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Manuskript: Höhen und Tiefen

Unsere Stimme begleitet uns das ganze Leben. Vom ersten Schrei bis zu den letzten Worten verändert sie sich und bleibt trotzdem stets der akustische Fingerabdruck einer Person. Der Prozess der Stimmproduktion ist derart komplex, dass es bis heute nicht möglich ist, den exakten Weg des Luftstroms aus der Lunge bis zum Mund nachzuverfolgen oder gar zu simulieren. Auch der natürlich klingende, künstliche Kehlkopf lässt somit auf sich warten. Schrittweise kommt die kleine Gemeinde der Stimmforscher der Lösung ihrer Stimmformel näher.

Von Martina Preiner | 28.07.2013
    Die Abteilung für Phoniatrie des Universitätsklinikums Erlangen. Hier werden Menschen mit Stimmproblemen behandelt.

    "Ob man Brötchen verkauft oder Kraftwerke, ob man Unterricht gibt – immer muss man überzeugend auftreten, das vermittelt man über die Stimme. Und wenn jemand ausfällt, in so einem Umfeld, dann bedeutet das Krankheitstage, obwohl er äußerlich gar nicht so todeskrank ist."

    Der Physiker und Mediziner Ulrich Eysholdt leitet die Abteilung. Er glaubt: Um der zunehmenden Zahl von Patienten mit chronischer Heiserkeit oder anderen Stimmerkrankungen zu helfen, müssen endlich die grundlegenden Fragen beantwortet werden.

    "Wie entsteht eigentlich dieses Signal ‚Stimme’? Dadurch, dass sich irgendwelche Gewebsfalten bewegen, schwingen, manchmal nicht richtig schwingen und dann klingt es heiser. Und das heißt, man hat die Kopplung zwischen Strömung, Mechanik und Akustik."

    Wo in den oberen Stockwerken den Kranken geholfen wird, forschen im Keller Mathematiker, Physiker und Ingenieure. Neben einer vollautomatischen Kaffeemaschine stehen zwei Schreibtische, dazwischen ein breiter Metalltisch. Schneide- und Nähwerkzeuge sind vorbereitet. Und zwei mit Flüssigkeit gefüllte, durchsichtige Plastikbecher, in denen jeweils ein Stück Fleisch schwimmt. Doktorand Georg Luegmair hat am Morgen Schweinekehlköpfe aus dem Schlachthof besorgt.

    "Also hier ist der so genannte Aryknorpel, der ist beim Schwein sehr groß."

    Einen der Stimmapparate hat er vor sich auf ein Stück Papier gelegt und einmal in der Mitte auseinander geschnitten.

    "Das ist ein Knorpel, der sitzt hier auf und hat die Funktion, ähnlich als wenn das hier eine Gitarrensaite wäre, die Gitarrensaite hier zu spannen. Das heißt, wenn Sie Luft holen, sind die Knorpel locker oder nicht unter Spannung. Und das heißt, wenn Sie jetzt anfangen zu sprechen, dann zieht der Muskel diesen Knorpel nach hinten. Und die Stimmlippe klappt nach innen und nach hinten – und dadurch bekommen wir Spannung in die Stimmlippe."

    Die Stimmforschung beginnt im Kehlkopf – dort, wo die Stimmbänder oder Stimmlippen von der Lungenluft angeregt in Vibration geraten und mit circa 100 bis 300 Schwingungen pro Sekunde Töne erzeugen. Stimmlippen oszillieren passiv, das heißt, sie werden nur durch den Luftstrom angetrieben, nicht durch Muskelkraft. Die Muskeln sorgen lediglich für Spannung auf den Stimmlippen. Luegmair befreit den Schweinekehlkopf mit einem Skalpell von überflüssigem Gewebe. Mit Hilfe von Nadel und Zwirn versucht seine Mitdoktorandin Veronika Birk Spannung auf den Kehlkopf zu bekommen. Im lebenden Schwein erledigen das die Kehlkopfmuskeln. Schon fast chirurgisch genau müssen dabei die Nähte platziert werden.

    "Man kriegt da mit der Zeit schon Übung, das geht dann schon. Aber es ist trotzdem schon ziemlich klein alles."

    Alles muss schnell gehen. Denn das organische Material verliert in weniger als zwei Stunden seine biomechanischen Eigenschaften – der Verwesungsprozess lässt sich nicht aufhalten. Auf dem Metalltisch ist ein kurzes Metallrohr montiert, angeschlossen an eine Luftdruckpumpe. Darüber stülpt Luegmair den präparierten Kehlkopf. Dann schaltet er die Pumpe ein, und erhöht den Luftdruck.

    "Da sieht man beim Schwein, dass hier diese fleischigen Lappen viel mehr schwingen als die eigentlichen Stimmlippen. Also, es beim Schwein wirklich dazu zu bekommen, dass die Stimmlippen oszillieren in so einem Versuchsaufbau, ist wirklich schwer."

    Ziel ist eine detaillierte Vermessung der Stimmlippenbewegung, eingenähte Fixpunkte helfen bei der Auswertung. Eine Hochgeschwindigkeitskamera, die über dem Kehlkopf befestigt ist, macht bis zu 10.000 Aufnahmen pro Sekunde. Die Schweinekehlköpfe dienen vor allem dazu, die Gerätschaften zu justieren. Die eigentlichen Versuche werden mit menschlichen Kehlköpfen durchgeführt, die weniger leicht zu bekommen sind als solche aus dem Schlachthaus. Der Umgang mit Leichenteilen –für einen Ingenieur wie Luegmair erst einmal etwas gewöhnungsbedürftig.

    "Wenn man anfängt zu denken, da hing mal ein Mensch dran mit einem Kopf und einem Körper – wir holen die ja auch aus der Pathologie ab und ich glaube, jeder, der schon einmal drüben in der Pathologie war und an einer Leiche vorbeigegangen ist, die in Anführungsstrichen zerfleddert vor einem liegt. Der weiß, wo das Ding herkommt."

    Der Unterschied zwischen den Stimmapparaten von Schwein und Mensch ist deutlich zu hören. Erst wenn sich die Stimmlippen beim Vibrieren berühren, korrekt öffnen und schließen, erhält man einen klaren Ton.

    Erlangen im Juni 2012. Stimmforscher von Japan bis Chile treffen sich zum alljährlichen Kongress. Gerade einmal 600 Mann stark ist die gesamte internationale Wissenschaftsgemeinde. Von Strömungsphysikern bis Phoniatern ist hier alles vertreten. Ingo Titze wird von der Szene wie ein etwas in die Jahre gekommener Rockstar gefeiert. Der Mitte 70-jährige – selbst passionierter Tenor – ist sowohl Direktor des US-amerikanischen Zentrums für Stimme und Sprache in Utah, als auch Professor für Sprachwissenschaften und Spracherkrankungen an der Universität Iowa. Seine Lehrbücher gehören zum Basisrepertoire einer jeden Nachwuchskraft, seine Vorträge sind nicht nur unter Fachkollegen legendär: Der promovierte Physiker ist auch Sängern, Sprechern und Stimmtherapeuten ein Begriff. Wenn Titze die "Stimmformel" an die Tafel schreibt, fragt sich ein Laie schnell, ob er versehentlich in einer Vorlesung über höhere Quantenmechanik gelandet ist. Integrale, Wurzeln und ein Wust griechischer Buchstaben schmücken die einmal quer über die ganze Tafel gehende mathematische Beschreibung der Stimme.

    "Die Mathematik hinter der Stimme ist unfassbar komplex. Einen großen Teil meiner Zeit verbringe ich damit, diese schwer verdauliche Mathematik in leichter bekömmliche zu übersetzen, so dass auch Mediziner und Gesanglehrer damit etwas anfangen können. Ich bin in dieser Welt der Ingenieure und Physiker aufgewachsen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir vor allem mit den Leuten kommunizieren müssen, die helfen, Stimmen wieder herzustellen."

    "Die Formel" ist längst nicht komplett. Die Wissenschaftler behelfen sich mit den verschiedensten Stimmmodellen, vermessen sie, leiten Gesetzmäßigkeiten ab – mit dem Ziel, alle Variablen zu finden. Nicht alle Modelle bewegen sich so nah an der Realität wie Leichenkehlköpfe, manche werden nicht einmal mit Luft sondern mit Wasser betrieben, um Strömungsdynamiken nachzuvollziehen. Oft beschränken sich diese mechanischen Aufbauten nur auf ganz bestimmte Parameter der Stimme: Lungendruckveränderung, Stimmlippenöffnung, Stimmlippenbewegung, Stimmlippenelastizität. Ingo Titze ist überzeugt: Erst kommt die Mathematik, dann die Heilung.

    "Jahrelang mussten wir Wissenschaftler zu den Sprach- und Gesanglehrern gehen und uns zeigen lassen, was sie tun und was ihrer Meinung nach hilft. Aber durch die ganze Arbeit der letzten Jahre kann die Wissenschaft heute erklären, warum bestimmte Dinge helfen und welche nicht."

    "Eigentlich bin ich Mathematiker und der Betreuer meiner Diplomarbeit hatte im Klinikum eine Stelle bei einem Kollegen offen und ich wollte gerne promovieren, aus der reinen Mathematik raus in die Anwendung – und so komme ich zur Stimmforschung."

    Michael Döllinger ist der Leiter der Erlanger Stimmforschergruppe und damit auch Georg Luegmairs Chef. Die Forschung beginnt am "realitätsnahen Modell", wie Döllinger es ausdrückt: beim lebenden Patienten. Auch hier werden über ein Endoskop per Hochgeschwindigkeitskamera Aufnahmen der Stimmlippenbewegungen gemacht.

    "Allerdings kann man da nichts kontrollieren. Ich kann nicht die Spannung definiert ändern, die Kräfte im Kehlkopf kann ich nicht definiert ändern – das passiert einfach."

    Experimente an Leichenkehlköpfen liefern einen viel tieferen Einblick als die Aufnahmen des Patienten. Längs aufgeschnitten und richtig befestigt können die Erlanger Wissenschaftler mit einem Glasprisma auch seitlich auf eine Stimmlippe blicken. Erst bei solchen Experimenten zeigt sich: die Stimmlippen schwingen nicht nur horizontal, sondern enthalten auch einen vertikalen Bewegungsanteil. Dreidimensionale Schwingungen also. Inzwischen können auch krankhafte Abweichungen am Leichenkehlkopf simuliert werden. Die Physik hinter der Heiserkeit zu verstehen ist Michael Döllinger ein besonderes Anliegen.

    "Eine gute Stimmqualität wird erzeugt einerseits durch periodische Schwingungen, also jede Schwingung sieht aus wie die nächste, und ihre Stimmlippen schwingen symmetrisch – die linke schwingt so wie die rechte Stimmlippe."

    Hinter chronischer Heiserkeit stecken häufig asymmetrisch schwingende Stimmlippen. Der Zustand kann angeboren sein oder sich durch Stimmbandentzündungen oder andere Stimmerkrankungen entwickeln. Döllinger:

    "Das erzeugt einen ungünstigen Luftstrom, der dann wiederum ein schlechteres akustisches Signal bewirkt. Beziehungsweise: wenn Ihre Stimmlippen nicht vernünftig schließen, dann geht sehr viel Energie verloren, Sie bekommen eine heisere Stimme."

    An ihren Leichenkehlköpfen können die Erlanger Forscher Asymmetrien künstlich herstellen. Auf diese Weise können sie die Dynamiken der abweichenden Stimmlippenbewegung verfolgen – und Heiserkeit erzeugen. Döllinger:

    "Wir verändern gezielt diese Symmetrie und wollen dann analysieren, wie sich die resultierende Akustik verändert und ab welchen Störungseinflüssen sich das wirklich deutlich auf die Akustik auswirkt."

    Wenn am Kehlkopf angenähte Fäden auf der einer Seite stärker spannt auf der anderen und wenn diese Seite noch stärker gespannt wird, wird der Ton deutlich unsauberer und luftiger – denn die Stimmlippen können sich nicht mehr sauber beim Vibrieren berühren beziehungsweise schließen. Die durch solche Experimente gewonnenen Daten liefern wichtige Informationen zum genauen Ablauf der asymmetrischen Stimmlippenbewegungen. Informationen, die irgendwann helfen sollen, Asymmetrien bei Patienten besser einzuordnen. Die Leichenkehlköpfe müssen während der Messung mit Kochsalzlösung feucht gehalten werden. Normalerweise liegt eine Schleimschicht auf den Stimmlippen, der so genannte Mucus. Diese Schicht wirkt wie ein Fliegenfänger für durch die Atemluft aufgenommene Mikroben, Staub oder Rauch. Ihre Dichte und Beschaffenheit verändert sich äußerst leicht. Daher vermessen die Erlanger auch den Einfluss verschiedener Mucusdichten. Das klingt zunächst wie ein vernachlässigbarer Effekt. Michael Döllinger:

    "Aber letztendlich sieht man auch, dass der Schleim auf den Stimmlippen Eigenschaften hat, die die Bewegung und somit auch den resultierenden Ton beeinflusst. Das sieht man auch, wenn man heiser ist. Die Mucuskonsistenz im Kehlkopf sieht da ja ganz anders aus, als wenn man gesund ist: viel dickflüssiger, zäher."

    Auch wenn eine heisere Stimme von Stimmheilkundlern in den meisten Fällen als krankhafte Entwicklung diagnostiziert wird, prägt sie bei vielen Menschen den Charakter der Stimme.

    Keine Stimme gleicht einer anderen, darin ähnelt sie dem Fingerabdruck. Der von der Lunge generierte Luftstrom wird auf seinem Weg über die Stimmbänder bis zu den Lippen auf so komplexe Art und Weise beeinflusst, dass Stimmforscher am Ende vor einer Vielzahl von Variablen und Parametern stehen, die sie berücksichtigen müssen. Zahlreiche Computerprogramme versuchen den Klang der natürlichen Stimme zu treffen. Die amerikanische Mobilfunkfirma AT&T zum Beispiel arbeitet seit über einem Jahrzehnt an der perfekten künstlichen Stimme. Auch die Aussprache anderer Sprachen, beispielsweise Englisch kann berücksichtigt werden. Diese so genannten "Text to Speech" oder TTS Programme sind weit gediehen, helfen aber nicht dabei, das Geheimnis der Stimme zu verstehen.

    Ingo Titze: "Das Nachahmen oder Synthetisieren von einer schon bekannten Stimme kann man schon sehr gut. Aber für all die Computer oder Aufzüge die mit uns sprechen, braucht man bis heute Aufnahmen von menschlichen Stimmen. Diese werden dann in ganz kleine Stimmteile zerlegt und wieder zusammengesetzt, so dass eine neue Sprache daraus entsteht. Was ich, was wir in unserem Forschungsbereich machen, ist etwas anderes. Wir wollen die Physik hinter der Stimme verstehen. Und basierend darauf könnten wir auch Aussagen treffen, wie sich eine Stimme in etwa anhört, wenn uns nur die Anatomie des Stimmapparats vorliegt. Beispielsweise von einem ausgestorbenen Tier oder ähnlichem."

    Forschern wie Ingo Titze geht es nicht darum, Stimme perfekt zu imitieren. Sie wollen nachvollziehen, wie ein Körper beschaffen sein muss, um sie zu produzieren. Der Lehrstuhl für Sensorik der Universität Erlangen liegt auf dem Röthelheim-Campus. Ein Backsteinhaus reiht sich an das andere. In einem der Gebäude: der Akustikraum, in dem Doktorand Stefan Kniesburges seine Experimente durchführt. Es ist ein stark schallgedämpfter Raum. Wo der Schritt normalerweise klackert, verstummt er hier sofort. Kein Hall. Riesige, 50-zentimeterlange Schaumstoffkeile kleben an Wänden und Decke. Wenn die Versuche starten, wird auch noch der Boden mit den Keilen vollgestellt.

    "Ja, schön gedämpft – das ist auch notwendig bei uns."

    Kniesburges’ Aufbau ist ein langes, vierkantiges Plexiglasrohr, in das er künstliche Stimmlippen eingespannt hat, ähnlich groß wie die des Menschen. Auch ihre Verformbarkeit wurde so lebensnah wie möglich gestaltet.

    "Wir brauchen ja ein Material, das relativ ähnlich in den Elastizitätseigenschaften zu richtigen Stimmlippen ist. Und da verwenden wir ein Silikon, das kommt aus der Maskenbildung. Wir haben verschiedene Stimmlippen oder künstliche Stimmlippentypen, die wir miteinander vergleichen wollen."

    Der Ingenieur interessiert sich vor allem dafür, welche Rolle der vokale Trakt in der Stimmproduktion spielt. Der Vokaltrakt umfasst den gesamten Raum zwischen Stimmlippe und Mund. Hier entwickeln sich viele kleine, kaum vorhersehbare Luftwirbel. Hier passiert der Großteil der Stimmformung. Das Rohr vor den künstlichen Stimmlippen entspricht der Luftröhre, das dahinter dem Vokaltrakt, zumindest in vereinfachter Form. Um den Klang seiner künstlichen Stimme einzufangen, stellt Kniesburges fünf Mikrofone in verschiedenen Abständen und Winkeln vor die Öffnung des Kanals, quasi dem Mund der Konstruktion. Per Luftdruckpumpe erhöht er dann langsam den Druck auf die Stimmlippen. Ab einem bestimmten Luftdruck fangen die Stimmlippen natürlicherweise symmetrisch zu schwingen an, öffnen und schließen sich. Man spricht von der Grundfrequenz, welche dem Grundklang der Stimme entspricht. Die gesamte Klangfarbe ergibt sich aus einer Vielzahl an höher harmonischen Frequenzen, dem Doppelten, Dreifachen, Vierfachen und so weiter dieser Grundfrequenz. Sie entwickeln sich durch die Interaktionen der Luftströme im Vokaltrakt. Die Berechnungen dieser einzelnen "Jets", wie die Wissenschaftler sie nennen, erweisen sich als äußerst kompliziert. Nicht einmal ein Supercomputer kann alle möglichen Verformungen des Luftstroms berechnen. Am Plexiglasrohr hat Kniesburges auch mehrere Drucksensoren angebracht. Diese ermöglichen ihm, die Luftwirbel, die hier entstehen, genau auszumessen. Auch der subglottale Druck – also der Druck vor den Stimmlippen – wird auf diese Weise bestimmt.

    "Diese Sensoren können einen wirklich sehr niedrigen Druck detektieren und damit habe ich einfach die Möglichkeit die Wirbel so zu detektieren, also wo sie sich gerade befinden, wie sie gerade abschwimmen, so dass ich diesen Prozess wirklich zeitaufgelöst betrachten kann."

    Was man sonst nur hört, kann Kniesburges so sichtbar machen. Lässt der Ingenieur das Plexiglasrohr, also den vokalen Trakt komplett weg, verändert sich auch die Strömung im System. Die Stimmlippen schließen nicht mehr und der Luftstrom muss angepasst werden, bis wieder ein Klang entsteht. Doch ohne Vokaltrakt hört man nur die Hauptfrequenz. Erst die komplexen Verwirbelungen führen zum Farbklang. Sie sind ein Teil dessen, was die Stimme besonders macht. Der menschliche Vokaltrakt ist kein starres Plexiglasrohr, sondern flexibel. Er kann während der Stimmproduktion verengt, geweitet, verlängert, verkürzt werden. Mit all diesen Bewegungen formt er die Luftströme und damit das, was den Mund verlässt. Mit ihren simplen Aufbauten bestimmen Forscher Parameter und Gesetzmäßigkeiten, die in den Rechnern von Döllingers Arbeitsgruppe zusammenlaufen. Zu hören ist hier nichts. Stattdessen flimmern dreidimensionale Modelle der Stimmlippen über den Bildschirm, die wie ihre natürlichen Vorbilder aus unterschiedlich schwingenden Schichten aufgebaut sind. Irgendwann soll aus solchen Simulationen ein Diagnosewerkzeug entstehen, das potentielle Stimmprobleme schon dann erkennt, wenn man es der Stimme akustisch noch gar nicht anhört. Michael Döllinger:

    "Ein Computermodell, das sich realitätsnah verhält, muss ja auch realitätsnah aufgebaut sein. Und das heißt, Sie müssen Materialgesetze integrieren, die Luftströme müssen berücksichtigt werden, es müssen Interaktionen zwischen Luftströmen, Gewebe und Akustik berücksichtigt werden."

    Eine Aufgabe, mit der auch Supercomputer zeitweise überfordert sind. Scheinbar einfache Dinge, wie das Schließen der Stimmlippen, stellen sich bisher als eine nahezu unlösbare Aufgabe heraus. Was bisher nur sehr wenig in physikalischen Modellen berücksichtigt wird, ist die Stimmbiologie. Sie ist die jüngste im Bunde der interdisziplinären Stimmforschung. Susan Thibeault von der University of Wisconsin ist eine der führenden Figuren in der Stimmbiologie. Mitte 40 ist sie, wirkt eher jünger. Als sie auf der Erlanger Stimmkonferenz den Eröffnungsvortrag hält, bleibt sie bei ein paar Wörtern stotternd hängen.

    "Unser Forschungsgebiet ist wirklich interessant. Wir entwickeln uns von Jahr zu Jahr, steigern die Versuchsqualität und –quantität. Zum Beispiel arbeiten wir an einem Computerprogramm, das den Verlauf der Wundheilung der Stimmlippen vorhersagen kann, wenn man bestimmte genetische Informationen eines Menschen eingibt. Das könnte vor Stimmband-Operationen äußerst nützlich sein. Kurzum: Wir hinken mit unserer Forschung noch etwas hinter den Physikern her, aber in fünf bis zehn Jahren sollten wir schon ordentlich aufgeholt haben."

    Stimmbiologie findet vor allem auf zellulärer Ebene statt. Im Fokus stehen hier die so genannten Stimmlippen-Fibroblasten. Das sind die äußerst druckstabilen, elastischen Zellen, aus denen die Stimmbänder aufgebaut sind. Hier können Entzündungen oder Narbenbildung die Stimme verändern. Um das richtig zu untersuchen, so Thibeault, wird vor allem eines benötigt: Zelllinien, unsterbliche, untereinander identische Fibroblasten also, durch die Versuche reproduzierbar werden.

    "Fibroblasten aus den Stimmlippen zu bekommen, ist sehr, sehr schwer, denn normalerweise muss man diese jedes Mal aufs Neue aus einem Patienten isolieren – meistens bekommt man sie beispielsweise aus herausoperiertem Stimmlippengewebe. Wir haben es jetzt erstmals geschafft, eine unsterbliche Zelllinie aus so einer Probe zu züchten. Zwölf verschiedene Forschergruppen arbeiten inzwischen mit unseren Zellen. Man muss sich das schon vor Augen führen: Die Fibroblasten sind die Bausteine der Stimmlippen und halten deren Eigenschaften konstant. Wenn die Stimme krank ist, heißt das normalerweise auch, dass die Fibroblasten verändert sind."

    An diesen Zellen testen Thibeault und ihre Mitarbeiter jetzt verschiedene Medikamente, um deren Wirkung auf das Stimmlippengewebe vorherzusagen, ob sie die Oberfläche austrocknen oder die Belastbarkeit der Zellen beeinflussen. Offiziell arbeitet die Wissenschaftlerin in der Abteilung für Halschirurgie des Klinikums der University of Wisconsin. So interessiert sie sich auch für die Narbenbildung nach Kehlkopfeingriffen – oder vielmehr, wie man Narbenbildung verhindern kann.

    "Narben auf den Stimmlippen führen dazu, dass diese nicht mehr richtig schwingen können, was wiederum zu Heiserkeit führt. Heutzutage kann man für die Patienten in so einem Fall nicht viel tun. Deswegen experimentieren wir gerade mit Hydrogelen, in die wir Fibroblasten einbetten. Wenn wir die Zellen einfach so auf frische OP-Wunden geben, werden sie einfach weggespült. In solche Gele eingebettet, haben sie genügend Zeit, richtig an den Stimmlippen anzuwachsen. Zudem unterstützt auch das Gel selbst die Wundheilung."

    Nicht nur lebensbedrohliche Kehlkopferkrankungen wie Krebs werden heute noch chirurgisch behandelt. Thibeault:

    "Es gibt eine eigene Stimmkrankheiten-Kategorie der so genannten gutartigen Läsionen. Meistens entwickeln die sich dadurch, dass jemand raucht, regelmäßig Sodbrennen hat, seine Stimme falsch benutzt – also eher generelle Faktoren. Solche Läsionen würde ich gerne besser verstehen und behandeln können – am besten ohne irgendwelche Operationen. Denn im Normalfall stellen chirurgische Eingriffe immer ein Risiko dar, da Narben entstehen können oder zu große Teile aus der Stimmlippe herausgeschnitten werden. Wenn wir solche ungefährlicheren Krankheiten uninvasiv heilen könnten, wäre schon ein großer Schritt getan."

    Am Ende ergänzen sich Stimmbiologie und Physik. Computersimulationen sollen berechnen, was mit einer Stimme nach einem operativen Einsatz passiert, welcher Schnitt welche Folgen nach sich zieht. Hand in Hand damit gehen die Anstrengungen, eine fatale Narbenbildung mit biologischen Mitteln zu verhindern. Für Stimmtherapie und Krankheitsdiagnose leisten die physikalischen Formeln und Modelle schon heute einiges. In Erlangen hat das so genannte Phonovibrogramm Einzug in den Klinikalltag gehalten. Es ist eine bildliche Darstellung, die die Information von 10.000 Einzelbildern aus Filmaufnahmen der schwingenden Stimmlippen eines Patienten vereint und Ärzten so präzisere Diagnosen ermöglicht. Ingo Titze hat sämtliche seiner Sprech- und Gesangstherapien auf physikalischen Erkenntnissen aufgebaut – viele davon sind für Sänger und Sprecher weltweit in Form von Youtube Videos zu Kultmaterial geworden. Ingo Titze hat sich in den USA für ein neues Stimmbewusstsein stark gemacht. Seine Überzeugung: Jeder kann und muss an seiner Stimme arbeiten, um diese zu schützen – nicht nur Sänger und professionelle Sprecher. Und der Mitte-70-jährige will noch mehr erreichen.

    "Viele Stimmforscher, und da gehöre ich dazu, träumen von einem Simulator, in den wir zunächst die vorhandene Kehlkopf-Anatomie eines Patienten oder Sängers eingeben. Dann könnten wir basierend darauf den Einfluss von bestimmten chirurgischen Eingriffen oder Stimmübungen auf die Stimmproduktion simulieren und schon davor sagen: so und so wird sich das anhören, so wird es besser, so wird es schlechter."

    Bis dahin wird weitervermessen.