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Manuskript: Störungswahn?

Der Einfluss des von der amerikanischen Psychiatrie-Vereinigung APA herausgegebenen Handbuchs für psychiatrische Diagnosen (DSM) ist immens. Seine Definitionen sind weltweit maßgeblich für die psychiatrische Forschung. Doch um die Neuauflage ist ein heftiger Streit unter Psychiatern entstanden.

Von Martin Hubert | 03.02.2013
    Eine Party in San Francisco. Der emeritierte Psychiater Allen Frances trifft auf jüngere Kollegen. Euphorisch erzählen sie ihm, was sie alles im DSM-5 ändern wollen, dem nächsten Handbuch für psychiatrische Diagnosen. Allen Frances ist geschockt.

    Mit anderen Psychiatern startet er eine Kampagne gegen das DSM-5. Der Streit eskaliert: Frances spricht von einem Bürgerkrieg im Herzen der Psychiatrie.

    "Ich befürchte, dass DSM-5 die Grenzen der Psychiatrie über das Notwendige hinaus ausdehnt und so das Leben vieler Menschen dramatisch beeinflusst."

    Störungswahn? Psychiater streiten um die Zukunft ihres Fachs. Eine Sendung von Martin Hubert.

    Lange Zeit interessierte das DSM, das "Diagnose-und Statistik-Handbuch für psychische Störungen" nur Experten. Aber im Jahr 2009 ist es zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden. Sein Einfluss ist immens. Es wird von der amerikanischen Psychiatrie-Vereinigung APA herausgegeben, wirkt aber weit über die USA hinaus. Seine Definitionen sind weltweit maßgeblich für die psychiatrische Forschung. Außerdem färben sie auf den psychiatrischen Teil des ICD ab, des Internationalen Klassifikationskatalogs für Krankheiten, den die Weltgesundheitsorganisation WHO herausgibt. Das im Moment noch gültige DSM-4 stammt aus dem Jahr 1995, alle 15 bis 20 Jahre werden beide Handbücher erneuert.

    "Ein mehrjähriger, sehr aufwendiger, kostenintensiver Prozess."

    Nur wenige Europäer waren am neuen DSM-5 beteiligt. Professor Wolfgang Gaebel, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Düsseldorf gehörte dazu. Als Experte für Psychosen war er Mitglied in einer der 13 Arbeitsgruppen, die Veränderungen für das neue Handbuch erarbeiteten und im Internet veröffentlichten, sodass auch Außenstehende die Vorschläge kommentieren konnten. Dann folgten in den USA mehrere Monate lange Praxistests. Eine leitende Kommission und zwei Komitees begleiteten diesen Prozess, der im Dezember 2012 abgeschlossen wurde.

    "Die haben dann die Vorschläge, die gemacht worden sind, "geratet" und sie gegebenenfalls verworfen, wenn sie ihnen nicht praktikabel oder wissenschaftlich begründet genug erschienen. Also ein doch sehr komplexer Prozess, wo ich nun nicht anstehe zu sagen, es ist alles Mist, was da rausgekommen ist."

    Unter den Kritikern, die das anders sehen, besitzt Allen Frances eine besondere Autorität. Der emeritierte Psychiatrieprofessor von der amerikanischen Duke University war schon am DSM-3 von 1980 beteiligt und stand der leitenden Kommission für das momentan noch gültige DSM-4 vor. Seine Kritik am DSM-5, betont Frances, beruhe gerade auf den Lehren, die er aus der seitherigen Entwicklung gezogen habe. Im DSM-4 sei man noch sehr vorsichtig mit Definitionen umgegangen. Trotzdem stieg danach die Zahl der psychiatrischen Diagnosen rapide an.

    "Wir haben im DSM-4 zum Beispiel eine neue, milde Form des Autismus eingeführt, den Asperger-Autismus. Wir hatten gehofft, dass sich dadurch die Zahl der Autismus-Diagnosen um ein Drittel reduzierten würde – sie hat sich aber verzwanzigfacht. Und Studien legen nahe, dass etwa die Hälfte der Diagnosen falsch sind."

    Jeder fünfte Amerikaner nimmt heute ein Medikament wegen eines psychiatrischen Leidens ein. Und in Deutschland erfüllen bereits 30 Prozent der Menschen zwischen 18 und 65 Jahren die Kriterien für eine psychische Krankheit. Zu viele, meint Allen Frances, und DSM-5 würde die Zahlen noch einmal nach oben treiben.

    "DSM-5 fügt der Psychiatrie neue Diagnosen hinzu und verringert die Schwellwerte einiger bestehender Störungen. Das wird aus der gegenwärtigen Inflation eine Hyperinflation machen. Und wenn Menschen unzutreffende Diagnosen erhalten, stigmatisiert man sie und behandelt sie mit Medikamenten, die gefährliche Nebenwirkungen haben können. Das Problem besteht darin, dass die Grenze zwischen milden psychiatrischen Krankheiten und der Normalität völlig unscharf ist. Wir müssen daher die Kriterien diskutieren, die wir für Störungen benutzen."

    Wer in die Praxis von Heribert Pinzek in Bonn kommt, geht über wohlig knarrendes Parkett in einen großen Raum.

    "In einem Haus aus dem Jahr 1920, vier Meter hohe Decken mit alten eingebauten Möbeln und einem großen roten Teppich, daneben eine Couch, zwei Sessel, und das ist es eigentlich schon, was ich hier für meine Arbeit brauche."

    Heribert Pinzek ist ein Psychiater, der auch Medikamente verschreibt. Hauptsächlich aber behandelt er seine Patienten psychotherapeutisch, vor allem psychoanalytisch. Wer will, kann sich also bei ihm auf die große weiche Couch legen, in den weiten Raum über sich und dabei in sich hinein blicken.

    "Ich habe zum Beispiel eine Patientin, die hat drei verschiedene Diagnosen über Schizophrenie, schizoaffektive Psychose, Manie. Also alles sozusagen, was man an schweren seelischen Erkrankungen sich so vorstellen kann. Sie hat auch jede Menge Psychopharmaka bekommen, die alle leider überhaupt nicht gewirkt haben. Und es hat auch für mich eine Zeit lang gebraucht, um wirklich dann auch herauszufinden, dass diese Patientin eine Vergewaltigung erlebt hat und verschiedene andere frühe Traumata, sodass man letztlich also eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren musste auch mit diesen heftigen Symptomen."

    Immer wieder macht Heribert Pinzek diese Erfahrung: Patienten kommen mit den verschiedensten Diagnosen, die sich alle nicht als zutreffend erweisen.

    "Auf Neuroleptika konnte man verzichten und innerhalb der Psychotherapie hat sich die Symptomatik erheblich gebessert."

    Psychiatrische Störungen haben viele Gesichter und wandeln sich. Die Kriterien für Diagnosen müssen diesem Sachverhalt Rechnung tragen. Das ist die Philosophie, die dem DSM-Prozess zu Grunde liegt. Schon jede einzelne psychische Störung, unterstreicht Professor Peter Falkai, unterscheide sich von Individuum zu Individuum. Er ist Direktor des Psychiatrischen Universitätsklinikums München und war bis Ende 2012 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde.

    "Nehmen wir zum Beispiel mal Depression, dann gibt es innerhalb der Depression natürlich verschiedene Ausprägungen. Nicht jeder mit der Depression hat eine Störung des Antriebs, hat eine gravierende Veränderung der Stimmung. Ein Teil der Patienten hat ausgebreitete Konzentrations-und Aufmerksamkeitsstörungen, ein Teil der Patienten hat ausgebreitete körperliche Beschwerden und ein Teil der Patienten hat sehr starke Unruhe."

    Das DSM-Klassifikationssystem soll daher offen und flexibel sein. Es beansprucht, Symptome so neutral wie möglich nach klaren Regeln zu erfassen. Jemand ist etwa dann depressiv, wenn er zwei Wochen lang mindestens fünf von neun möglichen Symptomen aufweist: zum Beispiel Stimmungsveränderung, Schlaflosigkeit, Konzentrations- und Denkstörungen, Gefühle der Wertlosigkeit und Suizidgedanken. Die Diagnose ist rein beschreibend, sie verzichtet darauf, nach den Ursachen zu fragen. Tatsächlich sind die genetischen und neurobiologischen Ursachen psychischer Krankheiten auch kaum bekannt.

    Wenn Heribert Pinzek einem Patienten in seiner großräumigen Bonner Praxis gegenüber sitzt, hat natürlich auch er die Klassifikationsschemata im Hinterkopf. Aber selbst wenn er sie streng anwenden würde, erzählt er, würde das nicht genügen.

    "Wir selber können mit diesen Schematas für die Krankenkassen schon arbeiten. Für unsere Gutachter, die dazu nötig sind, dass eben Psychotherapien bei den Krankenkassen dann auch genehmigt oder nicht genehmigt werden, kämen wir mit diesen deskriptiven Diagnoseschemata nicht weiter."

    Ein psychotherapeutisch arbeitender Psychiater wie Heribert Pinzek muss über die Diagnose von Symptomen hinaus auch angeben, wie die zu behandelnde Störung entstanden ist. Und er will das das auch. Heribert Pinzek sucht in den therapeutischen Gesprächen nach der lebensgeschichtlichen Ursache, die hinter den Symptomen steht. Das braucht Zeit, Geduld und viel Vertrauen.

    "Mir fällt da ein ganz extremes Beispiel ein. Mir hat jemand nach 240 Sitzungen, da ist die psychoanalytische Psychotherapie eigentlich schon fast am Ende, von einem sexuellen Missbrauch erzählt. Der dann aber auch zwei gravierende Erkrankungen mit erklären konnte. Also diese junge Frau hatte schon eine längere Psychotherapie hinter sich wegen einer Magersucht, die war tatsächlich während dieser Therapie ausgeheilt, aber kam dann mit einer schweren depressiven Symptomatik, die sich als ausgesprochen hartnäckig erwies. Und erst sozusagen als der Missbrauch dann wirklich zu Tage kam, gab es ein "Pack an" und diese Symptomatik ist inzwischen auch rückläufig."

    Der Vorteil der DSM-Diagnosen, sagen ihre Befürworter, bestünde gerade darin, dass sie so neutral und nur beschreibend seien. Sie definieren nicht, wie der einzelne Psychiater die Störung zu erklären und zu therapieren hat. Sie seien reine Konstrukte, mit deren Hilfe Therapeuten auf unterschiedliche Weise drei Dinge zusammenbringen können: die Vielfalt und Wechselhaftigkeit der Symptome, die Lebensgeschichte und das subjektive Erleben der Betroffenen. Da Symptome so vieldeutig, individuell, unscharf und wandelbar sein können, meint dagegen Allen Frances, dürfe man eben auch nicht alles unter eine Störung zwängen wollen. Das DSM-5 weite das Reich der Störungen weiter aus und verstärke die Macht der Diagnosen über die facettenreiche Wirklichkeit. Das sei gefährlich, weil auch leichte Probleme erfasst würden. Zum Beispiel im Fall der Depression.

    "Die umstrittenste Änderung besteht darin, ganz normale Verlusttrauer in eine große Depression zu verwandeln. Jemand, der nur 2 Wochen lang nach dem Verlust eines geliebten Menschen noch traurig ist, interesselos, appetitlos, der schlecht schläft und keinen Antrieb verspürt - ein solcher Mensch würde bereits als depressiv eingestuft. Und wie die Dinge in der Welt so laufen, werden ihm die Ärzte eine Pille verschreiben. Denn die Pharmaindustrie hat eine enorme Macht, über Marketing die Ärzte und auch indirekt die Patienten davon zu überzeugen, dass sie krank sind und diese Pille kaufen müssen."

    In DSM-4 musste jemand, der trauert, längere Zeit an diesen Symptomen leiden, um als depressiv eingestuft zu werden. Zusätzlich musste er unter anderem noch Selbstmordgedanken und Wahnvorstellungen haben. Allen Frances meint daher, in DSM-5 werde ganz normale Trauer unnötig pathologisiert. Wolfgang Gaebel, der Direktor des Düsseldorfer Universitätsklinikums, sieht die Dinge anders.

    "Der Punkt ist hier in diesem Fall, dass die Trauerreaktion, selbst wenn sie sich in einem Maße zeitlich bewegt, was noch unterhalb einer Schwelle liegt, wo man sagen würde, das beginnt pathologisch zu werden, dass das offenbar doch ein Risikofaktor für das Entstehen einer echten depressiven Störung ist. Als Risikofaktor sozusagen dieses zu betrachten- heißt ja noch nicht denjenigen die Diagnose geben, sondern sozusagen hier besonders genau zu beobachten und das heißt auch noch nicht, dass man hier gleich mit der Pharma-Keule zuschlägt."

    Trotzdem hat die Kritik von Allen Frances und vielen anderen Psychiatern und Therapeuten dazu geführt, dass die Macher des DSM-5 kurz vor Torschluss noch eine Kompromissformel einführten. Sie fordern die Psychiater auf, jeden Verlust, den ein Mensch erleidet, besonders vorsichtig und sorgfältig zu untersuchen, bevor sie die Diagnose "Depression" stellen. Das spricht für die Interpretation von Wolfgang Gaebel, dass hier sorgsam zu Wege gegangen wurde. Professor Thomas Bock vom Psychiatrischen Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf verweist dagegen auf andere Erfahrungen. Er gehört zu den kritischen Geistern der deutschen Psychiatrie und stimmt Allen Frances in vielem zu. Letzten Endes enthalte das DSM-5 doch eine ausgeweitete Diagnose für leichte Depressionen. Dabei seien schon die derzeit in Deutschland geltenden Praxisleitlinie für Psychiater in diesem Punkt sehr irritierend.

    "Bei der Depression fangen wir an, immer weiter zu spannen, was alles depressiv ist - wenn man in die Leitlinien guckt, steht bei leichten Depressionen "zuwarten". Wofür brauche ich dann eine Diagnose, wenn ich zuwarte? Bei mittleren Diagnosen weiß ich, dass Placebos dieselbe Wirkung haben wie Medikamente, wofür brauche ich dann eine Diagnose? Schwere Diagnosen reicht."

    Ähnlich geht der Streit auch um andere Veränderungen in DSM-5. Die Kritiker monieren unter anderem, dass auch die Diagnose für ADHS ,die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung’ auf Erwachsene ausgeweitet werden soll: "Hyperaktives Arbeiten" wird zur Störung. Oder sie beanstanden, dass jemand, der drei Monate lang einmal pro Woche eine Fressattacke hat, unter eine neue "Komafressstörung" fällt. Kinder, die häufig unerklärliche Wutanfälle bekommen, erhalten künftig die neue Diagnose "Gemütsregulationsstörung mit Verstimmung"

    "Wutanfälle, die für die Kindheit typisch sind, werden so zu einer psychischen Krankheit erklärt. Auch wenn jemand im Alter vergesslich wird, bekommt er nun schon das Etikett "milde neurokognitive Störung" aufgeklebt."

    Es gebe aber weder klare Tests und Kriterien für diese Störungen noch gute Therapien. Ähnliches gelte für Diagnosen in DSM-5, die das Horten und Hamstern, die prämenstruelle Verstimmung und weitere körperliche Störungen vorschnell pathologisierten. Die Antwort der Befürworter von DSM-5 ist im Prinzip immer die Gleiche : Viele schwere Störungen würden eben mit leichten Symptomen beginnen. Deshalb sei es wichtig, sie früh zu erkennen, um überhaupt eingreifen zu können.

    Im Treppenhaus einer alten Fabrikantenvilla in Solingen. Sie ist der Sitz des Psychosozialen Trägervereins Solingen. In gemütlicher Atmosphäre werden hier psychisch belastete Menschen beraten und unterstützt. An einem runden Tisch können sie Kaffee trinken und sich untereinander austauschen. Martin Vedder, der Leiter der Ambulanten Dienste des Trägervereins führt in einen kleiner Raum. Neben ihm nimmt Arno Neuhaus Platz, ein Betroffener.

    "Paranoidität, Schizophrenie, Psychose, manisch-depressiv, wat hammer noch: Borderline, schizo-affektiv auf jeden Fall, alles. Also ich habe alles genommen, was ich kriegen konnte. Normalerweise, nach Ärzteaussage, müsste ich chronisch krank beziehungsweise schon tot sein. Aber ich fühle mich jetzt ziemlich gesund."

    Das Leben von Arno Neuhaus ist ein Wellental, das von den Ärzten immer wieder mit neuen Diagnosen angereichert wurde. Alle sieben Jahre, erzählt er, komme er in eine schwerere Krise und habe wahnhafte Vorstellungen. Schon früh war er eigensinnig und galt als Einzelgänger.

    "Also merkwürdig waren meine Ideen schon als Kind, dass ich manche Dinge spielerisch nachgestellt habe, um meinen Eltern zu gefallen. Ich wollte also die Liebe meiner Eltern anregen, also dass man mich beachtet und meine Eltern waren sehr beschäftigt, ich fühlte mich ein bisschen zurückgezogen, hab’ dann meine eigene Welt entdeckt. Und diese Welt habe ich mir dann zurecht gesponnen über märchenhafte Dinge und Ähnliches."

    Schon vor der Pubertät hat Arno Neuhaus dann mit Suizidgedanken zu kämpfen. In seiner Familie wird Gewalt ausgeübt und das belastet ihn sehr. Nachdem er zur Bundeswehr einberufen wird, eskalieren die Dinge. Er schläft nicht, will sich umbringen: Man weist ihn in eine Psychiatrische Klinik ein.

    "Ich bin in eine ganz andere Welt geraten, also man hatte immer Angst wegen Suizidgefahr, ich musste also beobachtet werden, ich wurde eingeschlossen und ich hatte meine Freiheit nicht, da ging es mir also erst einmal sehr sehr schlecht, musste da mit sehr sehr starken Medikamenten ruhig gestellt werden, meine Ängste waren sehr sehr hoch und die Menschen, die ich dort kennen lernte, so viel Hoffnungslosigkeit und so viel Leiden, das hat mich dann auch sehr sehr schwer getroffen innerlich."

    Die Krisen gehen danach weiter, die Diagnosen wechseln sich ab. Wäre es besser gewesen, man hätte Arno Neuhaus schon früher eindeutig diagnostiziert?

    "Allerdings haben mich Diagnosen eigentlich nie interessiert, ich wollte ja gesund werden."

    Der Streit um den Umgang mit leichten Symptomen wurde besonders hart um das sogenannte "Verminderte Psychosesyndrom" geführt. Es sollte eigentlich als eigene Störungskategorie in das DSM-5 eingeführt werden. Anhand von Risiksosymptomen, so die Befürworter, könnten ao Psychosen wie die Schizophrenie früh erkannt werden.

    "Da geht es um Wahnbildung, um Halluzination, um Denk- oder Sprechstörungen, die allerdings noch in einer Form sozusagen vorhanden sein sollen, wo zum Beispiel das Realitätsurteil noch vorhanden ist. Das heißt Wahn heißt ja eigentlich, ich weiß nicht, dass ich wahnhaft bin - hier soll es also um eine Vorform gehen."

    Die vor allem schon früh im Kindes-und Jugendalter auftritt. Die Betreffenden merken selber, dass sie zum Beispiel merkwürdige Gedanken haben, es beeinträchtigt ihr Leben aber noch nicht schwerwiegend. Nach heftigen Debatten erhielt das "Verminderte Psychosesyndrom" im DSM-5 dann doch nicht den Rang einer eigenen Störung. Es wird nur als noch weiter zu erforschendes Phänomen aufgeführt. Allen Frances hält das bereits für einen großen Erfolg der Kritiker. Allerdings geben sich die Befürworter noch längst nicht geschlagen.

    "Es ist nicht sozusagen verbannt aus dem System."

    Und es ist auch noch in der Diskussion für das ICD 11, das Krankheitshandbuch der Weltgesundheitsorganisation, das im Jahr 2015 erscheinen soll. Die Debatte um das verminderte Psychosesyndrom weist also in die Zukunft.

    "Die wissenschaftliche Literatur sagt sehr klar, dass eine Schizophrenie aufgrund früher Risikosymptome nur zu 30 Prozent sicher vorhergesagt werden kann. Zwei Drittel aller Menschen mit solchen Risikosymptomen werden also niemals schizophren. Die Sache ist aber noch schlimmer: Wenn man von den guten Kliniken in die Praxen der Hausärzte und niedergelassenen Psychiater geht, dann werden die Zahlen noch viel schlechter. Schätzungsweise werden dann nur 10 Prozent aller Risikopatienten richtig eingeschätzt. 90 Prozent der Betroffenen werden also vermutlich als potenzielle Psychotiker stigmatisiert. Sie leben in Angst vor einer Störung, die sie nie haben werden. Und das Allerschlimmste ist, dass sie starke antipsychotische Medikamente erhalten, die sie nicht brauchen."

    Vor allem die Pharmaindustrie sorge dafür, meint Allen Frances, dass Menschen mit Risikosymptomen Medikamente verschrieben bekämen. Vor allem hätte sie riesigen Einfluss auf die Hausärzte, zu denen solche Risikopatienten meist zuerst kommen. Schon heute würden 50 Prozent der psychiatrischen Medikamente im Wert von 18 Billionen Dollar in den USA alljährlich von Hausärzten verschrieben. Allen Frances’ Alternative:

    "Es ist wichtig, dass wir uns in der Psychiatrie auf die Menschen konzentrieren, denen wir wirklich helfen können. Wir sollten Menschen mit milden Symptomen die Chance geben, von selbst gesünder zu werden. Menschen besitzen Resilienz, eine große Widerstandskraft. Mehr als der Hälfte der Menschen mit milden Symptomen geht es besser, wenn man ihnen Zeit lässt, wenn sie Hoffnung haben, eine positive Einstellung und eine natürliche Widerstandskraft."

    "Also für mich war eine Krise immer etwas Sinnhaftes und für mich war auch der Sinn, aus der Krise wieder den Weg herauszufinden in das relativ gesunde funktionale Leben. Und Diagnosen sind auch völlig uninteressant, Diagnosen spiegeln nicht das wahre Leben eines psychisch Kranken wieder, ganz sicher."

    Im kleinen Raum in der Villa des Psychosozialen Trägervereins Solingen erzählt Arno Neuhaus, wie er aus der Not ein Tugend gemacht hat. Da seine Diagnosen ständig wechselten, sucht er heute selbst nach dem Sinn seiner Symptome. Wobei er nicht völlig auf die Zusammenarbeit mit Psychiatern verzichtet. Vor allem aber nutzt er den Solinger Verein und arbeitet dort als Betroffener beratend mit.

    "Ich habe mich nicht erschüttern lassen. Ich habe mir gesagt, ich habe einen gesunden Kern, also arbeite ich daran, gesund zu werden oder gesund zu bleiben und ich habe jetzt eine Umgebung gefunden, wo ich gesund bleiben kann, weil gerade hier diese Menschen, diese wertvollen Menschen, die man so abschätzig "Psychos" nennt, für mich besondere Menschen sind, die eine emotionale Basis zu mir entwickeln."

    Peter Falkai vom Münchner Psychatrieklinikum gesteht zwar zu, dass leichte Störungen von selbst oder auf Grund positiver sozialer Umstände vergehen können. Er sieht auch das Problem, dass Menschen falsche Prognosen erhalten können. Allen Frances Behauptung jedoch, dass in der Alltagspraxis 9 von 10 Betroffenen falsch diagnostiziert würden, hält er für übertrieben. Und auch wenn tatsächlich nur 30 Prozent aller Risikopatienten später psychotisch würden, sei das kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen.

    "Es wäre doch viel besser, wenn sozusagen am Anfang jemand sagt: "Komm, möglicherweise ist das etwas, worauf man achten sollte: Also ich glaube, das muss man individuell abwägen. Die Sorge versteh’ ich, ich würde aber aufpassen, dass man umgekehrt nicht das Kinde mit dem Bade ausschüttet."

    Frühe Risikosymptome oder milde Störungsformen würde man auch nur mit milden Therapieformen begegnen. Außerdem behandele man niemanden, der nicht auch subjektiv leide. So stehe es auch im DSM-5, meinen die Befürworter des "verminderten Psychosesyndroms." Thomas Brock vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf verweist wie Allen Frances jedoch auf den ganz normalen Psychiatriealltag.

    "Diese Vorstellung, wir gehen dann nicht mit Medikamenten dran, sondern machen das mit anderen Methoden, das ist wieder diese Naivität, die jenseits der psychiatrischen Wirklichkeit in Deutschland ist, das gilt für erwachsene Psychosen auch: tatsächlich werden sie aber mehr oder weniger singulär mit Neuroleptika behandelt, und es gibt ganz wenige stationäre psychotherapeutische Möglichkeiten, das ist fast exklusiv, dass sie bei einem Psychotherapeuten jemand mit Psychosen hinkriegen, weil der sich mit Burnout lieber beschäftigt und weil die Zulassungsbedingungen falsch gestellt sind. Das ist die Wirklichkeit, und es ist naiv, zu sagen "Wir wollen es aber ganz breit". Wenn das so definiert wird, dann öffnet das die Türen für Neuroleptikabehandlungen, und das wird mehr oder weniger ausschließlich passieren mit all den Nebenwirkungen, die da dran hängen."

    "Ein großes Problem ist, dass diese Selbstwirksamkeit von Diagnosen nicht unterschätzt werden darf. Das hat noch einmal seinen ganz eigenen Krankheitswert, einen ganz eigenen Störungswert für sein Leben und ist gegenüber dem, was die Krankheit selber zum Teil für eine Person bedeutet, nicht zu unterschätzen."

    Der Chef von Arno Neuhaus im Solinger Trägerverein für Sozialpsychiatrie, Martin Vedder, hat viele Erfahrungen mit Menschen gemacht, die mit den verschiedensten Diagnosen zu ihm kamen.

    Es waren nicht immer die besten. Deshalb ist er besonders vorsichtig, wenn es um frühe und milde Diagnosen geht. Natürlich sei Prävention wichtig, sagt er, aber es komme eben stark auf die Umstände an.

    "Ich sehe das Problem, dass wenn jemand sehr früh eine Diagnose bekommt, dann fühlt er sich sehr früh darauf festgelegt. Und ich glaube ehrlich gesagt nicht daran, dass mehr als die Hälfte der arbeitenden Psychiater sich dann Zeit nimmt, daraufhin genau danach zu gucken "Wie können wir ihm therapeutisch helfen?", sondern die Erwartung der Familie, dass jetzt Hilfe kommen möge, so beantworten wird, dass er Medikamente gibt. Und die Auswirkung von Medikamenten auf das Leben ist oft eines, was das Leben verlangsamt, was das Leben behindert, was die eigenen kognitiven Fälligkeiten behindert Diese Wirkungen sind gegenüber der Erkrankung überhaupt nicht zu vernachlässigen, die haben in der Regel nach meiner Erfahrung, was die Ressourcen dieses Menschen anbelangt, eine viel größere Auswirkung als die Erstsymptome einer Erkrankung selber."

    "Also die Ressourcen in der Psychiatrie und der sozialpsychiatrischen Versorgung sind begrenzt."

    Thomas Bocks Alternative lautet

    "Also ich würde eher noch weiter gehen und sagen: Prävention im Sinne von Bemühen um seelische Gesundheit und die Stärkung von resilienten Kräften ist selbstverständlich sinnvoll und nötig, ist aber keine urmedizinische Aufgabe. Dafür brauche ich keine Diagnose, dafür brauche ich keine Prodromalphase. Natürlich kommen Menschen in Krisen, gerade in diesem Alter, natürlich nehme ich auch wahr, dass bestimmte Schülerinnen und Schüler in Konflikten festhängen, und im Teufelskreis drin hängen und dann ist es sinnvoll, Programme zu haben, Hilfsmöglichkeiten zu haben, gute Lehrer zu haben, die das Thema thematisieren um präventiv zu wirken, aber ich sehe wenig Heil darin, das alles zur Aufgabe der Medizin zu erklären."

    Die Diskussion um das DSM-5, das im Mai diesen Jahres erscheint, ist auf den ersten Blick eine prinzipielle Diskussion um die Rolle von Diagnosen und ihre Grenzen. Auf den zweiten Blick jedoch steckt dahinter eine Debatte um die reale Praxis und die Bedingungen der Psychiatrie. Wird sie eine Psychiatrie sein, die ihr Reich weiter ausdehnt und die Menschen vor allem medikamentös behandelt? Oder wird sie die Ressourcen entwickeln, auf unterschiedliche Symptome differenziert, vielleicht auch nur beratend, unterstützend oder therapeutisch einzugehen? In beide Richtungen sind Entwicklungen im Gange.

    "Wir hätten es gerne spezifischer, wir hätte es gerne nebenwirkungsärmer, wir hätten es gerne individualspezifischer."

    Die Diskussion um den besten Weg, mit psychische Problemen umzugehen, wird daher weitergehen.

    "Wir sind ja eigentlich ganz am Anfang, wenn man so will."