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Manuskript: Der Wettlauf

Seit drei Monaten geht die Vogelgrippe H7N9 in China um. Rund 140 Menschen haben sich infiziert, mehr als 30 von ihnen sind gestorben. Noch schlägt niemand Alarm, denn das Virus ist nicht von Mensch zu Mensch übertragbar. Das Mers-Coronavirus, das seit etwas mehr als einem Jahr auf der arabischen Halbinsel grassiert, ist da schon einen Schritt weiter: Menschen können sich gegenseitig mit dem Erreger anstecken. Bislang sind mehr als 50 Fälle bekannt, jeder zweite ist an der Infektion gestorben. Die Vogelgrippe H7N9 und das Mers-Coronavirus beschäftigen derzeit die Fachwelt. Bei beiden handelt es sich um neue, für unser Immunsystem unbekannte Erreger. Beide könnten eine Pandemie auslösen – vorausgesetzt, sie erlangen die Fähigkeit, sich leicht über Husten und Niesen weiterzuverbreiten.

Von Marieke Degen | 16.06.2013
    "Kann es losgehen?" sagte der Hase. "Jawohl", sagte der Igel. Der Hase zählte: "Eins, zwei, drei!" Und los ging es wie ein Sturmwind den Acker hinunter. Als nun der Hase in vollem Lauf unten am Acker ankam, rief ihm der Igel entgegen: "Ich bin schon hier!"

    Die Erasmus-Uniklinik in Rotterdam. Ein weißer Wolkenkratzer. Das Büro von Ab Osterhaus liegt in der 17. Etage, Institut für Virologie. Unten versinkt die Stadt im Dunst.

    "Jeden Morgen, wenn ich in mein Büro komme, schaue ich zuerst, was es neues auf der Promed gibt. Was passiert ist auf der Welt. Irgendwelche Krankheitsausbrüche, nicht nur beim Menschen, auch bei Tieren. Wir interessieren uns für alles."

    Regentropfen klatschen ans Fenster. Osterhaus reicht Karamellkekse. PromedMail ist eine Online-Datenbank, auf der alle neuen und ungewöhnlichen Krankheitsfälle gemeldet werden. Als er am 31. März die Website aufruft, liest er:

    Peking. Ein Vogelgrippevirus ist bei Menschen in Shanghai und in der Provinz Anhui entdeckt worden. Zwei Menschen sind gestorben, der dritte ist in einem kritischen Zustand. In Gewebeproben der Patienten ist das Virus H7N9 nachgewiesen worden. Der Subtyp H7N9 ist noch nie beim Menschen gefunden worden.

    Ab Osterhaus gilt als einer der erfahrensten Virologen weltweit. Als er in den Neunziger Jahren Vogeldreck einsammelte und auf Grippeviren untersuchte, haben ihn seine Geldgeber für verrückt erklärt. Dann wies sein Team erstmals nach, dass Menschen an der Vogelgrippe H5N1 erkranken können – dass ein Junge aus Hong Kong daran gestorben war. 1997 war das. In den letzten zehn Jahren infizierten sich rund 650 Menschen mit H5N1, hauptsächlich in Asien. Nur jeder zweite hat überlebt. Jetzt also das Vogelgrippevirus H7N9. Drei Fälle, zwei Tote. Osterhaus:

    "Wenn jemand an Lungenentzündung stirbt und ein Virus ausgemacht wird, das wir noch nie beim Menschen gesehen haben, natürlich schrillen da die Alarmglocken."

    Das Virus scheint nicht von Mensch zu Mensch übertragbar zu sein. Aber: Es gibt auch keine Impfung. Die Zusammenarbeit mit den Chinesen läuft gut. Die ersten Erbgutsequenzen von H7N9 werden schnell ins Netz gestellt, kurze Zeit später das Virus selbst in Labors auf der ganzen Welt verschickt. H7N9 breitet sich in China aus. Die Zahl der Infizierten und der Toten steigt. Weltweit arbeiten Wissenschaftler auf Hochtouren: Das Erbgut wird interpretiert, diagnostische Tests verfeinert, die Wirksamkeit von Grippemedikamenten geprüft und sogar erste Impfstoffe entwickelt. Ganz vorne mit dabei: Die Virologen aus Rotterdam.

    "Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass H7N9 die nächste Pandemie auslösen wird. Aber wenn wir uns nicht vorbereiten und es schiefgeht, dann wäre es wieder unsere Schuld. Wir sind in der merkwürdigen Lage, immer Schuld zu sein. Wenn wir vorbereitet sind und alles ruhig bleibt, sind wir Schuld – weil ja gar nichts passiert ist – und wenn eine Pandemie kommt und wir nicht vorbereitet sind, dann erst recht. Mir egal. Ich tue einfach, was ich tun muss."

    Influenzaviren haben sich im Laufe der Evolution bestens eingerichtet. Es gibt viele verschiedene Typen, die Virologen anhand ihrer Oberflächenmoleküle klassifizieren. Manche befallen in erster Linie Menschen, zum Beispiel H1N1 oder H3N2. Das sind die saisonalen Grippeviren, die jedes Jahr über den Erdball ziehen. H5- und H7-Viren infizieren normalerweise Vögel. Wieder andere Pferde, oder Seehunde, oder Reptilien. Dazwischen gibt es eine biologische Grenze. Vogelviren gehen normalerweise nicht auf den Menschen und umgekehrt. Doch Influenzaviren sind unberechenbar. Ihr Erbgut verändert sich permanent, Gene werden immer wieder neu zusammengewürfelt. Zwei verschiedene Viren, die sich zufällig in derselben Wirtszelle treffen, können schlagartig einen völlig neuen Erreger hervorbringen, mit völlig neuen Eigenschaften. Und so kann es passieren, dass ein Vogelgrippevirus plötzlich Menschen krank macht, wie H5N1 und H7N9. Wenn es das Virus dann noch schafft, sich über Husten und Niesen von Mensch zu Mensch zu verbreiten, droht eine Pandemie. Der neue Erreger rast um die Welt und fordert, weil unser Immunsystem nicht gewappnet ist, noch mehr Opfer als die saisonale Grippe. Die Wahrscheinlichkeit einer Grippe-Pandemie ist gering. In den letzten 100 Jahren gab es gerade einmal vier. Darauf verlassen sollte man sich nicht. Osterhaus:

    "Ich kann in Sachen Grippe überhaupt nichts vorhersagen. Es wird immer falsch sein. Also: Ich sage jetzt einfach mal, dass dieses Vogelgrippevirus H7N9 wirklich das Zeug dazu hat, eine Pandemie auszulösen – weil es dann hoffentlich niemals geschieht."

    Seit Jahren gilt die Vogelgrippe H5N1 als heißer Anwärter für die nächste Pandemie. Doch dann taucht im Frühling 2009 die Schweinegrippe H1N1 auf und überrollt innerhalb von wenigen Monaten den gesamten Planeten. Niemand weiß, was als nächstes kommt. Die Länder, die es sich leisten können, lassen Schweine- und Hühnerbestände immer wieder nach Grippeviren durchforsten – ohne zu wissen, wonach sie eigentlich suchen.

    "Im Moment suchen wir die Nadel im Heuhaufen. Wir wissen einfach nicht, welche Viren, die wir in einer Geflügelpopulation finden, die Artgrenze überwinden und auf Menschen überspringen können."

    Jeremy Farrar arbeitet an vorderster Front. Der Tropenmediziner leitet eine Abteilung für Klinische Forschung der Universität Oxford in Ho Chi Minh Stadt, Vietnam. Südostasien gilt als Influenza-Hotspot. Nirgendwo sonst leben so viele Menschen mit so vielen Hühnern, Enten und Schweinen auf so engem Raum. Wenn irgendwo ein pandemisches Grippevirus ausgebrütet wird, dann mit hoher Wahrscheinlichkeit hier. Im Moment hilft Jeremy Farrar dabei, den H7N9-Ausbruch im benachbarten China aufzuklären.

    "Wir sollten uns bewusst sein, dass dieses Virus Eigenschaften mitbringt, die – ganz objektiv betrachtet – ziemlich beunruhigend sind."

    Seit März haben sich in China rund 132 Menschen infiziert. 37 sind gestorben. Nach wie vor ist unklar, wo sie sich mit dem Virus angesteckt haben. Wahrscheinlich an Geflügel, möglicherweise auf Geflügelmärkten. Märkte wurden geschlossen, Tiere gekeult. Doch H7N9 macht Geflügel nicht krank, was es praktisch unmöglich macht, Ausbrüche zu erkennen. Das Virus kann sich unbemerkt ausbreiten. Und was Jeremy Farrar besonders Sorgen bereitet:

    "Schon in den ersten Wochen sind mehr als 100 Menschen an H7N9 erkrankt. Dieses Virus springt also regulär vom Tier auf den Menschen. Und jedes Mal, wenn das passiert, besteht das Risiko, dass es sich weiter an den menschlichen Körper anpasst. Und irgendwann von Mensch zu Mensch übertragbar wird. Und genau darum geht es."

    Der Hase läuft und läuft. Am Horizont sieht er den Igel.

    Jeremy Farrar: "Nun, das ist der heilige Gral. Das ist das große Ziel, Viren, die für den Menschen gefährlich werden könnten, rechtzeitig zu identifizieren. In der Realität sind wir noch weit davon entfernt."

    "Ich bin schon hier!" ruft der Igel fröhlich.
    "Wie machst du das?!" ruft der Hase.

    Uniklinik Rotterdam, 17. Etage, Institut für Virologie. Ein Labor der Sicherheitsstufe 2. Schwarzgelbe Biohazard-Aufkleber, Nachwuchswissenschaftler sitzen an Sicherheitswerkbänken, pipettieren hinter Glaswänden. Wenn ein Virus entwischt, wird es vom Abluftsystem weggesaugt.

    "Das sind menschliche Grippeviren. Die Schweinegrippe H1N1 von 2009 oder saisonale Grippeviren von diesem Jahr."

    Ron Fouchier ist ein Hüne, er überragt seine Studenten locker um einen Kopf. 2012 hat ihn das "Time Magazine" zu den 100 einflussreichsten Menschen unseres Planeten gezählt.

    "Wir arbeiten viel mit Grippeviren, die für den Menschen weniger gefährlich sind. Zum Beispiel, um herauszufinden, wie sich Viren vermehren. Für so etwas nehmen wir harmlose Grippeviren, das macht das Laborleben wesentlich leichter."

    Berühmt haben ihn andere Viren gemacht. Ron Fouchiers Arbeitsgruppe hat die Vogelgrippe H5N1 so verändert, dass sie möglicherweise eine Pandemie beim Menschen auslösen könnte. Die Experimente - mit Frettchen, dem Standard-Grippe-Tiermodell für den Menschen – finden im Hochsicherheitslabor statt, irgendwo in Rotterdam. Gezeigt wird es nicht.

    "Ich muss doch nicht der ganzen Welt mitteilen, wo sich das Labor befindet. Warum sollte ich das tun? Es ist nicht auszuschließen, dass Idioten mal eben auf die Idee kommen, mit dem Auto in so ein Gebäude zu fahren. Denen wollen wir gar nicht erst die Gelegenheit dazu geben."

    Alles begann vor ein paar Jahren mit der alten Frage, was ein Grippevirus dazu befähigt, die Artgrenze zu überwinden. Und: Ob Vogelgrippeviren überhaupt jemals von Mensch zu Mensch übertragbar sein könnten. Fouchier

    "Darüber wurde in Influenza-Kreisen heftig diskutiert. Viele hochrangige Virologen waren der Ansicht, dass nur H1, H2 und H3-Viren eine Pandemie auslösen könnten und dass wir uns bei anderen Subtypen keine Sorgen machen müssten."

    Fouchiers Team hat die Vogelgrippe-Viren H5N1 genommen und das Erbgut an zwei Stellen verändert. Danach waren sie viel besser in der Lage, Säugetierzellen zu infizieren, in Nase und Rachen, und sich bei einer niedrigeren Körpertemperatur zu vermehren. Diese Mutationen sind bislang bei allen pandemischen Grippeviren aufgetreten. Die Forscher haben Frettchen mit den veränderten H5N1-Viren infiziert, ihnen nach einiger Zeit die Viren wieder aus Nase und Rachen entnommen und damit die nächsten Frettchen infiziert. Zehn Runden ging das so; genug Gelegenheit für H5N1, sich weiter anzupassen. Fouchier:

    "Innerhalb dieser zehn Runden haben sich die genetischen Eigenschaften des Virus weiter verändert. Und dann haben wir getestet, ob Viren darunter sind, mit denen sich die Frettchen über Husten und Niesen gegenseitig anstecken können. Und die Antwort war ja."

    Eine Erbgutanalyse der Viren hat ergeben: Gerade einmal eine Handvoll Mutationen sind nötig, damit das Vogelgrippevirus H5N1 von Frettchen zu Frettchen springt. Frettchen sind Säugetiere, wie Menschen. Wahrscheinlich könnte das veränderte Virus auch von Mensch zu Mensch springen. Fouchiers Arbeit ist – wie eine ähnliche Studie von Yoshi Kawaoka aus den USA - bis heute umstritten. Unverantwortlich, sagen die einen: Die Viren könnten aus dem Labor entweichen, oder von Terroristen nachgebaut werden. Unverzichtbar, meinen die anderen: Denn das gefährlichste Labor sei immer noch die Natur. Möglicherweise seien mutierte Viren längst da draußen. Jetzt gebe es zumindest Anhaltspunkte, wonach man suchen müsse. Zu den Befürwortern gehört auch Jeremy Farrar.

    "Wahrscheinlich sind diese Mutationen nicht die einzigen, die ein Virus scharf machen können. Trotzdem: in Vietnam überprüfen wir regelmäßig H5N1-Proben von Menschen und von Geflügel auf die Erbgutveränderungen, die Fouchier und Kawaoka identifiziert haben."

    Fouchier: "Nun, man wird Vogelgrippeviren los, indem man sie komplett auslöscht. Indem man das infizierte Geflügel tötet, die Ställe für ein paar Wochen frei lässt und erst dann wieder mit Hühnern bestückt. So machen wir es in den Niederlanden, so wird es in Deutschland gemacht, und das funktioniert richtig, richtig gut. Es kostet viel Geld, es kostet viele Hühner, aber es ist das einzige, was hilft."

    In Vietnam sind bislang noch keine der Mutationen gefunden worden. In Ägypten, wo diese Viren ebenfalls kursieren, schon. Passiert sei aber nichts, sagt Ron Fouchier.

    "Ich habe in diesen Regionen keinerlei Bemühungen gesehen, das Virus auszulöschen. Yoshi Kawaoka und ich haben ein Paper geschrieben und gesagt, Ägypten sollte da an vorderster Stelle stehen. Aber nichts davon ist geschehen."

    Die Vogelgrippe H5N1 könnte theoretisch jederzeit eine Pandemie beim Menschen auslösen, Bislang ist es nicht dazu gekommen. Warum, weiß keiner. H5N1 befällt nach wie vor in erster Linie Vögel – und nur hin und wieder einen Menschen. Doch jetzt ist da auch noch H7N9. H7-Viren sind eigentlich auch Vogelgrippeviren. Doch Ron Fouchier hat sich das Erbgut angeschaut.

    "Dieses Virus sieht definitiv nicht aus wie ein normales Vogelgrippevirus."

    Die ersten beiden Mutationen, die die Forscher bei H5N1 noch künstlich einschleusen mussten – die Fähigkeit, Säugetierzellen in Nase und Rachen zu infizieren und sich bei einer niedrigeren Körpertemperatur zu vermehren – diese beiden Mutationen sind im Erbgut von H7N9 schon vorhanden. Das haben die Forscher noch nie bei einem Vogelgrippevirus in der Natur gesehen. Fouchier:

    "Das ist, schätze ich, das Verdienst unserer H5N1-Studien: Dass jetzt jeder den Ausbruch mit H7N9 sehr ernst nimmt. Weil sie sehen, dass H7N9 vielleicht schon dabei ist, sich an Säugetiere anzupassen."

    Der Rest bleibt Spekulation. Vielleicht ist H7N9 nur noch zwei, drei Mutationen davon entfernt, eine Pandemie beim Menschen auszulösen. Vielleicht würde es dann an Gefährlichkeit einbüßen: Ein Virus, das über Tröpfcheninfektion weitergegeben werden kann, befällt in erster Linie Nase und Rachen, und zieht weniger die Lunge in Mitleidenschaft. Auch Ron Fouchiers Frettchen wurden zwar krank, starben aber nicht. Es könnte aber genauso gut sein, dass es H7N9 aus irgendeinem Grund niemals gelingen wird, sich über die Atemluft zu verbreiten. In den letzten Wochen ist es ruhiger geworden um H7N9. Aus China werden im Moment nur noch vereinzelt neue Infektionen gemeldet. Doch die Infektionsquelle liegt weiterhin im Dunkeln. Der Ausbruch kann jederzeit weitergehen.

    "Hier bin ich!" Der Hase stoppt abrupt und sieht sich verwirrt um. Auf dem Berg steht der Igel und winkt.

    Eine Pandemie muss nicht unbedingt durch Grippeviren ausgelöst werden. Es gibt noch andere Kandidaten. Große Sorgen bereitet der Weltgesundheitsorganisation das Mers-Coronavirus, das vor etwa einem Jahr in Saudi Arabien und Nachbarländern aufgetaucht ist. Mers steht für Middle East Respiratory Syndrome. Zu den Symptomen gehören Lungenentzündung und Atemnot. Viele Betroffene müssen innerhalb kürzester Zeit beatmet werden. Der Bonner Virologe Christian Drosten hat den Ausbruch von Anfang an mit begleitet.

    "Es handelt sich bei diesem Mers-Coronavirus um einen entfernten Verwandten vom Sars-Erreger, das war ja ein Erreger, der im Jahr 2002, 2003 eine gefährliche Epidemie in China und dann in vielen Ländern der Welt verursacht hat. Man hatte damals die Befürchtung, dass eine schwere, neue Pandemie im Anrollen ist. Und wir haben jetzt hier eine ganz ähnliche Situation. Dieses ist wieder ein neues Virus, das offenbar von Mensch zu Mensch übertragbar ist, die Hinweise mehren sich dafür, und wir haben die prekäre Situation, dass in der menschlichen Bevölkerung keine Antikörper bestehen gegen dieses Virus, also keine Immunität. Das ist eine Situation, in der es zu Pandemien kommt."

    Bislang gibt es 51 laborbestätigte Fälle, davon 30 Tote, fast alle davon auf der Arabischen Halbinsel. Im Gegensatz zur Vogelgrippen H7N9 ist das Mers-Coronavirus schon einen Schritt weiter: Menschen können sich gegenseitig mit dem Virus anstecken, wenn auch offenbar nicht sehr leicht. Doch es hat Übertragungen in Krankenhäusern gegeben, in Jordanien, in Saudi Arabien, auch in Großbritannien, Frankreich und Italien. Virologen sind alarmiert. Was nicht nur am Virus liegt, sondern auch daran, dass die Aufklärung vor Ort eher schleppend läuft.

    "Momentan haben wir einen großen Informationsbedarf in der Epidemiologie. Wir haben es mit einer offenbar übertragbaren Krankheit zu tun in einer Region der Erde, in der es kein sehr ausgereiftes Meldesystem gibt. Und kein ausgereiftes Laborsystem, so dass man momentan nur schätzen kann, wie viele Fälle es dort gibt. Und das ist das große Rätsel derzeit."

    Um das Risiko für den Rest der Welt einzuschätzen, müssen die Experten wissen, wie weit das Mers-Coronavirus überhaupt verbreitet ist, wie es sich im Körper verhält und wie gefährlich es ist. Ob es bei vielen Menschen etwa nur eine Erkältung auslöst. Doch es gibt kaum Daten aus den betroffenen Ländern. Drosten:

    "Keines dieser Todesopfer ist bis jetzt in der Pathologie in einer Post Mortem Sektion untersucht worden. Man könnte in so einer ganz normalen Sektion, wie wir sie in Europa in Krankenhäusern immer wieder durchführen bei Todesfällen im Krankenhaus, sehr gut sehen, wo sich das Virus im Körper eigentlich umtreibt. Wo eigentlich so eine Infektion abläuft mit Schwerpunkten bei diesem Virus, und auch da wieder der Wunsch eigentlich an die Länder, in denen diese Epidemie momentan grassiert: Wir brauchen Sektionsdaten von diesen Patienten."

    Während die chinesischen Behörden für ihre Transparenz und Kooperationsbereitschaft beim H7N9-Ausbruch allerorten gelobt werden, läuft die internationale Zusammenarbeit beim Mers-Coronavirenausbruch von Anfang an nicht rund. Zuletzt ist sogar ein Streit darüber entbrannt, wem das Virus eigentlich "gehört". Die Arbeitsgruppe um Ron Fouchier in Rotterdam hat es zuerst in einer Patientenprobe aufgespürt; wer mit Virenmaterial aus Rotterdam arbeiten will, muss eine in Forscherkreisen durchaus übliche Material-Transfer-Vereinbarung unterschreiben und sich etwa dazu bereit erklären, die Viren nicht an Dritte weiterzugeben. Der saudische Gesundheitsminister hat den Niederländern vorgeworfen, dadurch die Entwicklung von diagnostischen Tests in seinem Land zu behindern – was die Angeklagten bestreiten. Die Weltgesundheitsorganisation fordert die Länder auf, an einem Strang zu ziehen. "Das neue Coronavirus bedroht die ganze Welt", sagte die Generaldirektorin Margaret Chan kürzlich in einer Rede vor der World Health Assembly. "Wir brauchen mehr Informationen. Und wir brauchen sie schnell, dringend." Christian Drosten:

    "Wir wissen, dass Influenzaviren prinzipiell in der Lage sind, sich schlagartig zu verbreiten. Wir müssen aber sagen auch bei diesem Coronavirus Sars, das im Jahr 2003 aufgetreten ist, gab es eine relativ schnelle, schlagartige Verbreitung. Das war auch ein Prozess eher von Wochen als von Monaten. Und wir möchten, glaube ich, alle nicht erleben, dass sich das wiederholt."

    "Es ist wie der Wettlauf zwischen Hase und Igel. Und wir sind immer zu langsam."

    Jeremy Farrar, Epidemiologe, Ho Chi Minh Stadt, Vietnam.

    "Was wir noch nicht gelernt haben, ist: Was wir, wenn wir ein gefährliches Virus entdeckt haben, tun können, um eine Pandemie zu verhindern. Da sind wir einfach noch nicht clever genug."

    Wir rücken den Viren dichter auf die Fersen. Wir haben erste Anhaltspunkte darüber, wie sich ein Virus verändern muss, um für Menschen gefährlich zu werden. Und bessere diagnostische Tests, mit denen neue Erreger immer schneller nachgewiesen werden. Wir erkennen heute früher, ob eine Epidemie im Gange ist. Und können uns dann vorbereiten: mit Medikamenten, mit Intensivstationen, und, wo verfügbar, mit Impfstoffen. Trotz aller Fortschritte: Grippeviren sind noch immer schneller. Von Fieberscannern am Flughafen lassen sie sich nicht aufhalten: Sie springen schon munter auf unseren Sitznachbarn über, bevor wir überhaupt merken, dass wir krank sind. Grippemedikamente wie Tamiflu werden meist erst verabreicht, wenn die Infektion bereits in vollem Gange ist, und können ihre Wirkung dann nicht mehr richtig entfalten.

    Und der Impfstoff? Der kommt für die erste Erkrankungswelle immer zu spät. Heutige Grippe-Vakzine müssen an jedes einzelne Virus angepasst werden. Der Impfstoff kann erst in die Massenproduktion gehen, wenn das Virus schon längst grassiert. Der Mensch läuft dem Virus hinterher. Jeremy Farrar:

    "Im Moment dauert es vier bis sechs Monate, bis ein passender Impfstoff verfügbar ist, in Entwicklungsländern sogar noch länger. Das muss schneller gehen, wir können nicht sechs Monate warten, denn bis dahin ist die Pandemie vielleicht schon vorbei."

    Womöglich gäbe es einen Ausweg aus dem Dilemma. Und der heißt: Universalimpfstoff. Eine Vakzine, die nicht nur vor einem, sondern vor vielen verschiedenen Grippeerregern gleichzeitig schützt. Universalimpfstoffe sind die einzige Chance, schneller zu sein. Gewappnet zu sein, egal welches neue Grippevirus kommen mag.

    "Eine universelle Grippeimpfung – das ist wirklich das ganz große Ziel","

    sagt auch Ron Fouchier aus Rotterdam. Heutige Impfstoffe wirken sehr spezifisch. Der Körper stellt nur Antikörper gegen die Viren her, die auch im Impfstoff enthalten sind. Sobald sich die Viren auch nur leicht verändern, können die Antikörper nichts mehr ausrichten. Deshalb wird jedes Jahr aufs Neue gegen die saisonale Grippe geimpft. Ein Universalimpfstoff soll das Immunsystem dazu bringen, Antikörper herzustellen, die alle möglichen Grippeviren erkennen. Auch solche, die gerade erst neu entstehen. Fouchier:

    ""Im Moment sind solche Impfstoffe noch nicht in Sicht, und innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre rechne ich auch nicht damit. Das heißt aber nicht, dass die Forscherteams aufhören sollten, es zu versuchen. Ich denke, sie werden es irgendwann schaffen. In den letzten Jahren sind schon eine Menge spannender Ergebnisse publiziert worden."

    "Das ist sicherlich vielversprechend, weil dann könnte man im Vorlauf entsprechende Impfstoffe produzieren und wäre nicht darauf angewiesen, ganz kurzfristig erst die Entwicklung zu starten","

    sagt auch Gérard Krause, der die Abteilung für Infektionsepidemiologie am Robert Koch-Institut leitet. Er bezweifelt jedoch, dass sich die Grippe damit ein für allemal besiegen ließe.

    ""Unsere Erfahrung hat ja gezeigt, dass die Biologie sich sehr schnell entwickelt, und Viren immer sehr schnell immer neue Ausweichmechanismen suchen, so dass ich da persönlich als klinischer und als Arzt eher skeptisch bin."

    Die Epidemiologen des Robert Koch-Instituts müssen das Risiko eines Krankheitsausbruchs so früh wie möglich einschätzen. Im Pandemie-Fall beraten sie Ärzte, Gesundheitsbehörden und Politiker, welche Maßnahmen ergriffen werden sollten. Für die Vogelgrippe H7N9 trifft das Institut im Moment keine besonderen Vorkehrungen. Krause:

    "Nein, wir haben unsere Früherkennungsverfahren à jour gebracht und so organisiert, dass wir glauben, dass uns keine Fälle in Deutschland durch die Lappen gehen würden, und dass wir Informationen, die international zu bekommen sind, dass wir die auch bekommen, so dass unsere Risikoeinschätzung täglich aktualisieren können und anpassen können. Darüber hinaus haben wir jetzt keine Maßnahmen in die Wege geleitet. Was jetzt den Einsatz von Medikamenten betrifft, Bestellung von Medikamenten betrifft oder irgendwas in dieser Form. Das wäre nicht angemessen in dieser Phase."

    Auch beim Mers-Coronavirus sieht das RKI im Moment keinen Handlungsbedarf. Krause:

    "So lange das vergleichsweise wenige Menschen sind, und auch keine rasante Ausbreitung zwischen den Menschen zu beobachten ist, bin ich relativ beruhigt."

    Doch beim Mers-Coronavirus ist die Lage eine andere als bei der Grippe. Die Behörden haben derzeit Schwierigkeiten, die Situation überhaupt einzuschätzen. Und: Es gibt weder Medikamente noch einen Impfstoff. Sollte sich im Mittleren Osten tatsächlich eine Epidemie aufschaukeln, bliebe nicht viel, um das Virus einzudämmen. Christian Drosten aus Bonn:

    "Alles, was zur Verfügung steht, ist Quarantäne. Und ich glaube, dass wir uns da jetzt möglicherweise in einem Gelegenheitsfenster befinden, in dem das Virus noch schwach übertragbar ist und in dem man über Quarantäne beispielsweise bis hin zu Reiseeinschränkungen einiges bewirken könnte."

    In ein paar Wochen beginnt der Ramadan. In Saudi Arabien, in den heiligen Stätten in Mekka und Medina, werden Hunderttausende Pilger erwartet. Doch für Maßnahmen wie Reisebeschränkungen oder Quarantäne ist es zu früh. Christian Drosten:

    "All das sind schwerwiegende Entscheidungen. Die haben Auswirkungen zum Beispiel auch auf die Wirtschaft. Da stürzen Börsenkurse ab, muss man sich vorstellen, und darum kann man so etwas nicht aus dem hohlen Bauch heraus machen, gerade auch nicht als Behörde von nationaler oder übernationaler Bedeutung. Darum sind die Behörden im öffentlichen Gesundheitswesen verzweifelt auf der Suche nach weiteren Informationen, um einzuschätzen, wie schwerwiegend die Situation dort vor Ort ist. Und es ist sehr frustrierend, wenn bei diesen Einschätzungsversuchen eigentlich diese zugrundeliegenden Daten aus den betroffenen Ländern nicht kommen und nicht erhoben werden."

    Wir können den Wettlauf nicht gewinnen. Was wir gewinnen können, ist Zeit. Jeremy Farrar:

    "Wir müssen smarter bei der Überwachung von Viren werden, und wir müssen smarter werden in dem, was wir tun, wenn wir etwas finden."

    Wir können Viren überwachen. Und wir können uns wappnen, mit Impfstoffen, Medikamenten, Intensivstationen. All das ist nicht nur eine Frage des Wissens. Es ist auch eine Frage des Könnens. Gérard Krause:

    "Wir müssen ja schon sehen, dass wir zumindest hier in Deutschland und in Europa eine Versorgungsstruktur haben, die sehr viel Pufferkapazität schon hat und eine sehr wirksame Medizin zur Verfügung stellen kann, die Erkrankte und schwer Erkrankte heilen und auch retten kann. Das ist weltweit natürlich nicht der Fall, und das ist das große Problem, und da ist eine große globale Ungerechtigkeit vorhanden, die man auch nicht überwinden kann so schnell."

    Einige Mers-Patienten von der arabischen Halbinsel – die, die es sich leisten können – haben sich für die Behandlung in europäische Kliniken ausfliegen lassen. Auch nach Deutschland. Wenn sich die Lage vor Ort verschärft, könnten es noch viel mehr werden.

    "Ich bin hier!" ruft es aus dem Busch. "Ich bin hier!" ruft es vom Baum. "Ich bin hier!" ruft es aus dem Stall.

    Jeremy Farrar: "Was heute in Ho Chi Minh Stadt, Jakarta oder Peking passiert, ist morgen für Berlin relevant. Die Welt ist klein geworden. Und wir können uns nicht abschotten. Wir brauchen eine globale Perspektive, und wir brauchen die Ressourcen der Industrienationen, um den Rest der Welt zu unterstützen. Weil das in unserem eigenen Interesse ist. Weil es, wenn sich eine Infektion erstmal von China oder Vietnam aus verbreitet, weil es dann zu spät ist."

    Der Hase aber lief. Und lief. Und lief. Und taumelte. Und fiel um.