, wenn die älter werden. Als 30jähriger kann man viel mit seinem Fuß machen, wenn man Ohnarmer ist: Patienten rauchen, Patienten trinken eine Tasse Kaffee – aber das geht natürlich, wenn man 50 ist und einen Bauch hat, nicht mehr."

    Wenn man als Ohnarmer einkaufen geht, gibt es ein ungeschriebenes Gesetz. Das, was man haben will, steht oben. Ilonka Stebritz späht das Kühlregal hinauf.

    "Entweder ich hole mir jemanden, frage also jemanden, können Sie mir bitte mal einen Joghurt da rausholen, oder ich mache mal einen Selbstversuch, das heißt, ich trete hier unten auf den von dem Kühlregal, auf die Umrandung, springe so ein bisschen hoch. Wir gucken einfach mal, ich versuche das jetzt mal. Achtung!"

    Vorsichtig setzt sie einen Fuß auf den unteren Absatz der Kühltheke. Dann springt sie am Regal hoch und schnappt sich den Becher.

    "Um den jetzt hier reinzustellen, muss ich natürlich noch einmal ein bisschen tiefer in den Einkaufswagen reinkriechen, weil ja die Arme zu kurz sind."

    Ilonka Stebritz ist ohne Arme auf die Welt gekommen. Ihre Mutter hatte in der Schwangerschaft das Schlafmittel Contergan genommen, Thalidomid. Die winzigen Hände sitzen direkt an den Schultern. Pro Hand vier Finger, und davon funktionieren auch nur jeweils zwei – der kleine und der Ringfinger. Einkaufen ist für Ilonka Stebritz Schwerstarbeit. Der Einkaufswagen ist viel zu niedrig, sie muss sich mit ihrem Oberkörper praktisch über den Griff lehnen, um ihn durch die Regale zu navigieren.

    "Also wenn ich jetzt Nackenschmerzen hätte, dann wäre das für mich absolut der Horrortrip."

    Contergan kam 1957 in Deutschland auf den Markt. Die Herstellerfirma Grünenthal bewarb es als sicher und gut verträglich, auch für Schwangere. Jeder konnte das Schlafmittel rezeptfrei für ein paar Mark in der Apotheke kaufen. Erst vier Jahre später, nachdem ein Arzt einen Zusammenhang zwischen Contergan und der Fehlbildungswelle bei Neugeborenen erkannt hatte, nahm Grünenthal das Mittel aus dem Handel. Bis Mitte 1962 sind in Deutschland um die 5000 Kinder mit schweren Behinderungen geboren worden, mit zu kurzen Armen, zu kurzen Beinen, mit Organschäden, ohne Augen oder Ohren, taub. Nur zwei Drittel haben das erste Jahr überlebt. Contergan steht für einen der größten Arzneimittelskandale in der Geschichte. Ilonka Stebritz:

    "Mal gucken – sehen Sie irgendwelche Tüten? Ich nicht."

    Ilonka Stebritz umkreist die Obsttheke.

    "So. Und jetzt wieder auf die andere Seite, um an die Orangen dranzukommen. So. Man muss für das Einkaufen auch deutlich mehr Zeit einplanen, einmal eben so ins Geschäft ist nicht, weil – braucht halt ein bisschen länger."

    Sie bückt sich, greift die Orange mit beiden Händen, klemmt sie unters Kinn.

    "Und dann wandert eben Orange für Orange in den Beutel, mit vollem Körpereinsatz aber, ne? Nicht mit Arm ausstrecken und greifen, sondern mit nach vorne beugen – uiui – so. Die nehme ich jetzt in den Einkaufswagen und mein Portemonnaie ist aufgegangen."

    Heute leben etwa 2400 Contergan-Geschädigte in Deutschland. Viele haben ihr Leben gut gemeistert. Haben studiert, gearbeitet. Haben ihre Kinder mit den Füßen gewickelt, Zigaretten mit den Zehen gedreht, Flaschen mit den Zähnen geöffnet. Sie haben gelernt, unabhängig zu sein. Jetzt, mit Anfang 50, macht der Körper nicht mehr mit.

    "Die contergan-geschädigten Menschen beschreiben es so, dass sie sagen, sie fühlen sich heute, wenn sie sich vergleichen mit der Gesamtbevölkerung, wie 70 bis 80jährige."

    Christina Ding-Greiner ist Gerontologin an der Universität Heidelberg. Sie hat die Lebenssituation der Contergan-Geschädigten in Deutschland erfasst, im Auftrag der Bundesregierung. Ziel der Studie: den zukünftigen Bedarf der Betroffenen ermitteln, Versorgungslücken aufzeigen. Die Studie soll Ende Dezember abgeschlossen sein, doch schon jetzt ist klar: Die Situation ist verheerend.


    "Sie haben, so wie sie es beschreiben, seit etwa zehn bis 15 Jahren zunehmend Probleme im Bereich des Bewegungsapparats, sie haben zunehmend Abnutzungserscheinungen im Bereich der Gelenke, sie haben auch eine zunehmende Schwächung der Muskulatur, auch eine Osteoporose macht sich bei einigen bemerkbar, so dass das also schon dazu beiträgt, dass sie sich eben älter fühlen durch diese Beschwerden."

    Als Kinder haben sie fast schon akrobatische Bewegungsmuster erlernt, um selbstständig leben zu können. Doch jetzt machen sich die Folgen bemerkbar - Arthrosen, Bandscheibenvorfälle, Muskelschwäche. Ding-Greiner

    "Wenn ich einen verkürzten Arm habe, oder verkürzte Beine, wie laufe ich dann, wie bewege ich mich. Oder ich kann meine Finger nicht gebrauchen. Also gebrauche ich meine Füße und nähe und schneide und schreibe auf dem Laptop mit meinen Füßen. Das sind Belastungen, die eigentlich nicht vorgesehen sind von der Natur in diesem Ausmaß für diese Gelenke, und dadurch kommt es zu Abnutzungserscheinungen."

    Ilonka Stebritz: "Ich habe im Halswirbelbereich Bandscheibenvorfälle und die sind sehr schmerzhaft. Und durch diese Schmerzen bin ich zunehmend beeinträchtigt gewesen bei der Arbeit."

    Ilonka Stebritz hat immer gearbeitet, als Verwaltungsfachangestellte. Getippt mit drei Fingern, tief über die Tastatur gebeugt.

    "Wenn es dann Freitag nachmittag war, dann hieß das oft für mich, erst einmal sich ins Bett zu legen am Wochenende, wo andere ausgehen und Spaß haben, hab ich mich dann ins Bett gelegt, um meine Halsmuskeln zu entspannen, damit ich am kommenden Montag wieder arbeitsfähig war."

    Vor sieben Jahren war Schluss. Mit 45 musste Ilonka Stebritz in Frührente gehen. Sie ist kein Einzelfall, wie die ersten Ergebnisse der Heidelberger Studie zeigen. Das Team um Christina Ding-Greiner hat Fragebögen von 900 Contergan-Geschädigten ausgewertet, 300 sogar zu Hause besucht. So vielseitig die Schäden durch Contergan sind: Fast alle Befragten gaben an, Schmerzen zu haben. Zwei Drittel arbeiten wegen ihrer gesundheitlichen Probleme nur halbtags. Immer mehr müssen sogar ganz aufhören und hohe Rentenabschläge hinnehmen. Viele haben Angst vor der Zukunft. Vor dem Alter. Der Contergan-Skandal erreicht eine neue Stufe.

    "Sie sehen, dass die Schmerzen zunehmen werden, dass die Einschränkungen zunehmen werden, dass die Selbständigkeit abnimmt, contergan-geschädigte Menschen, die kurze Arme haben, die noch in der Lage waren oder gelernt haben, die Haare zu waschen, können das nicht mehr, es wird schwierig, die Schuhe zu binden beispielsweise oder auch sich anzuziehen, sie sind vermehrt auf Hilfe angewiesen, und das ist natürlich etwas, was für jeden Menschen sehr, sehr schwer ist."

    Wie Thalidomid genau wirkt – was es im Körper anrichten kann – ist bis heute noch nicht vollständig aufgeklärt. Forscher wissen, dass der Wirkstoff das Immunsystem aktiviert. Und er verhindert, dass sich neue Blutgefäße bilden und kann deshalb Krebszellen aushungern. Ohne Blutgefäße keine Nährstoffe für Tumoren. Doch:

    "Das Rätsel Thalidomid ist noch lange nicht gelöst."

    Neil Vargesson, Entwicklungsbiologe. Universität von Aberdeen, Schottland. Thalidomid macht schläfrig. Wahrscheinlich wirkt es auf das Gehirn. Aber keiner weiß, wie. Erwachsene, die Thalidomid über einen längeren Zeitraum einnehmen, entwickeln Nervenschäden. Warum, ist bis heute unklar. Und wie Thalidomid die Kinder im Mutterleib schädigt, ist ebenfalls noch nicht restlos aufgeklärt. Vargesson:

    "Es gibt mehr als 30 Hypothesen darüber, wie Thalidomid Fruchtschäden verursacht. Sie reichen von: 'Thalidomid beeinträchtigt Blutgefäße' über 'Thalidomid führt zum Zelltod', oder dass es direkt Nerven und Knochen schädigt bis hin zu: 'Thalidomid verändert das Erbgut.' Die ganze Bandbreite. Ich persönlich glaube, dass es hier die Blutgefäße sind. Was dann dazu führt, dass alle möglichen Gewebe in Mitleidenschaft gezogen werden."

    Thalidomid ist hochkomplexes Molekül. Es wird im Körper in 18 Abbauprodukte zerlegt, die die unterschiedlichsten Wirkungen entfalten können. Forscher können diese Abbauprodukte erst seit ein paar Jahren im Labor nachbauen. Neil Vargesson und seine Kollegen haben jedes einzelne davon in Hühnereier injiziert.

    "Wenn wir die Embryonen mit dem Abbauprodukt behandelt haben, das die Gefäßneubildung hemmt – dann waren die Flügel und Beine fehlgebildet, es gab Probleme mit den Augen und mit inneren Organen. Defekte, die wir erwartet hatten."

    Ohne Blutgefäße können Sauerstoff und Nährstoffe nicht zu den Zellen transportiert werden. Gewebe entwickeln sich nicht richtig – Knochen, Nerven, Muskeln, ganze Organe. Neil Vargesson hat auch entdeckt: Das Thalidomid-Abbauprodukt zerstört nur ganz junge Blutgefäße, die noch nicht von Muskeln umgeben sind. Ältere Gefäße bleiben verschont.

    "Wenn die Gliedmaßen sich entwickeln, haben die Blutgefäße für etwa zwei Tage keine Muskulatur. Und genau in diesen zwei Tagen kann Thalidomid die Arme und Beine schädigen. Wenn man Thalidomid vorher gibt, stirbt der Embryo. Wenn man es danach gibt, sieht man keinerlei körperliche Schäden."

    Die sensible Phase gibt es auch beim Menschen. Sie reicht grob gesagt vom Ende des ersten bis zum Anfang des zweiten Schwangerschaftsmonats. Vorher führt Thalidomid zum Tod des Embryos. Nachher treten wahrscheinlich keine Schäden am Fötus mehr auf – auch wenn man das nicht mit absoluter Gewissheit sagen kann. Einige Forscher vermuten, dass ältere Föten Nervenschäden im Gehirn davongetragen haben könnten – in Hirnarealen, die mit Autismus und Epilepsie in Verbindung gebracht werden. Neil Vargesson ist noch lange nicht am Ende. Er will den Wirkmechanismus von Thalidomid bis ins kleinste Detail aufklären. Wo setzen die Abbauprodukte im Körper an, wie wirken sie zusammen. Möglicherweise ist alles noch viel komplizierter, als es aussieht. Und vielleicht hat Contergan noch viel mehr angerichtet bei den betroffenen Kindern. Anomalien, die nicht so offensichtlich sind. Die erst jetzt auffallen, 50 Jahre später.

    Klemens Seith und seine Frau sind auf einem Tanzturnier für Rollstuhlfahrer. Die beiden trainieren den ganzen Tag in der Sporthalle, besuchen abends noch einen Ball, tanzen bis tief in die Nacht. Es ist ein schöner Tag. Plötzlich wird Klemens Seith schlecht.

    "Und dann kam eben diese Problematik, dass die Ärzte im Krankenhaus relativ schnell gesagt haben, es deutet alles darauf hin, dass es ein Herzinfarkt ist oder war, und dass man eben jetzt diese Katheteruntersuchung machen muss, damit man feststellen kann, wie viele von den Herzkranzgefäßen und Adern betroffen sind, also was eigentlich genau los ist, und da fing es eben dann an."

    Klemens Seiths Beine sind nur etwa oberschenkellang.

    "Also normal wird Katheteruntersuchung über die Leiste, über die Beugung an der Leiste bei den Oberschenkeln gemacht, und das ging bei mir komplett gar nicht. Also ein Oberarzt, zwei Ärzte haben das versucht hinzubekommen, haben sie nicht hinbekommen. Und einer hat sich dann zugetraut und gesagt, er versucht diese Katheteruntersuchung über den Arm hinzubekommen."

    Als Klemens Seith ein Kind war, haben sie seine Hände operiert. Den rechten Daumen an die richtige Stelle versetzt, an der linken Hand den Zeigefinger zu einer Art Ersatzdaumen umfunktioniert. Sonst sehen seine Arme normal aus. Aber seine Frau hat noch nie einen Puls bei ihm gefühlt. Sie ist Ärztin. Seith:

    "Und diese Untersuchung normal über den Arm, diese Herzkatheteruntersuchung, geht normalerweise, sage ich mal, komplett eine Stunde. Und er hat aber diese eine Stunde nur gebraucht, bis er überhaupt mit diesen Geräten in die Venen bei mir in den Arm gekommen ist. Weil irgendwas zu eng oder zu klein oder was auch immer war."

    Es ist ein Herzinfarkt. Klemens Seith braucht vier Bypässe. Die Venen dafür wollen die Ärzte aus seinem Brustkorb entnehmen, statt wie sonst aus den Beinen. Seith:

    "Ich weiß, dass ich um 12 Uhr abgeholt worden bin in den OP-Saal, habe dann da noch eine runde Stunde mitbekommen, wie sie auch wieder Probleme hatten, diverse Anschlüsse oder Leitungen oder Venen bei mir zu legen, bis sie dann gesagt haben, OK, jetzt ist gut."

    Die Operation dauert acht Stunden. Danach Intensivstation, Reha. Klemens Seiths größte Sorge sind die Wunden am Brustkorb. Er ist auf seinen Oberkörper angewiesen, will sich einfach nur so bald wie möglich wieder bewegen können. An die Sache mit den Gefäßen hat er erst einmal nicht mehr gedacht.

    "Und mir ist dann erst im Nachhinein, als ich den OP-Bericht gelesen hab, das war zwei Monate später, wo man das dann zugeschickt bekommen hat, da stand eben nur drauf, mit viel Mühe, unter größten Schwierigkeiten und mit diesen Sätzen wurde die OP, der OP-Hergang mit beschrieben, und das hat mich dann eben mit dieser, zusammen mit dieser Katheteruntersuchung stutzig gemacht."

    Christina Ding-Greiner von der Universität Heidelberg hat das in ihren Interviews öfter gehört. Dass man bei den Betroffenen keinen Puls fühle, schlecht Blutdruck messen oder Blut abnehmen könne. Die Gerontologin vermutet, dass Contergan das Gefäßsystem im gesamten Körper geschädigt hat. Dass Blutgefäße anders verlaufen. Plötzlich enden. Insgesamt dünner sind, fragiler.

    "Und das sind jetzt die Probleme, die auftauchen, in dem Sinne, als häufig Herzinfarkte auftreten, sehr früh, Schlaganfälle schon mit 40, 45, was sehr sehr ungewöhnlich ist und wir nehmen an, dass möglicherweise diese Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems zurückzuführen sind auf eine Fehlbildung und einer Nicht-Anlage von Gefäßen."

    Bislang ist das nur eine Hypothese, betont Christina Ding-Greiner, basierend auf den Berichten der Betroffenen.

    "Menschen mit einer Contergan-Schädigung sind sicher fragiler als andere Menschen. Weil sie eben nicht nur eine Fehlbelastung haben im Bereich des Bewegungsapparates, sondern sie haben häufig eben auch innere Schäden, die dazu beitragen, dass die Empfindlichkeit, die Fragilität größer ist. Das Problem jetzt der Fehlbildungen von Nerven und Gefäßen ist jetzt etwas, was hinzukommt und was sicher, möglicherweise die Mortalität auch erhöhen kann. Aber wir haben dazu keine Statistiken, wir können dazu überhaupt noch nichts sagen."


    "Das glaube ich nicht. Das wüsste ich. Das wird ja immer wieder behauptet von dieser Studie da – das glaub ich nicht."

    Jürgen Graf sitzt am Schreibtisch in seiner Praxis in Nürnberg.

    "Die sind ja gerade geschädigt genug, die armen Patienten, und dann sind die verunsichert und horchen in sich rein, natürlich erzählen sie mir das. Ich kann die dann beruhigen, immer wieder. Die sagen: 'Bei mir steht eine Blinddarm-OP an.' Und dann sage ich: 'Lassen Sie sich doch nicht verrückt machen.' Ich habe noch nie gehört, dass da irgendwo etwas ungewöhnlich war. Noch nie. Und eine Blinddarm-Operation ist eine häufige OP."

    Der Facharzt für Orthopädie betreut seit 1984 Contergan-Patienten. Pro Tag sind es ein bis zwei, sie kommen aus dem ganzen Bundesgebiet angereist. Jürgen Graf hat die meisten deutschen Betroffenen schon einmal gesehen. Er geht davon aus, dass es sich bei den Herzinfarkten und Schlaganfällen um Einzelfälle handelt.

    "Mir ist zumindest nicht aufgefallen, dass die Contergan-Patienten öfters einen Herzinfarkt haben oder öfters mal einen Schlaganfall haben – das ist in dem Alter ja doch noch ein sehr seltenes Ereignis, und das wäre mir aufgefallen."

    Jürgen Graf gehört zu einer Handvoll Experten in Deutschland, die Contergan-Schäden begutachten. Für Krankenkassen, Versicherungen, und für die Contergan-Stiftung, die den Betroffenen je nach Schweregrad der Behinderung eine Rente zahlt.

    "Es gibt ja viele Contergan-Patienten, die haben einen Minderwuchs, das ist ja klar, da ist alles kleiner. Oder natürlich laufen die Gefäße, wenn jemand zwei Gebärmuttern hat, laufen die anders. Das gehört dann eben dazu."

    Christina Ding-Greiner hält an ihrer Hypothese trotzdem fest. Sie fordert, die Gefäße, Muskeln und Nerven der Betroffenen wissenschaftlich genau zu untersuchen.

    "Ganz wichtig ist, dass die Ärzte sich darüber im Klaren sind, dass, ich möchte mal grob sagen, dass bei Contergan alles möglich ist."

    Auch heute kommen noch Kinder ohne Arme und Beine auf die Welt. Wirklich verschwunden ist Thalidomid aus der Medizin nämlich nie. Noch in den 60er-Jahren kam das Comeback – in Südamerika und Afrika wird Thalidomid seitdem gegen Lepra eingesetzt. Dabei kommt es immer wieder vor, dass Schwangere Thalidomid einnehmen. In Deutschland ist Thalidomid seit 2008 wieder offiziell zugelassen – zur Behandlung des multiplen Myeloms, Knochenmarkkrebs. Der Hämatologe und Onkologe Hartmut Goldschmidt hat Thalidomid schon seit 1998 im Rahmen von Studien erforscht. Er leitet die Sektion Multiples Myelom an der Uniklinik Heidelberg und am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen.

    "Glücklicherweise sind bei vielen hunderten Behandlungen bei uns hier in Deutschland und am Zentrum noch keine Schwangerschaften aufgetreten mit negativen Folgen."

    Die Sicherheitsvorkehrungen sind enorm. Die Kapseln gibt es nur auf Sonderrezept, die das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ausgewählten Ärzten zur Verfügung stellt. Die Ärzte klären die Patienten umfassend auf. Die Patienten müssen doppelt verhüten – auch Männer, denn Thalidomid kann in die Samenflüssigkeit übergehen. Frauen machen einmal pro Monat einen Schwangerschaftstest. Goldschmidt:

    "Oder man muss sich als Arzt sehr, sehr sicher sein, dass bei älteren Patienten keine Schwangerschaft mehr möglich ist, dazu haben wir Laborwerte, dazu wird die Frau natürlich ausführlich befragt, wie die Regelblutungen sind, wie lange die ausgeblieben sind, ob vielleicht auch ein Operation gewesen ist, die eine Schwangerschaft unmöglich gestaltet, dann ist man natürlich ein bisschen entspannter."

    Thalidomid attackiert die Tumore im Knochenmark von mehreren Seiten. Es verhindert, dass neue Blutgefäße entstehen und kappt so die Nährstoffzufuhr der Tumore; es vergiftet die Myelomzellen und es aktiviert das Immunsystem. Gleichzeitig stört es die Bildung der Blutzellen nicht so sehr wie andere Medikamente. Heute werden vor allem Patienten mit Thalidomid behandelt, die einen Rückfall erlitten haben – oder für die eine Knochenmarktransplantation nicht in Frage kommt.

    "Im Jahr 2000 war es für uns schon ein Wundermittel, weil Patienten, die im Sprachgebrauch ausbehandelt waren, zu dreißig Prozent auf Contergan angesprochen haben, auf das Thalidomid. Und das ist richtig viel in der Krebstherapie, wenn ausbehandelte Patienten, die sonst auf keine Medikamente mehr reagieren, zu 30 Prozent ansprechen."

    Thalidomid kann das Leben der Patienten verlängern, haben Studien gezeigt. Doch Thalidomid hat einen großen Nachteil. Es schädigt immer noch die Nerven. Goldschmidt:

    "Patienten, die mit Thalidomid behandelt werden, entwickeln zu über 50 Prozent diese Nervenschädigungen, die teilweise mit Taubheit, Kribbeln, Missempfindungen einhergehen, und das stört natürlich einen Patienten sehr. Thalidomid ist etabliert, dazu habe ich eine klare Meinung, durch die neuen Medikamente ist aber der Einsatz von Thalidomid eher rückläufig, und nicht alle Patienten werden mit Thalidomid behandelt."

    In letzter Zeit sind neue wirksame Medikamente gegen Knochenmarkkrebs auf den Markt gekommen, mit anderen Nebenwirkungen. Eines davon ist Lenaldomid. Es ist eng mit Thalidomid verwandt, greift aber nicht die Nerven an. Doch auch Lenaldomid steht im Verdacht, Kinder im Mutterleib zu schädigen. Deshalb sind die Sicherheitsvorkehrungen dieselben. Die Katastrophe soll sich niemals wiederholen.

    In der Praxis von Jürgen Graf:

    "Gut hier sieht man jetzt das Schulterbild. Das ist die rechte Schulter, da ist es ähnlich, ja der Kopf ist einfach entrundet, dysplastisch und das ist eben ein klassischer Contergan-Schaden, wenn man das sieht mit den Ärmchen, die nur zwei Drittel an Armlänge haben."

    Der Orthopäde Jürgen Graf, der Mann an der Basis, hält eine Kernspinaufnahme gegen den Leuchtkasten.

    "Sie haben halt Muskel abgebaut, weil Sie nicht gescheit bewegen können, Ihnen fehlt Kraft und Ihnen fehlt Beweglichkeit,das sind ja zwei verschiedene Sachen, und je mehr Sie das schonen, desto mehr wird die Schulter auch einsteifen, wenn man nichts dagegen tut."

    Patient: "Ich geh aber trotz Schmerzen eigentlich immer dagegen an, ja."

    Graf: "Also, wenn jemand an Muskelkraft verliert, auch weil er jetzt älter wird, und durch Überbelastung und Fehlbelastung, dann muss man gegensteuern mit Krankengymnastik oder Krankengymnastik am Gerät oder der muss ins Schwimmbad gesteckt werden, um seine Gelenke freibeweglich zu halten, und man verschreibt das nicht, dann versteifen die Gelenke ein, ganz einfach. Und das verschlimmert die Situation extrem."

    Er müsste seinen Patienten Massagen verordnen, Krankengymnastik. Denn Beweglichkeit bedeutet Selbständigkeit. Viele Krankenkassen stellen sich trotzdem quer. Graf:

    "Nee, aufschreiben kann man ja gar nichts mehr. Die Kassen zahlen das ja nicht mehr, obwohl die Patienten immer angelogen werden von den Kassen indem sie sagen, der Arzt kann das verschreiben, was er für medizinisch notwendig hält, das ist aber glatt gelogen, sonst hätte ich keine Regresse über eine hohe fünfstellige Summe. Weil ich angeblich zu viel verschrieben habe."

    Im Moment verordnet er nicht einmal mehr Krankengymnastik.

    "Letztendlich ist es so, dass man als Arzt im Grunde – Im Grunde ist die Tätigkeit auf dem Gebiet im Moment tätliche Körperverletzung an dem Patienten, wenn man nichts verschreiben kann. Und eigentlich müsste man…"

    Der Heidelberger Studie zufolge kommt ein Drittel der Contergan-Geschädigten selbst für Massagen oder Lymphdrainagen auf. Etliche zahlen sogar Hilfsmittel aus eigener Tasche – Toiletten mit Wasserdusche, um selbstständig auf Toilette gehen zu können, oder maßgeschneiderte Schuhe. Von der Contergan-Stiftung bekommen die Betroffenen zur Zeit eine monatliche Rente von maximal 1152 Euro und eine jährliche Sonderzahlung. Wer eine Pflegestufe anerkannt bekommen hat, kriegt noch ein paar Hundert Euro Pflegegeld. Geld, das trotzdem nicht ausreicht für Zahnimplantate, den Umbau der Küche oder den Umbau des Auto oder für eine Hilfe im Haushalt. Vielen droht die Altersarmut. Die Katastrophe geht in die nächste Runde

    Die Contergan-Geschädigten sind jetzt über 50. Viele stehen mitten im Leben, sind gut ausgebildet, gehen noch arbeiten, haben eine eigene Familie. Wie Ilonka Stebritz und Klemens Seith. Sie haben es geschafft. Es sind Erfolgsgeschichten wie diese, die man immer mal wieder Fernsehen sieht. Andere haben es nicht geschafft. Sie sind durch Contergan so schwer geschädigt, dass sie nie arbeiten konnten. Sie leben von Hartz IV und von ihrer Contergan-Rente, und sie sind auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen. Eltern, die bald nicht mehr da sind. Alle blicken sie mit Sorge in die Zukunft. Ilonka Stebritz:

    "Ich wünsche mir, dass die Nachteile, die ich und die wir aus unseren Contergan-Schädigungen haben, ausgeglichen werden. Dass das, was wir benötigen auch uns zur Verfügung gestellt wird. Und wir nicht dafür kämpfen müssen, die notwendigen Hilfsmittel oder Heilmittel oder helfende Hände uns ständig zu erkämpfen. Das muss einfach aufhören."

    In Australien hat sich eine thalidomidgeschädigte Frau Schadenersatz in Höhe von mehreren Millionen australischer Dollar erkämpft. In Deutschland sind sämtliche Schadenersatzansprüche gegen die Herstellerfirma Grünenthal erloschen. 2009 hat Grünenthal noch einmal freiwillig 50 Millionen Euro in die Contergan-Stiftung gezahlt. Für einige Geschädigte in Not zahlt die Firma den Umbau des Badezimmers, Hörgeräte oder Gehhilfen. Jetzt ist die Politik ist gefragt.

    Die Autoren der Heidelberger Studie haben, zusammen mit der Contergan-Stiftung, 13 Handlungsempfehlungen erarbeitet. Renten müssten voll bezahlt werden, Folgeschäden anerkannt und die Contergan-Renten entsprechend erhöht werden. Bislang unbekannte Schäden müssten erforscht, Hilfsmittel und Behandlungen vollständig übernommen werden. Im Oktober haben Vertreter der Contergan-Stiftung und Betroffene darüber mit dem Familienausschuss des Bundestages beraten. Für Januar ist eine öffentliche Sitzung geplant. Klemens Seith:

    "Ja, man ist vorsichtiger mit dem Blick in die Zukunft. Man sieht dunkle Wolken oder hat Angst zum Teil vor der Zukunft, was noch kommen könnte."

    Klemens Seiths Oberkörper ist nicht mehr so kräftig wie früher. Ilonka Stebritz hat ihren Beruf aufgeben und Rentenabschläge hinnehmen müssen. Stebritz:

    "Ich sehe die Zukunft kritisch, weil ich ein tiefes Bewusstsein darüber entwickelt habe, wie meine Zukunft aussieht. Dadurch, dass ich ja keine Arme zur Verfügung habe, aber die Gelenke, Kniegelenke und Hüftgelenke immer mehr nachlassen und ich so die Bewegungsabläufe von alten Menschen beobachte, die stützen sich so viel mit den Armen ab, die ziehen sich so oft mit den Armen irgendwo hoch, ich kann das nicht. Und was wird denn dann aus mir."

    Als kleines Kind war Ilonka Stebritz immer mal wieder im Heim, auf einer Contergan-Station. Mal für zwei Wochen, mal für ein halbes Jahr. Dort hat sie gelernt, mit den Füßen zu essen, mit den Füßen zu malen, sich mit den Füßen anzuziehen. Die Krankenschwestern waren lieb. In ein Heim will sie nie wieder.